Kommentar

Über Nacht einige Millionen mehr Patientinnen und Patienten

Bernd Hontschik © ute schendel

Bernd Hontschik /  Unter dem Einfluss der Pharma senkte die EU-Fachgesellschaft die «erwünschten» Cholesterinwerte. Neue, teure Medis stehen bereit.

Red. Chirurg und Publizist Bernd Hontschik ist gelegentlicher Gastautor von Infosperber.

Arzneimittel sind seltsame Waren. Normalerweise stehen sich Hersteller und Verbraucher gegenüber. Bei Arzneimitteln ist das anders. Um ein Arzneimittel kaufen zu können, braucht man ein ärztliches Rezept. Diese Rezeptpflicht macht den Arzt oder die Ärztin zur Kund*in der Pharmaindustrie. Patient*innen als die eigentlichen Verbraucher*innen sind für die Hersteller also uninteressant. Dies gilt umso mehr, als sich die Hersteller in Europa für rezeptpflichtige Medikamente nicht direkt mit Werbung an die Endverbraucher wenden dürfen.
Anders in den USA: Dort dürfen sich Pharmafirmen mit ihrer Werbung direkt ans grosse Publikum richten. In Werbespots springt sogar eine Hauskatze wieder fröhlich über den Bildschirm, wenn das neueste Antidepressivum die ganze Familie wieder auf Vordermann gebracht hat. Auch für Antibiotika und sogar für Zytostatika, die bei einer Chemotherapie zum Einsatz kommen, wird in den USA hemmungslos geworben.

Werbeverbot und Rezeptpflicht schmälern Umsätze und Gewinne

Die Rezeptpflicht und das Werbeverbot sind für die Pharmaindustrie hierzulande ein ständiges Ärgernis. PR-Strategen und Lobbyisten arbeiten daran, diese beiden dicken Brocken aus dem Weg zu räumen. Ein Versuch über die EU-Gesetzgebung ist vor einigen Jahren gescheitert.
Dennoch haben die Pharmakonzerne Erfolg, schrittweise. Wie weicht man die Rezeptpflicht auf? Es gibt Schmerzmittel in verschiedenen Wirkungsstärken, milde gegen Kater und Kopfweh bis hin zu den Opiaten bei schwersten Schmerzzuständen. Aber auch die vermeintlich milden haben es in sich, machen abhängig, können sogar Organe zerstören wie die Nieren. Daher müssten sie eigentlich alle rezeptpflichtig sein. Doch der Industrie ist es gelungen, die lästige Rezeptpflicht teilweise auszuhebeln.
Beispiele: Ibuprofen 200 mg oder Diclofenac 25 mg erhält man rezeptfrei, Ibuprofen 600 mg oder Diclofenac 50 mg dagegen nur mit einem Rezept. Eine medizinische Logik hat das nicht – man kann drei Schwachdosierte gleichzeitig einnehmen –, sondern nur eine Marktlogik. Denn für die Schwachdosierten – oft mit dem gleichen oder einem verwechselbaren Namen – erlauben die Gesetzgeber Publikumswerbung. Verboten bleibt sie nur für die Hochdosierten. Mit dem Trick der Niedrigdosis ist es der Industrie gelungen, gleich zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen: das Umgehen der lästigen Rezeptpflicht und das Aushebeln des Werbeverbots.

Ersatz für gekaufte Fortbildung

Lange Jahre hat die Pharmaindustrie medizinische Fortbildungsveranstaltungen gesponsert, Referenten ein hohes Salär und Begleitpersonen ein attraktives Unterhaltungsprogramm bezahlt. Damit konnten Hersteller ihre Produkte in der ärztlichen Verordnungspraxis verankern. Doch mit den professoralen Mietmäulern klappt es nicht mehr, seit die Ärztekammern die gekaufte Fortbildung nicht mehr anerkennen.
Deswegen nimmt jetzt eine andere Strategie immer grösseren Raum ein: Nicht mehr Ärzt*innen werden manipuliert, sondern es werden gleich die gesamten Grundlagen der Medizin in Besitz genommen. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie ESC hat im Juni 2019 mit neuen «ESC-Richtlinien» die erst drei Jahre alten Zielwerte für Cholesterin erneut gesenkt, kompliziert abgestuft je nach Patientengruppen. Das macht Millionen von bisher gesunden Menschen zu neuen, behandlungsbedürftigen Fettstoffwechsel-Kranken und ist sehr gut für den Umsatz von Lipidsenkern. In den letzten fünfzehn Jahren haben sich deren Verordnungen nahezu vervierfacht. Etwa jeder vierte Versicherte über 50 Jahren nimmt Lipidsenker ein. Offensichtlich sind dies für die Pharmakonzerne immer noch zu wenige.

Sobald die gültigen Leitlinien neue, tiefere Zielwerte enthalten, haben sich ärztliche Behandlungen danach zu richten. Vor kurzem erst sind neue und teure Lipidsenker, sogenannte PCSK9-Hemmer, auf den Markt gekommen. Zwischen der Senkung der «erwünschten» Cholesterinwerte und der Lancierung dieser neuen, teureren Cholesterinsenkern gibt es eine Korrelation. 14 der 21 ESC-Autoren haben direkte finanzielle Verflechtungen mit den Herstellern dieser teuren PCSK9-Hemmer. 70 Prozent des Budgets der ESC besteht aus direkten Zuwendungen der Pharmaindustrie: allein im Jahr 2019 50 Millionen Euro.
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das unabhängige Arznei-Telegramm tut es und bezeichnet die “aktualisierte“ ESC-Leitlinie als „Marktvorbereitung“ für die neuen PCSK9-Hemmer. Und auch der unabhängige Arzneimittelbrief stellt die Frage, ob solche Fachgesellschaften „überhaupt Leitlinien erstellen sollten“. Ich frage mich ausserdem, ob man dieses lächerliche, teure Feigenblatt mit den gekauften Expert*innen nicht gleich ganz abschaffen kann und es der Pharmaindustrie in Zukunft ohne Umweg überlässt, wer wann welches Medikament einzunehmen hat.
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Diese Kolumne erschien in einer leicht anderen Form am 12. Juni in der «Frankfurter Rundschau».

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Lesen Sie dazu:
«So sollten Ärzte über den Nutzen von Medikamenten aufklären»

Beispiel Cholesterin: 8 Frauen müssen dreissig Jahre lang Statine schlucken, damit 1 dieser 8 Frauen einen Nutzen hat.

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Bernd Hontschiks neustes Buch: «Erkranken schadet Ihrer Gesundheit», 2019, Westend Verlag, 24.90 CHF / 16 Euro.

Zum Infosperber-Dossier:

Pillen

Die Politik der Pharmakonzerne

Sie gehören zu den mächtigsten Konzernen der Welt und haben einen grossen Einfluss auf die Gesundheitspolitik.

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6 Meinungen

  • am 15.06.2020 um 20:59 Uhr
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    Zu diesem Beitrag passt hervorragend das Buch von
    Uffe Ravnskov: Ignore the Awkward!
    How the Cholesterol Myths are Kept Alive.
    Auch in Deutsch bei Exlibris erhältlich

  • am 16.06.2020 um 02:28 Uhr
    Permalink

    Stimme vielem hier zu, nur bei dem Hauptargument sehe ich arge Mängel: die Pharma macht nicht aus “gesunden“ Menschen kranke, sondern erkennt die Kranken als solche an. Der gesellschaftliche Gesundheitszustand insgesamt hat in den letzten dreissig Jahren massiv zugenommen, die extrem Fetten sieht man heute fast nur noch in den USA, da kann man Ziele höher setzen. Aber es ist jedem selber überlassen, gesund zu leben und Cholesterin tief zu halten, mit Salat und Sport statt Medizin.

  • am 16.06.2020 um 10:16 Uhr
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    Anregung: Könnte man (nicht Mann!) zukünftig Texte wie «Patient*innen» nicht einfach als «Patient» niederschreiben? Wir wissen doch alle was oder wer gemeint ist. Nur so zur Vorbeugung gegen Genderwahn oder political correctness-Maulkörbe… Besten Dank.

  • am 29.06.2020 um 14:44 Uhr
    Permalink

    Der (einmal mehr) sehr einfach gestrickte Artikel von Herrn Hontschik fokussiert nur auf die Pharmaindustrie und die verschreibenden Ärzte. Er blendet die Patienten explizit als «uninteressant» aus. Zudem blendet er (implizit) auch die Zulassungsbehörden und die Krankenkassen aus! Und diese «Geradlinigkeit» (um es einmal freundlich zu formulieren) macht den Artikel ganz einfach wertlos! Seine (vermeintliche) Stringenz löst sich in Luft auf.

  • am 19.08.2020 um 01:52 Uhr
    Permalink

    @ Harald Buchmann: Das Medikament Novalgin (Metamizol) wird hier in der Schweiz von den meisten Ärzten, auch in Spitälern, bedenkenlos jedermann verschrieben. Ohne bei der Verordnung darüber zu informieren, dass Menschen nach der Einnahme von Novalgin an den Nebenwirkungen gestorben sind. Hier in der Schweiz. Vermag also sogar aus gesunden, leicht erkälteten Menschen tote Menschen machen. Ist ein bisschen wie Russisches Roulette. In einigen Ländern ist es deswegen nicht zugelassen.
    Lipidsenker sind alleine und in Kombination mit vielen verschiedenen Medikamenten verantwortlich für fatale Nebenwirkungen. Z.B. mit Haldol zusammen ist ein Lipidsenker meist verantwortlich für akute Sturzgefahr und viele Stürze mit manchmal vielen Knochenbrüchen und deswegen seelischem Leiden von älteren, anfänglich noch durchaus gesunden Menschen. Meistens müssen diese Menschen daraufhin ins Sicherheit bietende Altersheim umziehen. Sie tragen dann möglicherweise für die nächsten zehn Jahre «Sturzhosen», verbringen die Nächte im Bett mit eventuell beidseitig hochgezogenen Gittern – manchmal ohne Klingel, «dürfen» am Tag deswegen im Rollstuhl angebunden (fixiert) werden,…
    "Krank durch Medikamente» von Cornelia Stolze ist ein sehr süffig zu lesendes, leicht verständliches und preisgünstiges Taschenbuch zu diesem Thema.

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