Kommentar

Vom Sportinsider zum Whistleblower

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsWalter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist und forscht auch zum Thema Doping. ©

Walter Aeschimann /  Die Geschichte von Johannes Dürr und die aktuellen Doping-Machenschaften zeigen einmal mehr: Der professionelle Sport ist krank.

Mitte Januar 2019 mailte mich eine PR-Frau des Berliner Suhrkamp-Verlages an. Dieser Tage, schrieb sie, würde ein Buch erscheinen, welches mich interessieren könnte. «Der Weg zurück. Eine Sporterzählung»* von Johannes Dürr, dem österreichischen Skilangläufer, der an den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi positiv auf EPO getestet wurde, worauf «seine Profikarriere, sein Familienleben, der Glaube an sich selbst» zerbrochen sei. «Eine spannende persönliche Geschichte – an der sich eine wichtige gesellschaftliche Debatte über unsere Leistungsgesellschaft und ihre Machtstrukturen entfalten kann», klärte mich die PR-Fachfrau auf.

Das Erscheinungsdatum war optimal gewählt, kurz vor den Nordischen Skiweltmeisterschaften in Seefeld, an denen Johannes Dürr nach seiner Dopingsperre auch wieder als Sportler starten wollte. Vor allem im 50-Kilometer-Lauf vom kommenden Sonntag hatte er sich gute Chancen ausgerechnet.

Ich dankte der PR-Frau für die netten Zeilen, äusserte aber meine Zweifel, ob mich die Schrift auch wirklich interessieren könnte. Es gebe von Dopern unterdessen zahllose so genannt authentische, ein bisschen kritische Sportlerbekenntnisbiografien, in denen es letztlich nur darum ginge, bei den enttäuschten Fans die Gnade zu erbitten und bei den Ermittlern die Absolution. Selten werde Neues und Erhellendes beleuchtet, meistens seien es die üblichen Plattitüden über Sport und Leistungsgesellschaft. Ich überliess es ihr, mir dennoch ein Buch zu schicken.

Sie «freue» sich, schrieb die PR-Frau zurück, dass «ich meine erste Einschätzung so offen» mit ihr teile. Aber deshalb habe sie mich angemailt, weil ich «als Spezialist des Themas, die Debatte und Problematik fachmännisch einzuordnen» vermöge. Sie schickte mir ein Buch. Fast gleichzeitig, als das Buch im Briefkasten lag, lief im öffentlich-rechtlichen TV-Sender ARD schon eine Dokumentation über Johannes Dürr. Autor war der unterdessen recht bekannte TV-Journalist Hajo Seppelt. Es war offenbar eine konzertierte Aktion – der Film zum Buch.

Doping als Quotenrenner, routiniert als Medienware inszeniert

Die TV-Dokumentation bestätigte meinen berufsbedingten Argwohn nicht – er wurde übertroffen, bevor ich das Buch gelesen hatte. Mit dem immer gleichen Betroffenheitstremolo und pseudo-aufklärerischen Impetus wird das Bild eines Einzelschicksals nachgezeichnet, eines Sportlers, der einen «Fehltritt» begangen hatte, diesen auch feierlich bereut, Läuterung verspricht, dabei ein bisschen am System herumnörgelt, um unterschwellig anzudeuten, dass alle dopen und alle davon wüssten, auch die Behörden, Funktionäre und die Sponsoren. Namen wurden in der Dokumentation nicht genannt. Der Erkenntniswert ist für halbwegs interessierte Kreise minimal. Der Film erzählt nichts, das nicht schon hundertmal an ähnlichen Beispielen abgehandelt worden wäre. Kurz: Doping als Quotenrenner, routiniert als Medienware inszeniert.

Im Buch selber erzählt Johannes Dürr, unterstützt vom österreichischen Schriftsteller Martin Prinz, wie er in Sotschi EPO-Konsum eingestand, eine zweijährige Dopingsperre verbüsste und seit vier Jahren versucht, ohne Verbandsunterstützung, aber mit einer Crowdfunding-Kampagne in den Spitzensport zurückzufinden. Es will eine Mischung sein aus Literatur, Reportage, kritischem Sachbuch und Aufklärung. Und ist nichts von alledem. Immerhin lässt sich sagen, dass es anständig geschrieben ist. Aber die Absicht des Buches wird nicht klar, weil Dürr wohl selber nicht richtig wusste, weshalb er das Buch-Projekt gestartet hat. Zu Beginn mag eine Form der Psychohygiene der Antrieb gewesen sein.

An vielen Stellen wirkt der Inhalt auch unglaubwürdig. Mit 17 Jahren bekam er die erste Infusion, 10 Jahre später wird er des Dopings überführt. Dazwischen, dieser Eindruck entsteht im Buch, soll er nicht gedopt haben. Er war bis 2014 in die Weltelite vorgestossen – leistungsmässig auf Augenhöhe mit Dario Cologna – und hatte die für Spitzensportler gängige Definition verinnerlicht: Doping ist nur, wenn man erwischt wird. Noch unverständlicher ist, warum er um Himmels willen in dieses nationale und internationale Hochleistungssystem zurückkehren wollte? Er wusste ja, was das bedeutet. Aber er war bereit dazu, mit allen Konsequenzen und es ist anzunehmen, dass er sich in seinen Trainingslagern auch nach der Dopingsperre medizinisch optimal präparierte. Im Buch erwähnt er diesen Aspekt nicht. Die Sucht auf Spitzensport, auf Medienpräsenz, auf das intensive Leben im permanenten Ausnahmezustand, auf das Grenzgefühl des Körpers zwischen Lust und Schmerz, war stärker als die wachsende Skepsis gegenüber dem kranken Sportsystem.

Der nationale Verband behandelte Dürr mit Arroganz

Aber Dürr hatte 2014 in Sotschi einen Tabubruch begangen. Er war miserabel auf den Fall eines positiven Dopingtests vorbereitet worden. Er hatte alles zugegeben und angedeutet, dass auch andere dopen und der nationale Verband dies tolerieren würde. Dabei hätte er alles abstreiten und irgendeinen Unsinn erzählen müssen, wie das EPO in sein Blut gekommen war. Es gibt genügend Beispiele von LangläuferInnen, die positiv getestet wurden, ihre Strafe verbüssten und sich danach problemlos in der Weltelite wiederfanden. Die beiden aktuellsten sind die Stars der Nordischen Ski-WM: die NorwegerInnen Johnsrud Sundby und Therese Johaug. Sundy hatte angeblich nicht gewusst, dass ein Asthma-Medikament auf der Dopingliste steht, Johaug erzählte, dass eine anabolikahaltige Lippencreme verantwortlich sei.

Für den Österreichischen Skiverband war klar, dass sie Dürr nicht wieder ins System einlassen würden. Aber der Verband beging einen Fehler, Dürr die Rückkehr zu verweigern, obwohl er Geheimnisträger war. Mehr noch. Der nationale Verband behandelte ihn mit quälender Arroganz und Herablassung, vernichtete ihn sozial, bezeichnete ihn als Lügner und am Schluss wollte er gar sein Denken schriftlich definieren. Dürr sollte eine von Juristen des Österreichischen Skiverbandes vorformulierte «Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung» unterschreiben: «WIDERRUF. Ich habe am 5.7.2018 bei einer sog ‘FuckUP-Night’ die Behauptung geäussert, der Österreichische Skiverband würde Doping stillschweigend dulden, gezielt die Augen verschliessen und/oder Doping hinnehmen, solange der Dopende sich dabei nicht erwischen lasse. Ich widerrufe diese Behauptung hiermit als unwahr und ziehe diese mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.» Er sollte mit der Unterschrift nicht nur die Aussage widerrufen, er sollte gleichzeitig bestätigen, dass er in Zukunft niemals «gleichsinnige» Aussagen machen würde.

Das Buch endet mit diesen Informationen und lässt offen, ob Dürr das Dokument unterschrieben hat. Auf jeden Fall war spätestens im Januar 2019 klar, dass er sein grosses Ziel der vergangenen vier Jahre, die WM in Seefeld und die Rückkehr auf die grosse Sportbühne, als Sportler verpassen würde. Eigentlich wollte ich nichts darüber schreiben, zumal etliche Publikums-Medien ähnlich wie die ARD-Dokumentation berichtet hatten.

Krimineller Höhepunkt an der Nordischen Ski-WM

Die Nordische Ski-WM und ihr krimineller Höhepunkt lässt das Buch in einem völlig neuen Licht erscheinen. Für jene, die noch nichts von der «Operation Aderlass» vom Mittwoch, 27. Februar 2019 vernommen haben, seien die Geschehnisse kurz zusammengefasst: 19 Hausdurchsuchungen, im Einsatz waren 120 Beamte der österreichischen und deutschen Kriminalbehörden. Am Mittwochmorgen stürmten sie an der Innsbrucker Strasse in Seefeld «eine Villa mit rosafarbenem Putz, braunem Giebel und Balkonen aus hellem Holz», wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Die Beamten inhaftierten fünf Athleten, die am Nachmittag zum 15-Kilometer-Wettkampf hätten starten sollen. Der Verdacht lautete auf Blutdoping, bei einem Athleten steckte die Kanüle noch in der Vene, als die Beamten kamen. Athleten aus Österreich, Kasachstan und Estland wurden festgesetzt.

Kurz zuvor hatten deutsche Zollbeamte in Erfurt bereits die mutmasslichen Versorger der Seefelder Athleten ausgehoben. Sie durchsuchten unter anderem die Praxis des Sportmediziners Mark Schmidt. Er war schon Teamarzt beim dopingbelasteten Radsport-Team Gerolsteiner und schon damals von inhaftierten Rad-Profis schwer belastet worden. Der 40-Jährige und ein Komplize wurden vor Ort festgenommen. Die Behörden stellten diverse Blutbeutel sicher, Zentrifugen, Computer, viel Beweismaterial. Wenn sie weiterhin gewissenhaft arbeiten, wird noch einiges zum Vorschein kommen. Schmidts Vater, ein Rechtsanwalt, wurde am Mittwoch in Seefeld festgesetzt. Er hatte die Versorgung der Athleten laut den Behörden mit einem weiteren Komplizen betreut. Man habe, teilte das österreichische Bundeskriminalamt später mit, ein «weltweit agierendes Netzwerk der Kriminalität» zerschlagen. Zum internationalen Kundenstamm der Erfurter Klinik zählten auch Fussballer, Schwimmer, Radsportler, Handballer und Leichtathleten.

Irgendwann geschah der Bruch – wohl nach Erscheinen des Buches

Vor diesem Hintergrund ist das Buch von Dürr das persönliche Schicksal eines Insiders, eine Art innerer Monolog, eine akribisch erzählte Entwicklungsgeschichte, wie konsequent einer vom Spitzensportler in die Rolle des Whistleblowers getrieben wird (Er ist kein Kronzeuge, wie einige Medien irrtümlich schreiben, da gegen ihn keine Verfahren hängig sind). Es ist nun ein interessantes Buch von einem Sportler, der von diesem System gefördert wurde und unterstützt, der dieses System akzeptierte und genoss, selbst die Dopingsperre abgesessen hatte und danach weiter hoffte, in den Spitzensport zurückzukehren. Aber irgendwann geschah der Bruch – wohl nach Erscheinen des Buches – als die Bösartigkeiten der österreichischen Sportfunktionäre unerträglich wurden und sie gar sein Denken, sein Innerstes zerstören wollten. Es kann mit grosser Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Dürr den Kriminalbehörden die entscheidenden Namen und Hinweise lieferte. Dürr hatte die Klugheit, die Staatsanwaltschaft – und nicht die sportinternen Anti-Doping-Strukturen – einzuschalten.

Die «Operation Aderlass» enthüllt einmal mehr Fundamentales über die Welt des professionellen Sports. Sie zeigt exemplarisch, wie untauglich und untätig die sportinternen Anti-Doping-Strukturen, Ethikkommissionen oder die privaten Gerichtsbarkeiten des Weltsports sind. Momentan vermögen nur Whistleblower in Zusammenarbeit mit seriösen staatlichen Behörden die Systemkriminalität im professionellen Sport aufzudecken. Eine Systemkriminalität, die von Funktionären des Weltsports auf allen Stufen geschaffen wird, in Zusammenarbeit mit Akteuren von öffentlichen, halböffentlichen Institutionen, der Wirtschaft und den meisten Medien, vom grossen Teil des Publikums ignoriert und vom sporteigenen so genannten Anti-Doping- und Ethik-System verschleiert.

Die Verbrecher um Joseph Blatter, den einstigen Präsidenten des Internationalen Fussball-Verbandes (FIFA), konnten nur nach Untersuchungen des FBI verhaftetet werden. Die zentrale Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten erhielt die Insiderinformationen vom US-amerikanischen Jurist Michael J. Garcia, der zuvor bei der FIFA mandatiert gewesen war. Die staatlich geförderten Dopingprogramme in Russland wurden nur aufgedeckt und nachverfolgt, weil Julia Stepanowa und ihr Mann Witali Stepanow 2014 in einer Dokumentation des TV-Senders ARD über staatliche Dopingprogramme berichteten und weil der ehemalige Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors, Gregori Rodschenkow, den US-Behörden diverse Unterlagen ausgehändigt hatte. Dürr selber dürfte den Part des Whistleblowers nicht gesucht haben. Er ist wohl aus reinem Überlebenstrieb in diese grenzwertig belastende Rolle hineingeraten. Was künftig mit ihm passiert, ist offen. Whistleblower sind in unserer Gesellschaft kaum geschützt.

Nicht die Athleten sind das Problem, sondern die Funktionäre

Wie nachhaltig die «Operation Aderlass» für den professionellen Sport und seine Strukturen ist, bleibt ebenfalls ungewiss. Eine düstere Vorahnung beschlich einen schon am Mittwochabend. Die Medien übertrugen erste routinierte Statements von verantwortlichen Funktionären, die nach dem üblichen Muster funktionieren: Empörung – Verantwortung abstreiten – Konsequenzen versprechen – Weitermachen. Exemplarisch das Interview im Studio des österreichischen Staatsfernsehens. Dort trat Peter Schröcksnadel auf, ein österreichischer Unternehmer und seit 1990 Präsident des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV), von 2009 bis 2012 auch Präsident der European Ski Federation. Mit unerträglicher Selbstgefälligkeit durfte er unwidersprochen die Einzeltätertheorie verbreiten. In routinierten Worten fluchte er über die dummen Sportler und versprach personelle sowie strukturelle Konsequenzen. Diese Rede repetierte er seither permanent und sie wird nicht glaubhafter, nur weil sie immer markiger vorgetragen wird. Er selber habe nichts gewusst und deshalb stehe seine Person nicht zur Diskussion. Dabei ist seit Jahrzenten offensichtlich: nicht die Athleten sind das Problem, sondern die Funktionäre und ihre Zudiener. In Schröcksnadels Amtszeit ist der ÖSV wiederholt in die Doping-Schlagzeilen geraten. Der ORF-Moderator bedankte sich am Schluss unterwürfig, dass er, Schröcksnadel, sich so kurzfristig Zeit für das Interview genommen habe.
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* Johannes Dürr. Martin Prinz. Der Weg zurück. Eine Sporterzählung. Berlin 2019.

Weiterführende Informationen


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Walter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist und forscht auch zum Thema Doping.

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2 Meinungen

  • am 1.03.2019 um 14:13 Uhr
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    Und an welcher Krankheit ist der Hoch-Leistungssport erkrankt ?
    An einer totalitären Kommerzialisierung und der Macht der Werbeträger und Werbetragenden. Umso mehr davon umso, mehr lohnt sich Doping.

    Dann ist ein subtiles Psycho-Brainwashing der Zuschauer damit verbunden.
    Leistung lohnt sich. Im den Wettbewerbs-Sportarten gibt es immer einen Sieger.
    Für die Förderung des National-Stolzes funktioniert es nicht immer ganz so leicht.

    Die öffentlichen Medien sollten nicht mehr über die höchstkommerzialisierten Sportarten berichten. Damit können Gelder gespart werden für die indirekte zusätzliche Werbung für Kapital-Gesellschaften. Ein besser ausgestatteter investigativer Journalismus ist z.B. mehr im gesellschaftlichen Interesse und die Verööfentlichung der Ergebnisse.

  • am 1.03.2019 um 18:35 Uhr
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    Das Enfant Terrible und Jahrhunderttalent der UFC, Jon «Bones» Jones (JBJ), wurde bereits mehrfach wegen Dopings gesperrt. Kurz vor seinem letzten Kampf im Dezember wurden Rückstände vom Anabolika Turinabol im Pikogramm Bereich nachgewiesen. Die Amerikanische Anti Doping Agentur (USADA) entschied, dass diese Menge für eine Leistungssteigerung nicht ausreichend ist und der Kampf deshalb stattfinden kann.

    Kommenden Samstag verteidigt er ein weiteres mal seinen Titel. Vor ein paar Tagen wurde wieder eine Positive Probe bei Jones im Pikogramm Bereich gefunden. Die USADA hat wieder entschieden, dass es eine zu kleine Menge ist für einen Leistungssteigernden Effekt. Somit kann JBJ zum zweiten Mal hintereinander ganz offiziell gedopt kämpfen und seinen Titel verteidigen. Man könnte meinen, da werden bewusst Präzedenzfälle geschaffen.

    Betreffend Staatsdoping:
    Die USADA wurde gegründet vom Nationalen Olympischen Komitee der Vereinigten Staaten.

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