Missbrauch: Church of England lässt Opfer im Stich
Ein vernichtender 170-seitiger Bericht der unabhängigen Untersuchungsstelle über sexuellen Kindesmissbrauch (IICSA) stellt der Church of England, der Mutterkirche der Anglikanischen Gemeinschaft, ein miserables Zeugnis beim Umgang mit Opfern von sexuellem Missbrauch durch Priester aus. Die Church of England schütze in erster Linie ihren Ruf und nicht die Opfer, so die Bilanz der Untersuchung.
Die Kultur der Ehrerbietung und des «Klerikalismus» der Church of England bedeute, dass die Kirche ein Ort sei, an dem sich Missbrauchstäter verstecken könnten, ist im Bericht zu lesen. Die dringende Forderung: Die Bischöfe der Church of England sollen von ihrer Verantwortung, Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, entbunden werden.
Allerdings geht der im Oktober erschienene Bericht «The Anglican Church – Safeguarding in the Church of England and the Church in Wales» auf zwei Hauptforderungen der Überlebenden von sexuellem Missbrauch durch Kleriker nicht ein: Die obligatorische Meldung von Missbräuchen an die gesetzlichen Behörden und eine unabhängige Aufsicht über die Schutzpolitik und -massnahmen der Church of England sollen erst in einer zukünftigen Untersuchung geprüft werden.
Nur ein Viertel aller Missbrauchsvorwürfe landen bei staatlichen Behörden
Der IICSA-Bericht geht in erster Linie der Frage nach, wie die anglikanische Kirche in England und in Wales mit der Offenlegung von sexuellem Missbrauch umgegangen ist. Demnach wurden zwischen 1940 und 2018 insgesamt 390 Geistliche und Personen in kirchlichen Vertrauenspositionen wegen Missbrauchs verurteilt.
Die Zahlen der Fälle, die den Diözesen gemeldet wurden, sind aber ungleich höher: Allein im Jahr 2018 erhielten sie über 2500 «Schutzbedenken» betreffend gefährdeten Kindern und Erwachsenen, darunter 449 Klagen wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Nur ein Viertel dieser Fälle wurde an staatliche Behörden weitergereicht.
Der Bericht spricht eine klare Sprache: «Die Achtung vor der Autorität der Kirche und vor einzelnen Priestern, die Tabus bei der Diskussion über Sexualität sowie ein Umfeld, in dem mutmassliche Täter hilfsbereiter behandelt wurden als Opfer, stellten Hindernisse für die Offenlegung dar, die viele Opfer nicht überwinden konnten.» Die moralische Autorität des Klerus werde weiterhin als über jeden Vorwurf erhaben angesehen. Vorwürfe des Missbrauchs durch Priester seien von Kirchenführern «ignoriert, verharmlost oder zurückgewiesen» worden. Die Vernachlässigung des physischen, emotionalen und spirituellen Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen zugunsten des Schutzes des Rufs der Kirche stehe «im Widerspruch zu ihrer Mission der Liebe und Fürsorge für die Unschuldigen und Schwachen».
«Jahrzehntelange Versäumnisse»
Die unabhängige Untersuchung basiert neben Angaben von Überlebenden von sexuellem Missbrauch auch auf Anhörungen von diversen Kirchenvertretern, darunter zum Beispiel von Justin Welby, dem Erzbischof von Canterbury, und John Sentamu, dem ehemaligen Erzbischof von York. Daneben kamen Expertinnen und Experten zu Wort, die sich sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Kirche mit Massnahmen zum Schutz vor sexuellem Missbrauch beschäftigen.
Der Bericht kam zum Schluss, dass Bischöfe keine operative Verantwortung für den Schutz der Kinder übernehmen sollten. Professionelle Sicherheitsbeamte und nicht die Geistlichen seien «am besten in der Lage zu entscheiden, in welchen Fällen die Polizei oder die Sozialdienste eingeschaltet werden sollten und welche Massnahmen die Kirche ergreifen sollte, um Kinder zu schützen».
Gemäss dem Leiter der Untersuchung, Alexis Jay, habe es die Church of England «über viele Jahrzehnte hinweg versäumt, Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch zu schützen.» Stattdessen habe sie eine Kultur gefördert, in der sich die Täter verstecken konnten und die Opfer auf Hindernisse bei der Aufdeckung gestossen seien.
«Grausame und unehrliche Behandlung»
Gemäss «The Guardian» sagte der Anwalt Richard Scorer, der 20 Überlebende von Missbrauch durch Angestellte der Church of England vor Gericht vertritt: «Das ist ein vernichtender Bericht. Er bestätigt, dass die Church of England trotz jahrzehntelanger Skandale und endloser Versprechungen weiterhin Opfer und Überlebende im Stich lässt.» Die Bischöfe hätten zu viel Macht und würden zu wenig kontrolliert. Nationale Gesetzgebungen würden nicht richtig durchgesetzt.
Aus dem Bericht gehe klar hervor, dass grosse Veränderungen erforderlich seien, so zum Beispiel eine angemessene Unterstützung der Überlebenden sowie die Abschaffung der operativen Verantwortung der Bischöfe für den Schutz von Missbrauchsopfern. Es brauche eine obligatorische Weiterreichung der Verdachtsfälle und eine unabhängige Aufsicht über den kirchlichen Missbrauchsschutz.
Matt Ineson, ein Überlebender von sexuellem Missbrauch, sagte: «Die Behandlung der Opfer durch die Kirche war und ist grausam und unehrlich. Die Kirche ist immer nur darauf bedacht, ihren Ruf zu schützen.» Die Opfer würden lächerlich gemacht und in Misskredit gebracht; ignoriert, belogen, ausspioniert und menschenunwürdig behandelt. «Die Kirche hat sich als ungeeignet erwiesen, mit Missbrauchsfällen umzugehen (…).»
Erzbischöfe reagieren mit Entschuldigung
Bereits vor der Veröffentlichung des Berichts publizierten die Erzbischöfe von Canterbury und York einen offenen Brief zuhanden der Opfer von sexuellem Missbrauch. «Es tut uns aufrichtig leid für die beschämende Art und Weise, in der die Kirche gehandelt hat. Wir erklären hiermit unsere Verpflichtung, zuzuhören, zu lernen und auf die Ergebnisse des Berichts zu reagieren.»
Auch der Bischof von Huddersfield und Melissa Caslake, die nationale Direktorin für Sicherheitsfragen der Church of England, reagierten auf die Untersuchung: «Der Bericht liest sich schockierend, und obwohl Entschuldigungen niemals die Auswirkungen des Missbrauchs auf Opfer und Überlebende beseitigen werden, wollen wir heute unsere Scham über die Ereignisse zum Ausdruck bringen, die diese Entschuldigungen notwendig gemacht haben. Die ganze Kirche muss aus dieser Untersuchung Lehren ziehen.»
Drei exemplarische Fälle aus dem Bericht «The Anglican Church – Safeguarding in the Church of England and the Church in Wales»
Timothy Storey war von 2002 bis 2007 Jugendleiter in London und begann dann eine Ausbildung zum Priester. Vier Mädchen und junge Frauen im Alter von 13 bis 19 Jahre erhoben Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs. Während eines Treffens mit Pfarrer Jeremy Crossley, einer hochrangigen Persönlichkeit der Kirche, gab Storey zu, Sex mit einem 16-jährigen Mädchen gehabt zu haben. Crossley sagte Pfarrer Hugh Valentine, Berater des Bischofs von London für Kinderschutz, dass Storey «im Grunde ein guter Mann sei, der ein effektiver Priester sein könne». Im Jahr 2016 wurde Storey wegen dreimaliger Vergewaltigung und einmal wegen Körperverletzung durch Penetration zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde von der Kirche kontinuierlich betreut.
Victor Whitsey war zwischen 1974 und 1982 Bischof von Chester. Ein heute erwachsener Mann sagt, er habe Peter Forster, der im vergangenen Jahr als Bischof von Chester in den Ruhestand ging, erzählt, dass er 2002 als Kind von Whitsey sexuell missbraucht worden sei. Forster blieb untätig und teilte während der Untersuchung mit, er habe «eine vage Erinnerung an jemanden (…) der gesagt habe, Victor Whitsey habe den Arm um ihn gelegt» und Whitsey habe einen «Ruf für seltsames Verhalten.» Bis Juli 2019 enthüllten 19 Personen, dass sie vom 1987 verstorbenen Whitsey sexuell missbraucht worden waren.
Trevor Devamanikkam war Priester in Yorkshire, bis er 1996 in den Ruhestand ging. Er soll Mitte der 1980er Jahre einen Teenager, Matthew Ineson, wiederholt vergewaltigt und angegriffen haben. Ineson sagt, er habe seinen Missbrauch entweder direkt oder indirekt vier Bischöfen und dem Erzbischof von York gegenüber offengelegt, allerdings seien keine Massnahmen ergriffen worden. Im Jahr 2017 wurde der Priester dreimal wegen Vergewaltigung und dreimal wegen unsittlicher Körperverletzung angeklagt. Devamanikkam nahm sich am Tag vor seinem Gerichtstermin das Leben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine