«Glaub mir, du wirst Probleme bekommen»
Red. Walter Aeschimann ist Historiker und lebt als freier Publizist in Zürich. Derzeit ist er mit dem Velo unterwegs in der Türkei und durchquert das Land in mehreren Wochen von West nach Ost. Rund 2200 Kilometer über Pass-, Haupt- und Nebenstrassen, durch abgelegene Dörfer und kleine Städte. Sein Hauptinteresse gilt den Menschen in der Türkei. Wie leben sie in diesen Zeiten und was denken sie? Wie sehen sie ihr Land und die politische Entwicklung? Auf Infosperber berichtet Walter Aeschimann in unregelmässigen Abständen von seiner Reise und den Menschen, denen er unterwegs begegnet.
Hügellandschaft im Osten der Türkei (alle Bilder: Walter Aeschimann)
Heute habe ich mir vorgenommen, in einem kleinen Städtchen zu übernachten, das etwa 50 Kilometer nordwestlich der Millionenstadt Balikesir liegt. Gewährsleute haben mir versichert, dass es im Städtchen eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Weshalb ich mich auf Gewährsleute verlasse, hat seine Gründe. In der Türkei funktioniert das Internet recht gut, aber auch nicht immer. Auf den globalisierten Hotelportalen gibt es bei der Türkei grosse blinde Flecken. Und seit April 2017 ist Wikipedia gesperrt. Dem Online-Lexikon wirft die türkische Regierung vor, Texte aufzuschalten, die den Terror propagieren und die Türkei auf eine Stufe mit Terroristen stellen würden. Wikipedia habe sich geweigert, die entsprechenden Texte zu löschen. Deshalb hat die Regierung Wikipedia sperren lassen.
Zwischenstopp auf dem Weg nach Balikesir
Ich kehre unterwegs in einem kleinen Weiler ein, weil ich dachte, genügend Zeit zu haben. Unter der Pergola sitzen ein Dutzend Männer, trinken Tee und verbringen ihre Zeit mit Kartenspielen. Ich setze mich in den Innenraum, bestelle Tee und eine Cola. Plötzlich steht eine junge Frau vor mir und stellt sich formvollendet auf Englisch vor. «Willkommen in der Türkei. Ich heisse Ecrin. Wie heisst du?» Ich sage meinen Namen und woher ich komme. Ecrin ist 19 Jahre alt und will später Stewardess bei den Turkish Airlines werden. Ihr Vater sitze draussen und habe sie angerufen, als er mich kommen sah. Er möchte fragen, ob ich hungrig sei. Er mache sehr gute Köfte (Bällchen aus Lamm- oder Kalbfleisch). «Willkommen in der Türkei», sagt der Vater. Ich habe keinen Hunger und muss das Angebot ablehnen. Beide versichern mir, an meinem Etappenziel könne ich übernachten. Ich darf meine Getränke nicht bezahlen, als ich aufbreche.
Als ich im Städtchen ankomme, gehe ich zum ersten Laden, kaufe ein Eis und frage den jungen Verkäufer nach dem Hotel. Er versteht mich nicht, ahnt aber, was ich will. «Otel? – No», sagt er, nimmt das Mobiltelefon zur Hand und ruft einen Freund an. So lerne ich Murat kennen.
Abendgebet in Kütahya
Murat ist 21, studiert Jus und will später Handelsrecht in Istanbul praktizieren. Momentan sind Semesterferien, und die verbringt er bei seinen Eltern hier in der Nähe, wo er aufgewachsen ist. Murat telefoniert mit seinen Eltern, ob sie mich für eine Nacht als Gast beherbergen könnten. Weil Ferienzeit ist und zudem das Opferfest (Kurban Bayrami), das bedeutendste islamische Fest, ist die Grossmutter dort und andere Verwandte. Das Haus ist voll. Murat ruft mindestens fünf weitere Freunde an. Es hilft nichts. Ich würde den Bus nach Balikesir nehmen müssen.
«Die Türkei ist anders»
Murat wartet zwei Stunden mit mir auf den Bus. So entwickelt sich folgendes Gespräch:
— «Warum bist du in dieses Nest gekommen?»
— «Ich schätze kleinere Städtchen mehr als grosse Zentren.»
— «Die alten Leute lieben kleinere Städte. Meine Eltern auch. Ich will lieber nach Istanbul. Glaube mir, dort ist die Türkei.»
Wir sitzen vor dem Parteibüro und schauen auf den staubigen Vorplatz, wo Bauern um zwei Schafe feilschen. Der Wind bläst uns ständig den Staub ins Gesicht. Der Vorplatz wird ab und zu von einem Fahrzeug bewässert. Busse, Autos, knatternde Motorräder fahren vorbei und manchmal ein Grosslastwagen. Zwei Männer gesellen sich zu uns und offerieren Tee. Murat erklärt mir, dass ich nun ihr Gast sei und keinesfalls bezahlen dürfe. Es sei ihre Art, mich willkommen zu heissen.
Der Kellner bringt den frisch aufgebrühten Tee auf schwankendem Tablett an den Tisch
— «Wie alt bist du?»
Ich nenne ihm mein Alter.
— «Warum fährst du mit dem Velo quer durch die Türkei?»
— «Es ist eine schöne Art, zu reisen, um eine andere Kultur, um Menschen und die Gegend kennenzulernen.»
Murat übersetzt ins Türkische. Die Männer machen sich lustig über mich.
— «Die Türkei ist anders, glaube mir. Hier bist zu quasi noch an der Grenze zu Europa. Aber weiter im Osten wirst du mit dem Velo nicht mehr weiterkommen, wirst kaum mehr Hotels finden, wirst auch kaum mehr Menschen finden, die Englisch sprechen.»
— «Es wird schon irgendwie gehen. Aber vielleicht habe ich die sprachlichen Schwierigkeiten und mangelnde Übernachtungsmöglichkeiten auf meiner Route zu wenig beachtet.»
— «Im Osten ist es zudem hügelig und sehr kalt.»
— «Ich komme aus der Schweiz. Erzähl mir nichts über die Kälte und hohe Berge.»
— «Hier ist alles viel grösser und weiter. Und die Kälte ist anders. Sie ist hart und trocken. Ich gebe dir einen guten Rat: Nimm das nächste Flugzeug und fliege in die Schweiz zurück.»
Ich frage Murat, ob er auch etwas Positives über die Türkei erzählen könne.
— «Warum fragst du? Glaube mir, ich liebe die Türkei. Aber ich möchte dir ein realistisches Bild vermitteln.»
«Die Schweiz hat nichts und ist trotzdem reich»
Murat holt das Smartphone hervor und geht auf Wikipedia, um nachzuschauen, welches die wichtigsten Bodenschätze in der Türkei sind. Ich schaue ihn verwundert an. Ich habe keinen Zugang zu Wikipedia. Die Seite sei in der Türkei doch gesperrt, sage ich.
— Ach, die Sperre kannst du leicht umgehen. Ich zeige es dir, wenn du willst. Wir haben Borsalze, Chromit und Buntmetalle. Es wachsen Tomaten, Feigen, Melonen und viele andere Früchte. Und trotzdem ist die Türkei ein armes Land. Die Schweiz hingegen hat nichts und ist trotzdem reich. Wie geht das?
Murat ist recht gut informiert und ich verstehe, was er meint. Ich sage ihm, ich sei nicht stolz darauf, wie die Schweiz mit Nichts so reich geworden ist.
— Habt ihr eine Armee?
— Ja, eine kleine. Und die Soldaten sind alles Amateure.
— Wir haben eine riesige Armee. Die Türkei könnte die Schweiz in einem Tag besiegen. Aber die Schweiz gilt als sicherstes Land der Welt. Selbst Erdogan findet die Schweiz sicherer als die Türkei. Er hat sein Geld in der Schweiz deponiert. Das hat WikiLeaks öffentlich gemacht.
Kunstvolle Keramik am öffentlichen Brunnen
Wir müssen beide lachen, obwohl es gar nicht lustig ist. Wir trinken eine Cola. Ich fülle an der Wasserstelle den Bidon nach und gehe ins öffentliche WC-Häuschen. Murat entschuldigt sich, dass es nicht sauber sei und derart übel rieche.
Schliesslich hält der Bus, und Murat regelt mit dem Chauffeur, dass ich das Fahrrad mitführen darf, was gar nicht sicher schien. Wir machen ein Selfie und schmiegen die Wangen kurz aneinander, eine Begrüssung und Verabschiedung auf Türkisch unter Freunden. Bevor ich in den Bus einsteige drückt er mir seine Telefonnummer in die Hand und einen kleinen Stein, der von einer nahegelegenen Mine stammt. «Wenn du irgendwann und irgendwo Probleme hast – und glaube mir, du wirst Probleme bekommen –, dann ruf mich an. Ich werde dir helfen».
Manche Begegnungen sind kurz und spontan. Sie dauern gerade so lange, dass die beiden erzählen können, dass sie in zwei Wochen heiraten werden.
In Balikesir steht am Busbahnhof ein junger Mann, der perfekt Deutsch spricht. Ich habe keine Ahnung, ob das Zufall ist, ob der Buschauffeur von unterwegs oder ob Murat das geregelt hat. Der junge Mann ist Altenpfleger in Deutschland und besucht über die Feiertage seine Mutter. Er führt mich im chaotischen Grossstadtverkehr zu einem Hotel. Auf dem Weg dorthin fragt er, und zwar in dieser Reihenfolge: «Wie alt bist Du?» und: «Warum kommst du ausgerechnet hierher?»
Am Abend im Hotel hat mir Murat die Selfies schon via E-Mail geschickt: «greetings from murat».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Walter Aeschimann unternimmt seit vielen Jahren Veloreisen in ferne Länder und hat zahlreiche (Multimedia-) Berichte in der NZZ und Velomagazinen veröffentlicht. Er arbeitete als Redaktor für das Nachrichtenmagazin «Facts», die «Sonntags-Zeitung», den «Tages-Anzeiger» und das Schweizer Fernsehen.
Vielen Dank für diese schönen Reiseberichte – gute Weiterreise.