Alle wünschen einander «Gesundheit» – aber was ist Gesundheit?
Sein Grossvater war der berühmte Schweizer Arzt Max Bircher-Benner, der «Erfinder» des mittlerweile weltberühmten Birchermüeslis. Auch sein Vater, Max Edwin Bircher, war Arzt mit einer Privatklinik am Zugersee. Seine Sorge und sein Engagement um das gesundheitliche Wohl der Menschen lag, wie man heute etwas salopp zu sagen pflegt, also schon in seiner DNA. Dann aber legte auch er, Johannes Bircher, eine bemerkenswerte medizinische Karriere hin: Nach dem Studium in der Schweiz und in München eine Postgraduate-Education an der weltberühmten Mayo Klinik in Rochester/Minnesota in den USA, dann eine Professur in Göttingen, dann die Leitung der medizinischen Fakultät an der deutschen Elite-Universität Witten/Herdecke und schliesslich Direktor der Medizinischen Dienstleistungen am Universitätsspital «Insel» in Bern – und, eine nicht alltägliche weitere berufliche Etappe: Er war auch ein paar Jahre im Einsatz als Arzt am Black Lion Hospital in Addis Abeba in Äthiopien. Nicht jeder Arzt hat vergleichbare menschliche und berufliche Lebenserfahrungen.
Jetzt hat Johannes Bircher, der Enkel des Birchermüesli-Erfinders Bircher, seine persönlichen Schlüsse aus seinem beruflichen Leben gezogen und sie in einem Buch niedergeschrieben. Der Titel des Buches: «Die verlorene Hälfte der Medizin». Darin geht es ihm um nicht weniger und nicht mehr als um ein neues Gesundheitssystem.
Wenn aus dem Patient ein Kunde wird …
Johannes Bircher geht mit dem heutigen Gesundheitswesen hart ins Gericht. Es sei, so kritisiert er in seinem Buch immer wieder und mit gutem Grund, zum reinen profitorientierten Business verkommen. Dass in modernen Spitälern Ärzte mit zusätzlichen Boni animiert und belohnt werden, ihren Patienten, neuerdings oft «Kunden» genannt, Operationen zu empfehlen – um nicht zu sagen: zu verkaufen –, die man machen, aber ebensogut auch lassen kann, ist für ihn eine der Ursachen, warum die Kosten für das Gesundheitswesen immer höher steigen. Er verweist dabei auf einen seiner Vordenker, auf das 1996 erschienene Buch des US-amerikanischen Arztes Bernard Lown: «Die verlorene Kunst des Heilens». Lown beschreibt darin die «Übernahme des Gesundheitswesens durch die Wall Street». Und Bircher zitiert aus Lowns Buch, von dem es mittlerweile auch eine deutsche Ausgabe gibt: «Das gegenwärtige System einer sogenannten ‹gemanagten› Gesundheitsfürsorge beraubt nicht nur Ärzte ihrer eigentlichen Aufgabe, sondern auch – und das ist noch viel schlimmer – die Patienten ihrer Persönlichkeit.»
Was auf der Strecke geblieben ist, ist in Johannes Birchers Sicht vor allem das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient. «Ich wollte in jungen Jahren nicht einfach der Enkel des legendären Maximilan Bircher-Benner sein. Und ich wollte auch unabhängig von meinem Vater meinen eigenen Weg gehen. Doch eines blieb mir immer im Bewusstsein: Das Arzt-Patienten-Gespräch ist von grundlegender Bedeutung, um zu erfahren, wie eine Krankheit entstanden ist.»
Das vergessene «persönlich erworbene Potenzial»
Johannes Bircher macht aufgrund seiner Erfahrungen und Beobachtungen vor allem auf etwas aufmerksam: Der Mensch hat ein biologisch gegebenes Potenzial. Das wird ihm, wie wir volkstümlich wohl sagen würden, mit in die Wiege gelegt. Aber das ist nur die Hälfte des Menschen, denn jeder Mensch hat, so Bircher, vor allem auch ein «persönlich erworbenes Potenzial», also das, was der Mensch aus dem, was ihm in die Wiege gelegt worden ist, selber gemacht hat. Also eben mehr als nur eine DNA.
Bircher erinnert an Goethes Wort «Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen». Und er deutscht es aus. Wörtlich: «Ererbtes nenne ich ‹biologisch gegebenes Potenzial›, weil damit ausgesagt wird, dass es eine geschenkte Chance ist, die man nutzen, aber auch verspielen kann. Es ist sozusagen ein biologisches Startkapital, aus dem man etwas machen kann, mit dem man arbeiten muss, damit es nicht wertlos wird. Das biologisch gegebene ist ein sehr starkes Potenzial. Wir müssen nicht alle seine Verzweigungen kennen. Alle lebenswichtigen Organe in unserem Körper, das Herz, die Lunge, die Leber und so weiter, funktionieren miteinander dank dieses Potenzials, ohne dass es uns bewusst ist. Doch wenn wir nicht darauf achten, dass wir dafür Sorge tragen müssen, verkommt auf Dauer das stärkste biologisch gegebene Potenzial. Dieses Bewusstsein erwerben wir in der Familie, in der Schule, in Begegnungen mit anderen Menschen, durch Vorbilder, durch Medien, durch gute und schlechte Erfahrungen. Darin besteht das persönlich erworbene Potenzial. Es ist entscheidend dafür, dass wir gesund bleiben oder auf eine Krankheit angemessen reagieren können.»
Was ist denn genau «Gesundheit»?
Johannes Bircher ortet in den heutigen Gesundheitssystemen nicht nur zu viel profitorientiertes Business, bei dem nicht mehr die Ärzte, sondern die Manager das Sagen haben, er ortet vor allem eines: einen Mangel an Klarheit und Konsens, was Gesundheit überhaupt ist. Und er macht sich daran zu erklären, dass Gesundheit eben nicht für alle das gleiche ist. Stark verkürzt und vereinfacht ist seine neue Definition: Gesund ist, wer sein persönlich erworbenes Potenzial zu leben imstande ist. Und er erwähnt dabei ein – allerdings extremes – Beispiel: den 2018 verstorbenen britischen Physiker Stephen Hawking, der trotz einer Amyotrophen Lateralsklerose, die ihn völlig bewegungsunfähig gemacht hatte, noch bedeutende Beiträge zur Astrophysik geleistet hat.
Johannes Bircher fordert ein völliges Umdenken im Gesundheitswesen, einen sogenannten Paradigmenwechsel, wie er das nennt, und als Basis dafür hat er seine Erkenntnisse und Gedanken in ein «Modell» gelegt: das «Meikirch-Modell». Meikirch ist das hübsche Dorf ein paar Kilometer nördlich von Bern, wo Johannes Bircher seit seiner Pensionierung lebt. Damit betont Bircher seinen persönlichen Beitrag zum geforderten Paradigmenwechsel.
Keine Alternativ-Medizin
Johannes Birchers Buch «Die verlorene Hälfte der Medizin» ist informativ und anregend und löst beim Lesen naturgemäss auch allerlei Gedanken zur eigenen Gesundheit und zur Gesundheit im persönlichen Umfeld der Lesenden aus. Nicht ganz alle der 162 Seiten des Buches sind allerdings leicht zu lesen, denn Bircher beschreibt sein neues «Modell» als «Komplex Adaptives System KAS», was zu verstehen für den Normal-Leser und die Normal-Leserin, also jene ohne akademisch-wissenschaftlichen Background, doch eher schwierig ist. Man darf davon ausgehen, dass der emeritierte Medizin-Professor sich nicht zuletzt so akademisch gibt, weil er vor allem eines fürchtet: dass seine Ausführungen und Forderungen als Ruf nach «alternativer» Medizin verstanden – und damit eben falsch verstanden – wird. Dieses Missverständnis will er auf alle Fälle vermeiden. Er erklärt sich deshalb auch in seinem Buch als nicht-zuständig, alternative Medizin, zum Beispiel die Homöopathie oder die anthroposophische Medizin, zu erklären oder gar abschliessend zu beurteilen, und er bekennt sich in puncto Methoden der Medizin – konkret also die modernen Medikamente und die medizinischen Apparaturen betreffend – klar zur Schulmedizin.
So ist nicht ganz klar, an wen sich sein Buch richtet: nur an die Ärzte und anderes medizinisches Personal? Oder eben doch auch an Ökonomen und Politiker, die das Gesundheitswesen umkrempeln sollten?
Der autobiographische Teil des Buches, seine ganz persönlichen Erfahrungen, sind aber auf alle Fälle auch für Medizin- und Politik-fremde Leserinnen und Leser, die sich für das Thema Gesundheit interessieren, interessant und lesenswert.
Johannes Bircher: «Die verlorene Hälfte der Medizin», ist als Sachbuch im deutschen Wissenschaftsverlag Springer erschienen (ISBN 978-3-662-59638-8; als eBook 978-3-662-59639-5). Der Preis für die gedruckte Ausgabe liegt bei ca. CHF 35.-.
ich glaube nicht, dass man das sehr teure Buch aus dem renommierten Springer-Verlag kaufen muss. Es steht genug in der Besprechung, dass nämlich der Herr Professor im Ruhestand etwas fordert, das er selber nicht glaubt. Dass die Ärzte schon immer gute Geschäftsleute waren und es immer sein werden, ist gar nicht neu! Das haben schon die Griechen richtig erkannt, indem sie den Ärzten den Gott Merkur zugeordnet haben, der gleichzeitig Gott der Kaufleute und der Diebe ist. Da kommt es regelmäßig schon immer zu gemischten Gemengelagen, wie die tägliche Erfahrung zeigt. Dass der Autor ausdrücklich keine Stellung zur Homöopathie oder gar zur anthroposophischen Medizin einnimmt, sondern überzeugter Anhänger der materialistisch eingeengten Schulmedizin ist, zeigt doch, dass er den Sinn einer
Medizin, die auf den Anregungen seiner bekannten Vorfahren beruht, nicht im geringsten begriffen hat. Die „kritisierte» Schulmedizin kann gar nicht anders, als gute Geschäfte machen, denn sie muss ja alles rechnen, messen und wiegen gemäß dem Gesetz, wonach sie angetreten. Eine Medizin, die eine Sicht auf die seelische und geistige Seite des Menschen hat, von der hat der Autor, der sogar Chef der anthroposophisch orientierten „Elite-Universität“ Witten/Herdecke war, anscheinend nichts mitbekommen. Schade eigentlich! Dr. med. Gerhardus Lang, praktischer Arzt und Geburtshelfer, Bad Boll, Deutschland
Das wichtigste an ‹Gesundheit› ist, kein medizinischer Begriff zu sein. Alle deutschen Wörter, welche auf -heit und -keit enden und keine Mehrzahl haben, sind subjektive Kategorien. ‹Krankheit› kategorisiert physikalisch darstellbare Krankheiten, ‹Gesundheit› kategorisiert Befinden, Kohärenz, usw.. Gesundheiten als Gegenpol zu Krankheiten gibt es nicht.
Im engeren Sinn ist Gesundheit beim Menschen die Fähigkeit, alle bio- psycho- sozialen Störungen, darunter auch die 20% davon ausmachenden Krankheiten, auf ein Bild zu projizieren und dieses Bild mit einem subjektiven Soll zu vergleichen. Je mehr Bild und Soll übereinstimmen, als umso gesünder fühlt der Mensch sich. Eine objektive Gesundheit gibt es nicht. Insbesondere hat ‹Gesundheit› als sozio- kulturelle Kategorie keine biologische Dimension, ist keine Ontologie. Gesund sein kann man nicht, nur sich gesund fühlen.
Alles Biologische, Chemische, Physikalische kann mit Störungen kommunizieren, nicht mit Gesundheit. Gesundheit ist immer nur das Bild im Spiegel, nicht das, was vor dem Spiegel als Störung, Krankheit oder Heilung passiert. Dinge wie Ernährung und Sport finden vor dem Spiegel statt, beeinflussen Störungswahrscheinlichkeiten und Heilungschancen. Auf Gesundheit direkt können sie nicht wirken.
Der Schweizer theoretische Physiker Markus Fierz hat 1977 eine kurze Schrift über den Renaissance-Gelehrten Girolamo Cardano (1501-1575) verfasst. Cardano ist heute v.a. für seine mathematischen Leistungen in Erinnerung, doch war er eigentlich Arzt, und zwar europaweit einer der bekanntesten seiner Zeit. Fierz beschreibt in seinem Essay Cardanos ärztliche Arbeitsweise eindrücklich – etwa die Heilung eines schottischen Bischofs von einem Asthma-Leiden oder eine Rezeptur gegen «hypochondrische Melancholie».. Daraus geht die zentrale Rolle des «Gesprächs» zwischen Arzt und Patient klar hervor. Fierz schreibt: «Seine eindrucksvolle Persönlichkeit verlieh ihm die Autorität, kraft deren er seine Patienten davon überzeugen konnte, sie selber könnten und müssten das meiste für ihre Gesundheit tun: darum war er ein grosser Arzt.» Inwiefern solche Autorität auch heute noch in Arztpraxen anzutreffen ist, sei hier dahingestellt – gewiss gibt es sie noch! Wenn das Arztgespräch heute allerdings nicht mehr ganz jene zentrale Rolle einnimmt, so führt das Fierz in seiner geistesgeschichtlichen Analyse auf eine andere Entwicklung zurück, nämlich 100 Jahre später auf Descartes› Trennung von Materie und Geist, die in der Medizin mit der Zeit zu einer «Trennung von Physiologie und Psychologie» geführt habe..