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Psychotherapie-Sitzung in den 1960er-Jahren © cc

Die Popularisierung der Psychotherapie

Walter Aeschimann /  Der Psychoboom der 1970er-Jahre, die Beliebigkeit der Angebote und die Gründung einer psychotherapeutischen Standesorganisation.

Psychotherapie war bis in die 1950er-Jahre akademischen Kreisen und einem breiteren Bildungsbürgertum vorbehalten. Auch Diskussionen über Inhalte und Methoden. Prägende Exponenten waren häufig Ärzte, nur selten Frauen. Ab den 1960er-Jahren erfolgte eine Popularisierung der Psychologie und Psychotherapie. Spätestens ab Mitte der 1970er-Jahre wurde in zeitgenössischen Debatten der Begriff «Psychoboom» geprägt. Psychologisches Wissen und psychotherapeutische Praktiken durchdrangen nun sämtliche Gesellschaftsschichten. Eine Psychologisierung des Alltags hatte stattgefunden. Eine Vielfalt scheinbar diffuser Phänomene, unterschiedlicher Strömungen, Subkulturen von Theorien und praktischen Anwendungen vermengte sich mit historisch gewachsenen Formen der Psychoanalyse und anderer Therapien. Zahllose Taschenbücher zur psychologischen Lebensberatung sowie von Kurs- und Seminarangeboten für Psychotherapien kamen auf den Markt.
Psychologie durchdringt Sozialwissenschaften
Der Markt florierte und expandierte weiter. Er schuf auch zahlreiche Kandidaten und neue Praxen mit grossen Wartelisten. An der Universität Zürich stieg die Anzahl Studierender im Hauptfach Psychologie zwischen 1970 und 1990 von 1200 auf knapp 2000. Allein im Kanton Zürich gab es bis im Jahr 1991 rund 40 verschiedene Psychotherapie-Schulen. Hinzu kam, dass sich auch die sozialwissenschaftlichen Institute für andere Methoden öffneten. In Ethnologie, Soziologie oder Geschichte wurde interdisziplinäre Arbeit Pflicht und eine Grundierung der Methoden mit psychosozialen Theorien nötig.
Dabei war ein weiterer Trend zu beobachten. Die Vermessung der Gesellschaft erreichte auch die Sozialwissenschaften und hatte Rückwirkungen auf das Studium der Psychologie. Psychowissenschaftliche Disziplinen waren nun gezwungen, Kriterien aufzustellen, gemäss denen Erfolge gemessen und quantifiziert werden konnten. Neu war seit den fünfziger Jahren auch eine Verbindung von akademischer Psychologie und angewandter Psychotherapie. Das passte mit den historisch gewachsenen Traditionen des Fachs nicht mehr zusammen. Fachvertreter sahen sich veranlasst, das öffentliche Missverständnis zu korrigieren. Die praktizierenden Psychotherapeuten nutzten dies, um eine eigene Wissenschaft zu fordern. Das machte den Boom der Psychologie erst möglich.
Psychotherapie als Konsumgut
Diese Minitrends wurden von gesellschaftlichen Megatrends überlagert. Die Entwicklung der Psychowissenschaften und der wirtschaftliche Aufschwung von psychotherapeutischen Angeboten wurden, zumindest in den westlichen Staaten, von einer allgemeinen Modernisierungs- und Wachstumsideologie angeschoben. Der unbeschränkte Zugang zu allen Konsumgütern, so suggerierte es zumindest die Werbung, war nun für alle möglich – auch das Recht auf den Luxus einer Psychotherapie.
In diese Wachstums- und Konsumeuphorie platze der Komplex «1968». Ein gegenkulturelles, linksalternatives Milieu forderte eine neue Weltordnung. Es setzte auf die Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen und hinterfragte hierarchische Strukturen. Mit Alexander und Margarete Mitscherlich sowie der Frankfurter Schule setzte eine Psychologisierung der Gesellschaftsanalyse ein. Dies führte zu einer Politisierung des Psychischen. Selbstbefreiung mittels therapeutischer Selbstbefassung konnte zur politischen Handlung werden. Umgekehrt wurde psychische «Normalität» zur pathologischen Ausdrucksform repressiver gesellschaftlicher Verhältnisse umgedeutet. Die Geschichte des Psychobooms und seiner Nachwirkungen ist auch ein Beleg für den «neuen Geist des Kapitalismus». Dieser hatte gemäss den Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello die Fähigkeit, Gegenbewegungen zu absorbieren und umzuwandeln.
Dubiose «Heiler» und Therapieangebote
Die gesellschaftspolitischen Visionen von «1968» hatten sich nicht erfüllt. An der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren formierten sich neue zivile Kräfte, etwa die Friedens- oder Umweltbewegung. Sie stand unter dem Zeichen der Angst vor einem neuen Krieg, vor der Atomkraft, vor der Zerstörung des Lebensraumes. Es standen nicht mehr kollektive Selbsterfahrung und persönliche Emanzipation im Vordergrund. Ganzheitliche politische Entwürfe lösten sich allmählich in ihre Einzelteile auf. Das Versiegen psychopolitischer Utopien, aber auch Erschöpfungszustände ihrer Exponenten, führte über die Entpolitisierung der Psychowissenschaften in die unternehmerische Kultur des Coachings, der wettbewerbsorientierten Selbstoptimierung. Neue Formen der Körpererfahrung wurden modisch, etwa Wellness, Tai-Chi, Esoterik oder Hypnose.
Dieser Zeitabschnitt ist auch geprägt vom individuellen Zwang zur emotionalen Öffnung. Wer sich nicht in Therapie begab, hatte ein Problem. Das überforderte etliche. Sie begriffen sich danach erst recht als therapiebedürftig. Aus Trainersicht galt dies als Erfolg. Es war gelungen, dem Menschen Einsichten in die persönlichen Defizite zu vermitteln. Damit war eine therapeutische Endlosschleife angelegt. Die allgemeine psychische Verwirrung führte Instituten, Institutionen und unternehmerisch begabten «Heilern» massenhaft Leute zu. Es entstanden viele zweifelhafte Angebote, die im Extremfall aus Wochenendkursen «ausgebildete Psychotherapeuten» entliessen. Die Grenzen zu sektenähnlichen Institutionen verwischten sich. Es gab keinen Schutz der Bezeichnung Psychotherapeut. Im Prinzip konnten alle eine Praxis gründen, wenn sie eine Kundschaft hatten.
Exemplarisch steht dafür die «Zürcher Schule für Psychotherapie». Sie wurde auf Initiative des nicht-akademisch ausgebildeten Psychologen Friedrich Liebling gegründet. Sein politisches Denken war von den Anarchisten um Pjotr Alexejewitsch Kropotkin bestimmt, seine Individualpsychologie von Alfred Adler. Von den späten 1960er-Jahren bis in die frühen 1980er-Jahre war die Zürcher Schule mit bis zu 3000 Mitgliedern die grösste psychologische und therapeutische Bewegung in der Schweiz. Der erfahrungswissenschaftliche Hintergrund dieser Institution und die in diesem Zusammenhang entstandene Therapieformen waren zweifelhaft. Nach Lieblings Tod 1982 gründeten einzelne Anhänger den «Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis» (VPM). Innerhalb von kurzer Zeit wandte sich die Gruppe von linken Positionen ab und vertrat Standpunkte, die am rechten Rand des Politspektrums angesiedelt waren.

Die Anfänge der SPV

In diesem Umfeld von politischen und soziokulturellen Strömungen, von verschiedenen historisch gewachsenen Therapierichtungen und neuen Moden aus New Age oder Esoterik galt es eine Ordnung herzustellen, seriöse von weniger seriösen Angeboten zu unterscheiden.

Die Initiative kam aus Basel. 13 Basler PsychologInnen gründeten 1971 den Verband der praktisch tätigen Psychologen (VPP). Es war der erste kantonale PsychotherapeutInnenverband in der Schweiz. Sein wichtigstes Anliegen in den ersten Jahren war die gesetzliche Regelung der Psychotherapie. Mit der Verordnung des Regierungsrates Basel-Stadt betreffend die selbständige Berufsausübung der Psychotherapeuten vom 22. November 1977 wurde dieses Ziel erreicht. Die kantonale Regelung war die erste in der Schweiz und diente später als Vorlage für weitere Gesetze, auch für die Empfehlungen der Eidgenössischen Sanitätsdirektorenkonferenz an die Kantone. Die Basler Verordnung definierte vor allem die Berufszulassung. Eine vom Regierungsrat eingesetzte Fachkommission überprüfte die Grund- und Spezialausbildung der PraxisinhaberInnen. Nur mit der entsprechenden Bewilligung durfte jemand in Basel-Stadt und im Baselland als PsychotherapeutIn arbeiten. Der Titel «Psychotherapeut» schien somit geschützt.
Es war deshalb folgerichtig, dass die Initiative zur Gründung eines gesamtschweizerischen Verbandes aus Basel kam. Am 3. März 1979 trafen sich im Fürstenzimmer des Bahnhofbuffets Basel rund 50 PsychotherapeutInnen aus der ganzen Schweiz. Sie wurden von nationalen und kantonalen Verbänden und von Instituten verschiedener psychotherapeutischer Schulen delegiert. Die Idee war, einen nationalen Verband zu gründen, der sich für alle Belange der Psychotherapie einsetzt. Der eigentliche Gründungsakt begann um 15.10 Uhr und endete um 17.00 Uhr. Wie viele Gründungsmitglieder es waren, ist im Protokoll nicht festgehalten. Einige Quellen zählen später 25 auf, andere sprechen von 47 Mitgliedern, deren Qualifikation allerdings von der kurzfristig eingesetzten Aufnahmekommission überprüft werden musste. «Zum ersten Präsidenten des Verbandes wird einstimmig Herr Dr. phil. Heinrich Balmer gewählt», heisst es im Protokoll. Er war zugleich Geschäftsführer. Der Verband nannte sich Schweizerischer Psychotherapeuten-Verband (SPV) – heute Assoziation Schweizer Psychotherapeuten ASP.
Berufspolitische Dynamik
Mit dem SPV kam eine neue berufspolitische Dynamik in die Psychotherapie. Er kämpfte für die Rechte der psychologisch ausgebildeten Psychotherapeutinnen, speziell auch für jene ausgebildeten Psychotherapeutinnen, die ein anderes Grundstudium als Psychologie oder Medizin absolviert hatten, etwa Theologie, Philosophie, Pädagogik oder Soziologie. Für diese Idee ging er notfalls auf Konfrontation mit den politischen Behörden, mit den Krankenkassen und anderen Verbänden. Dass nun ein Verband alte Strukturen und veraltete Gesetze hinterfragte, provozierte Widerstand und stiess etablierte politische Kräfte und manche Behörde vor den Kopf. Vielen politischen Gremien musste man vorerst verständlich machen, was Psychotherapie überhaupt ist. Sie kannten zwar ÄrztInnen, hatten aber Schwierigkeiten, etwa PsychiaterInnen von PsychologInnen zu unterscheiden.

Für die Vernehmlassung zur Revision des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes (KUVG) in den frühen 1970er-Jahren wurden Psychotherapie-Gruppierungen nicht einmal angefragt. Es war deshalb ein zwingendes Anliegen, die Bezeichnung «Psychotherapeut» in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und als eigenständigen Beruf zu etablieren, mit dem Fernziel der Anerkennung als wissenschaftlicher Beruf. Dazu bedurfte es einheitlicher und hoher Ausbildungsanforderungen in den Kantonen. Nicht zuletzt sollten die Krankenkassen auch die Leistungen von nichtärztlichen PsychotherapeutInnen aus der Grundversicherung vergüten. Ärzte konnten selbst ohne Nachweis einer spezifischen Ausbildung ihre psychotherapeutischen Leistungen über die Grundversicherung abrechnen. Die Krankenkassen kannten bis anhin nur Ärzte als Psychotherapeuten.

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Serie zur Entwicklung der Psychotherapie

In mehreren Folgen beleuchtet Infosperber die Geschichte der Psychotherapie. Alle Beiträge finden Sie im

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Walter Aeschimann ist Historiker und Publizist. Er hat im Auftrag der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) zu deren 40jährigem Jubiläum eine historische Schrift zur Geschichte der Psychotherapie in der Schweiz verfasst. Walter Aeschimann. Psychotherapie in der Schweiz. Vom Ringen um die Anerkennung eines Berufsstandes. Jubiläumsschrift 40 Jahre ASP. Zürich 2019.

Zum Infosperber-Dossier:

PraxisPsychotherapie

Streit um die Psychotherapie

Der Konflikt zwischen Ärzten und Psychologen ist fast so alt wie die Psychotherapie selbst.

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Eine Meinung zu

  • am 9.06.2019 um 13:03 Uhr
    Permalink

    Die stereotype Berichterstattung über die grösste psychologische und therapeutische Bewegung in der Schweiz und ihren Organisationen muss offenbar im Lichte der Politisierung der Psychotherapie durch das PSZ sowie der alten Adler-Freud-Kontroverse gesehen werden. Darauf deutet auch der Satz „Innerhalb von kurzer Zeit wandte sich die Gruppe von linken Positionen ab und vertrat Standpunkte, die am rechten Rand des Politspektrums angesiedelt waren“ hin. Laut Wikipedia gab es innerhalb von 15 Monaten (1992 und 1993) 2.727 kritische Artikel über den VPM allein in der Schweizer Presse und fast jeder Artikel enthielt einen «Sektenvorwurf». Erst das Bundesgerichtsurteil BGE 121-360 «VPM-Fichen» vom 28. November 1996: „Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Regierungsrat des Kantons Zürich“ hatte die jahrelange Kampagne gestoppt. Die damaligen Zeitungsartikel waren unisono ähnlich denjenigen wie sie kürzlich im Fall Hirschmann gegen Tamedia vom Bundesgericht charakterisiert wurden: „Das Bundesgericht hat entschieden, dass mit dieser Berichterstattung die Persönlichkeit Carl Hirschmanns verletzt wurde. Insbesondere wurden teilweise spekulative, vor Gericht nicht belegte Vorwürfe in einer Art verbreitet, welche die Unschuldsvermutung missachtete. Das Gericht rügte nicht nur verschiedene Beiträge, sondern auch generell die überdurchschnittliche Intensität der Berichterstattung gegen Carl Hirschmann“.

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