Israel: eine Villa im Dschungel
Um 8 Uhr morgens treffen wir in einem Jerusalemer Café den antizionistischen israelischen Friedensaktivisten Michel Warschawski. Er hat das so gewollt. Und als der Siebzigjährige erscheint, hatte er zu Hause schon etliche Enkel geweckt, mit Frühstück versorgt und in die Schule gebracht. Warschawski ist in Strassburg als Sohn des dortigen Oberrabiners geboren, ging mit 16 nach Israel, studierte Talmud, entwickelte sich politisch zum Linksradikalen, gründete das Alternative Information Center und arbeitet als Journalist. Das folgende Gespräch fand auf Französisch statt. Martin Heule und ich fragten Warschawski an jenem 7. Mai 2019 zuerst, wie er die letzten Tage – die Raketen auf Israel und die Bomben auf Gaza – erlebt habe?
Warschawski: Ohne grosse Überraschungen. Israel hat die Übereinkommen mit der Hamas nicht respektiert. Früher oder später musste eine Reaktion erfolgen.
Welche Übereinkünfte meinen Sie?
Abkommen über die Belieferung des Gazastreifens mit Lebensmitteln und Baumaterialien. Israel argumentiert vor allem damit, das Baumaterial diene zum Bau von Schutzräumen, Bunkern, unterirdischen Tunnels. Als weiteres Druckmittel hat Israel vor kurzem die Ausdehnung der Fischereizone von Gaza reduziert. Vor allem die Armen in Gaza leben aber vom Fischen. Israel erhebt auch die chancenlose Forderung nach einem Ende der friedlichen Demonstrationen, die es jeden Freitag an der Grenze zwischen Gaza und Israel gibt.
Was diese israelische Regierung verrückt macht: Die Widerstandkraft einer Bevölkerung von ungefähr zwei Millionen Menschen, eingesperrt in einen winzigen Ort, in einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage. Benjamin Netanyahu will, dass sie die Arme heben und sagen: Wir ergeben uns. Doch es gibt keine Chance, dass das geschieht, keine!
Sie sagen: An der Grenze demonstriert das Volk. In den Zeitungen bei uns liest man oft, diese Leute seien von der Hamas manipuliert.
Das sind Zehntausende von Männern, Frauen, Kindern, Greisen, die da zur Demo kommen. Es gibt eine Symbiose zwischen der Bevölkerung und Hamas. Hamas wird als legitime Führung betrachtet und hat eine Mehrheit, auch in Cisjordanien. Nachdem sie die Wahlen gewonnen hatten, überliessen sie in grosser politischer Klugheit die grosse Politik Mahmud Abbas und kümmerten sich um das Lokale. Die Hamas hat manchmal sehr autoritäre Verhaltensweisen – wie die Fatah übrigens auch – und wird deswegen von der Bevölkerung kritisiert. Grundsätzlich aber gilt: Hamas ist keine terroristische Diktatur, sondern eine Bewegung, die eine Massenbasis und Unterstützung im Volk hat.
Die Palästinenser hatten verlangt, dass internationale Beobachter präsent seien, und diese haben die Wahlen als sehr gut bezeichnet.
Welches ist die Beziehung zwischen der israelischen Regierungen und der Hamas?
Für diese Regierung, die nun seit 13 Jahren regiert, ist der Feind Nummer eins nicht die Hamas, sondern die palästinensische Nationalbewegung im Allgemeinen und Mahmud Abbas. Ein palästinensischer Staat in Cisjordanien und Gaza ist die international anerkannte Lösung, die verhindert werden soll. Daher ist das Hauptproblem Mahmud Abbas und seine Legitimität, und nicht die Hamas. Ich sage nicht, dass Hamas von Israel manipuliert ist, selbst wenn Hamas am Anfang eine israelische Konstruktion war, zu Rabins Zeiten, in der Hoffnung eine Organisationen zu schaffen, welche die PLO schwächen und das Volk entpolitisieren könnte.
Wenn ich richtig verstanden habe, lässt die israelische Regierung Hamas agieren, um zu verhindern, dass sie mit Abbas zu einer Lösung kommen muss, die sie zwingen würde, Gebiete für einen Palästinensischen Staat abtreten zu müssen?
Ja, das ist das Spiel. Und dahinter steckt noch eine andere, sehr israelische Formel: Wenn der palästinensische Partner zu stark ist, ist nicht der Moment zum Verhandeln. Und wenn er zu schwach ist: Warum verhandeln? Verhandeln ist in jedem konkreten Moment inopportun.
Es gibt ja auch noch Marwan Barghuti. Er wäre ein idealer Leader Palästinas. Ihn lässt man im Gefängnis.
Die Israelis sind schlechte Kartenspieler. Sie haben einen Trumpf, Barghuti, und sie behalten ihn, behalten ihn, behalten ihn – bis er nichts mehr wert ist, weil eine neue palästinensische Generation ihn nicht mehr kennen wird.
Wie wird die nächste Regierung aussehen? Welche Basis in der Bevölkerung wird sie haben?
Erste Feststellung: Die Rechte hat in der Bevölkerung Israels eine Mehrheit. Die extreme Rechte, Netanyahu und seine Koalition, wird für lange Zeit regieren.
Zweite Feststellung: Die institutionelle Linke ist zusammengebrochen. Was Netanyahu bedroht, sind nicht Wahlen, sondern seine Korruptionsaffären. Daher will er die Justiz verändern und nach französischem Vorbild gesetzlich verbieten, einen amtierenden Präsidenten vor Gericht zu stellen.
Der Rechtsrutsch ist relativ. Seit den 80er Jahren, seit dem Libanonkrieg, sind in Israel Gesellschaft und Wählerschaft in zwei Hälften geteilt. Das ist stabil bis heute: eine harte Hälfte, die heute das Lager von Netanyahu unterstützt und eine gemässigte Hälfte, die ich «Tel Aviv» nenne, weil sie sich dort konzentriert. Bis ins Jahr 2000 war die grössere Hälfte links, die kleinere rechts. Im Jahre 2000 gab es dieses Abgleiten. Das ist aber kein radikaler Umschwung. Es bleibt dabei: 40 bis 45 Prozent der Wählerschaft sind nicht für Netanyahu, sie wollen die Besetzung beenden und verabscheuen die Siedler.
Aber es gibt zwischen diesen beiden Hälften eine ganz, ganz grosse Asymmetrie: Die rechte Hälfte hat Werte, Ziele, eine Strategie und spürt Dringlichkeit. Die linke Hälfte ist im Konsum-Modus und verspürt keinerlei Dringlichkeit. Die Freunde meines Sohnes, die typisch «Tel Aviv» sind, haben für das Wochenende der letzten Wahl einen Billigflug nach Zypern oder Kreta gebucht. Ich sagte: Und die Wahlen? Ihr fahrt doch nicht weg, ohne zu wählen? Ah bah, sagten sie, macht nichts. Diese Haltung finden Sie nicht auf der rechten Seite. Rechts gibt es eine echte Mobilisierung, eine kämpferische Haltung.
Kommt hinzu: Die dissidenten Stimmen in Israel sind marginalisiert. Die Brutalität des Diskurses, oft sogar schon die Stimme der Politiker lassen die Leute erstarren. Das erinnert mich an Mussolini. Das erklärt das Schweigen und die Auswanderung. Es gibt hierzulande keine Zensur, höchstens die Zensur durch Einschüchterung, die Delegitimierung der kritischen Stimmen. Wenn man Fernsehen und Radio verfolgt oder die grossen Zeitungen liest, mal abgesehen vom Klopapier Netanyahus, so gibt es abweichende Meinungen, aber sie sind unter dem Bleideckel des herrschenden faschistischen Diskurses.
Und ich will das noch in einen globaleren Kontext stellen. Von «Tel Aviv» aus gesehen gibt es absolut keine Dringlichkeit. Die Sicherheit Israels ist gewährleistet. Netanyahu klagt zwar Iran an, aber das ist ein Witz. Alle arabischen Staaten haben vor mehr als 20 Jahren schon einen Friedensplan vorgelegt, und kein arabischer Staat ist im Krieg mit Israel. Es gibt praktisch keine Attentate mehr. Wir leben auch in individueller Sicherheit. Der Terrorismus kann real werden, für den Moment ist er es nicht. Wirtschaftlicher Wohlstand: Israel ist ein reiches, leistungsfähiges Land, mit AAA bewertet in den internationalen Einschätzungen, ein Land, das Kapital, Technologie und Waffen in die ganze Welt exportiert. Und die internationale politische Situation ist nicht schlecht. Wir haben an öffentlichem Ansehen in vielen Ländern verloren, aber Israel ist nicht isoliert. Da ist Trump. Aber auch Europa ist Israel sehr gewogen, das ist nicht mehr das Europa von de Gaulle oder Chirac. Warum also sollte Monsieur oder Madame «Tel Aviv» von dem Gefühl beseelt sein, es müsse sich unbedingt etwas ändern? Im Unterschied zu den Massenbewegungen im Libanonkrieg oder bei der Intifada von 1987 lebt die gemässigte Hälfte Israels ruhig im Wohlstand und versucht im Übrigen, zu einem zweiten Pass zu kommen, denn man weiss nie…
Und es ist UNSERE Jugend, die Jugend der Mitte und des linken Lagers, die weggeht, obwohl die Situation materiell gut ist, aber sie ersticken, sie haben das Gefühl: Hier, in diesem Lande, stinkt’s. Die Ironie der Geschichte ist: Die Hauptstadt der israelischen und jüdischen Kultur ist – Berlin.
Nehmen wir diese Jugend, Ihren Sohn beispielsweise. Welche Ideen hat er bezüglich seiner Zukunft, der Zukunft seines Landes, seiner Kinder?
Die Jugend, und auch schon meine Generation, haben von der jüdischen Kultur und Identität etwas Entscheidendes verloren: die Dimension der Zukunft. Man denkt nicht an Übermorgen, man denkt an die Gegenwart. Man gestaltet den Alltag, die nahe Zukunft, nicht die ferne. Aber im kollektiven Unterbewussten sitzt ein Gefühl, dass es böse enden wird. Das ist nicht im öffentlichen Diskurs, wird auch unter Freunden selten gesagt, aber im kollektiven Unterbewussten der israelischen Gesellschaft steckt das Gefühl: Das kann nicht lange dauern.
Das scheint mir auch in der Tradition der religiösen Juden zu liegen: Gott wird uns bestrafen, weil wir in Sünde leben.
Ja, das ist meine Mutter! Die Rabbinerin. Sie sagte immer: Wenn wir so weiter machen, werden wir nicht würdig sein, auf dieser Erde zu bleiben. In einer gewissen jüdischen Tradition muss man sich das Recht, an einem Ort zu sein, verdienen durch sein Verhalten, damit das Land nicht «ausspeie», die es «unrein» machen. Das ist eine biblische Vorstellung (3. Mose 18.28). Säkular gesagt: Wenn es eine Chance geben soll, in diesem Land eines Tages mit unserer palästinensischen und arabischen Umgebung in Frieden zu leben, braucht es eine echte Kulturrevolution, eine Entkolonialisierung unseres gesamten Verhaltens, nicht nur der Abzug von ein paar hundert Siedlern. Das bedeutet: uns dem Orient zuzuwenden, statt uns als Bastion des Okzidents gegen die Region zu verstehen. Wir sind eine kleine Gemeinschaft, die das Recht erbitten und verdienen muss, in einem Land zu leben, das sie gestohlen und erobert hat.
Den heutigen Zionismus der israelischen Führung kann man als nationalistische und kolonialistische Bewegung verstehen. Aber der anfängliche Zionismus, bei Herzl, hatte diese Dimension der Eroberung doch nicht.
Da bin ich gar nicht einverstanden. Der Zionismus ist eine koloniale Bewegung, entstanden zur Zeit des Kolonialismus, mit den Werten des Kolonialismus, mit der Naivität des Kolonialismus: Wir zivilisieren die Welt. Der Slogan, den man in Schulen noch immer verbreitet, ein Volk ohne Land in einem Land ohne Volk, das heisst doch: Die Einheimischen wurden betrachtet wie die Kamele oder die Palmen: als Teil der Landschaft. Wie in Algerien, wie in Schwarzafrika hat man die Einheimischen nicht nach ihrer Meinung gefragt. Man hat sich hier niedergelassen, um reale Probleme zu lösen, hier zum Beispiel das Problem des Antisemitismus, aber mittels einer kolonialen Methode.
Trotzdem muss es eine Wende gegeben haben. Wenn ich Leute meines Alters treffe, sagen mir viele, in unserer Jugend war das Projekt Israel etwas völlig anderes als heute.
Zweifellos. Es gab eine doppelte Wende. 1967, zu Beginn des Krieges, haben die Juden in aller Welt und in Israel gepanikt. Eine meiner Tanten hat ihre Kinder gepackt und floh ausser Landes. Sie sagte: Noch einmal die Shoah – nein! Und dann kam dieser Sieg! Der Generalstab, der die Kräfteverhältnisse kannte, war nicht erstaunt. Aber von den anderen, auch von nicht gläubigen Menschen, wurde dieser Sieg als ein Wunder erlebt. Das hat einer bereits existierenden mystischen, messianischen Tendenz – ich kenne sie aus der Talmudschule, in der ich studiert habe – erlaubt, die neue politische Avantgarde zu werden. Das war die Bewegung Gusch Emunim, die im Zentrum der neuen Welle der Kolonialisierung stand. Es entstand aber auch eine ganze Ideologie. Sogar nicht religiöse Politiker sagten, man lebe am Vorabend vor der Ankunft des Messias. Und das hat eine Machtbesessenheit geschaffen, eine Hybris, in der wir bis heute leben. Und diese Machtbesessenheit, das geht immer schlecht aus, zuletzt rennst du dir den Kopf an der Mauer ein.
Und es gab noch eine Weichenstellung: Die Ermordung Yitzhak Rabins 1995. Ich glaube, im Unterschied zu vielen meiner Freunde, dass Rabin ernsthaft an die Notwendigkeit eines Kompromisses glaubte. Im Unterschied zu Netanyahu gehörte Rabin zur Generation der Dekolonialisierung, er hatte im Kopf, dass die Kolonialisierung überall in der Welt zu Ende ging, besser also, sie zu gestalten und den bestmöglichen Kompromiss auszuhandeln. Das bedeutete: Oslo-Friedens-Prozess, aber auch Konflikt mit der ultranationalistischen, kolonialistischen und messianischen Tendenz. Das Ende war die Ermordung Rabins. Das war wirklich eine Weichenstellung: entweder diese oder die andere Richtung. Ich glaube, damals bestand eine echte Wahlmöglichkeit, und die Rechte glaubte das auch, denn sie ist kompromisslos bis ans Ende gegangen.
Mit der Ermordung eines Mannes hat sich alles verändert?
Es sind zwei Faktoren: Die Ermordung dieses Mannes und die Person seines Nachfolgers. Die endgültige Ermordung Rabins war Shimon Peres. Shimon Peres, der am Tage nach der Ermordung Rabins, als sein Blut noch warm war, sagte: Es geht jetzt nicht primär um die Versöhnung mit den Palästinensern, sondern um die nationale Versöhnung. Und das Land wurde vollgepflastert mit Plakaten: Nationale Versöhnung! Nationale Versöhnung! Das heisst: Das Verbrechen hat sich gelohnt. Die Erpressung der Rechten – ihr macht, was wir sagen, oder es gibt Bürgerkrieg – wurde akzeptiert.
Netanyahu hat kürzlich wieder von Palästina gesprochen, als er sagte, Israel werde einen Teil oder die Gesamtheit der Gebiete annektieren.
Netanyahu verfolgt konsequent das Programm, «Erez Israel», also das ganze Mandatsgebiet, zu israelischem Staatsgebiet zu machen. Das geschieht nicht mittels parlamentarischer Beschlüsse, sondern vor Ort: durch die Kolonialisierung, und nun auch durch die angedrohte Annektierung der Zone C, die immerhin 40 Prozent von Transjordanien ausmacht. Das liegt in der Kontinuität israelischer Politik seit Ben Gurion. Das Vorgehen ist intelligent: Man geht einen Schritt voran, man provoziert und beobachtet dann erst mal, was geschieht. Geschieht nichts, kommt der nächste Schritt, gibt es allzu heftige Reaktionen, etwa allzu grosse Konflikte mit der internationalen Meinung oder mit Aegypten, welche man als Vermittler und Partner braucht, geht man wieder etwas zurück. Netanjahu hat im Wahlkampf diese Idee lanciert, dass man die Zone C annektieren könnte. Ich denke nicht, dass er das tun wird, ich denke, er wird die Herrschaft Israels über diese Zonen verstärken. Mit einer formellen Annektierung würde er riskieren, eine internationale Reaktion herauszufordern.
Netanyahus Politik ist erfolgreich: das Land ist ruhig, die Ökonomie geht gut. Den Status quo aufrecht zu erhalten, ist wohl die einfachste Lösung, alle anderen Lösungen bedeuten: Revolten, Schlägereien, Konflikte mit den einen oder den andern.
Einverstanden. Netanyahu macht, was Henry Kissinger ihn gelernt hat: Man löst Krisen nicht, man verwaltet sie. Was aber die sozialen Erfolge betrifft – nun ja: Israel ist ein reiches Land, allerdings mit 30 Prozent israelischen Kindern, die unter der Armutsschwelle leben… Israel ist von allen industrialisierten Ländern das Land, in dem der Graben zwischen reich und arm der grösste ist. Es gibt ein armes Israel, wir haben unsere Vorstädte, aber nicht am Rande der Städte wie in Europa, sondern in 40 Kilometer Entfernung von Tel Aviv, von Jerusalem. Dort gibt es Arme, die zwar keinen Hunger leiden, aber arm sind. Beispielsweise essen sie, wie ich kürzlich in einem Bericht der israelischen Sozialversicherung gelesen habe, nur einmal pro Woche Fleisch.
Sie haben die Stabilität des Status quo beschrieben und gleichzeitig gesagt: Das kann nicht gut gehen, man wird gegen die Mauer knallen. Was heisst das konkret, gegen die Mauer rennen?
Da ist zunächst eine mathematische Realität: Wir sind ungefähr 7 Millionen israelische Juden, und um uns herum sind ungefähr 200 Millionen Araber und anderthalb Milliarden Moslems im weiteren Umkreis. Entweder wir integrieren uns oder wir sind in der Konfrontation. Und dann die Entwicklungen der Dinge. Israel wird das Atom-Monopol nicht ewig haben, die Kräfteverhältnisse werden sich ändern, die arabische Welt modernisiert sich, langsam zwar, aber doch, es gibt heute eine gebildete Jugend, die es früher nicht gab. Dieses öfter zitierte Bild von Ehud Barack: Israel als Villa im Dschungel, dieses Bild ist zweideutig. Das heisst einerseits: Wir sind die Zivilisation, der Fortschritt, der Luxus, um uns sind Wildnis und wilde Tiere. Aber andererseits: Ich kenne in der Geschichte der Menschheit keine Villa, die im Dschungel ewig gehalten hat. Selbst mit einer 9 Meter hohen Mauer, selbst wenn man von Zeit zu Zeit die Umgebung in Brand steckt – das Schicksal der Villa im Dschungel ist es zu verschwinden.
Ich mache zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung. Vor einigen Jahren hat das Alternative Informationszentrum den Preis für Menschenrechte der französischen Republik erhalten. Ich hatte die Ehre, von meinen Freunden nach Paris geschickt zu werden, um dort den Preis aus den Händen der damaligen Justizministerin Christiane Taubirat entgegenzunehmen. Ich durfte fünf Personen zur Preisübergabe einladen. Ich zerbrach mir den Kopf. Wenn ich von meinen hundert Freunden in Paris fünf einlade, sprechen danach die anderen 95 nicht mehr mit mir. Da kam mir in den Sinn, dass ich in Paris drei Freunde habe, die Botschafter sind. Das ist doch schick. Hael Al Fahoum ist Botschafter Palästinas in Frankreich, Elias Sanbar Botschafter Palästinas bei der UNESCO, und Leila Shahid war damals Botschafterin Palästinas in Brüssel bei der Europäischen Union.
Blieben mir noch zwei Einladungen: Die habe ich an zwei meiner Enkel gegeben. Ich habe mit ihrer Mutter ein ernstes Wort geredet: Du sorgst dafür, dass sie gut angezogen sind und sich anständig benehmen, es geht nicht an ein Fest in Jerusalem, sondern nach Paris. Sie haben sich trotzdem wie zwei israelische Jungs benommen. Mitten in der Feier zupfte mein Enkel die Justizministerin Taubirat am Ärmel und fragte laut: Wann gibt’s denn Essen? Er hatte ein Buffet gesehen im Hintergrund. Ich habe meinem Enkel dann die grosse, schwere Bronze-Medaille in die Hand gedrückt. Er hat sie sofort mit Krach fallen lassen. Tags darauf hat mich der palästinensische Botschafter in Paris seinerseits zum Mittagessen eingeladen. Kleine Runde mit Freunden von mir: sympa, intim, gutes Essen und Trinken. Aber es gibt nix kostenlos: Dingdingding, Reden! Der Botschafter erhebt sich, legt mir die Hand auf die Schulter, und legt los: Im Namen des palästinensischen Volkes, im Namen von Präsident Mahmud Abbas, in seinem eigenen Namen wolle er sich bedanken beim Informationszentrum und bei mir für das, was wir für das palästinensische Volk getan hätten – und da, ich hatte schon ziemlich getrunken, da hab ich ihn an der Hand gepackt und gesagt: Halt, Stopp! Er betrachtete mich überrascht ob der ungehörigen Störung, verstummte. Ich sagte: Erstens müssen und werden die Palästinenser sich selbst befreien. Auch täuschst du dich über meine Motivation. Ich hab’s nicht für die Palästinenser getan. Erinnerst du dich an die beiden Kids gestern an der Preisverleihung? Für sie habe ich es getan, damit sie eine Chance haben, in dieser Region zu leben, damit diese Erde sie nicht «ausspeie». Sie haben dank mir zwar einen europäischen Pass und sie haben Französisch gelernt, aber wenn sie sich in Frankreich oder anderswo niederlassen, werden sie entwurzelt sein. Ihre Wurzeln sind hier, und dafür, dass sie hier leben können, engagiere ich mich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Die Interne Opposition geht mit Netanjahus Israel ebenso streng um wie wir von aussen: Zum Glück für Israel …
Ich danke Herrn Warschawski für seine klaren Worte und dem Infosperber, dass er sich hier äussern konnte, was nicht selbstverständlich ist. Die unglaubliche Kampagne der Zionisten, die solche Gedanken und deren Verbreitung auf dem ganzen Planeten verbieten und strafrechtlich verfolgen wollen, würde solche Stimmen wohl zum Schweigen bringen. Zum Glück gibt es immer noch Juden und Jüdinnen, die sich dem widersetzen. Es ist wichtig, dass es Orte gibt, wo dies möglich bleibt, denn die Mainstream Medien haben sich den Zionisten schon lange unterworfen.
Der gute, alte Genosse Warschawski, er vertritt noch immer und hartnäckig etwas was vor Jahrzehnten einmal als «Zweistaatenlösung» propagiert wurde. Dabei ist eine solche angesichts der stetigen Siedlungs- und Annexionspolitik der israelischen Regierungen heute höchsten noch als «Bantustanlösung» denkbar und eine solche kann er als Friedensaktivist sicher nicht wollen.
Eine interessante Analyse zur eben erfolgten Wahl und damit der Stimmung im Land liefert sein israelischer Kollege David Sheen: http://davidsheen.com/elections/