Der Trüffelkellner, wir Schweizer und sein Deutsch
12. Februar 2020
In diesen Tagen werden Menschen – die ihres Gesichtes oder ihrer Hygienemaske wegen für Chines*innen gehalten werden – zunehmend misstrauischer gemustert. Medien haben schon mehrmals über eine neue Epidemie in der fernen Millionenstadt Wuhan berichtet. Auch wir schauen ein paar Mal Richtung Nebentisch, wo ein «Chinese» ohne Mundschutz immer wieder hustet. In dem Zermatter Restaurant, in dem uns eine junge Frau am Empfangsdeck freundlich begrüsst und den Weg zu unseren reservierten Plätzen weist. Immer noch ärgere ich mich darüber, dass man seit einiger Zeit den Tisch nicht mehr selber aussuchen darf, sondern platziert wird. Und dann diese Unsitte mit den zwei Schichten. (Mein Grossvater arbeitete drei Schichten. Früh. Spät. Nacht.) Per Mail ist mir allerdings, «ausnahmsweise», zugestanden worden, wir müssten den Tisch nicht um 20.30 Uhr räumen. Open end. Wir sind uns Konsum ohne Beschränkungen gewohnt. Volle Gestelle. Stundenlanges Hocken am Beizentisch. Die Empfangsdame wünscht uns einen schönen Abend. In Englisch. NiceBeautifulPleasantMarvelousWonderful. Ich höre nicht richtig zu. Kein einziges deutsches Wort. Sind wir noch in der Schweiz?
«Drei Mal Trüffel?» Vergewissert sich der Kellner, der ein wenig an einen müden Roberto Benigni (La vita è bella) erinnert und am Tisch mit den Italiener*innen – die natürlich auch aus dem Tessin kommen könnten – deutlich lockerer parliert als mit uns. Aber er hat auch für uns «Grüezeni» zwischen den vielen und schnellen Gängen zur Theke, dem Servieren der schweren Hot Stones, dem Abräumen der Fonduecaquelons immer ein heiteres Lächeln und Augenzwinkern übrig. «Truffes.» Korrigieren wir ihn streng. «Das heisst Truffes.» Wir denken bei Trüffeln an Pilze, deren Geschmack ich als penetrant erinnere. Er versteht nicht, was wir meinen. Wiederholt geduldig: «Drei Mal Schokoladentrüffel, einmal Schokoladenfondue.» So hat es der Chef schliesslich in die Karte geschrieben. «Schokoladentrüffel.» Mit oder ohne «Glace mit Vodka Absolut Raspberri». Auch der kann nicht Deutsch. Befinden die drei Lehrer*innen und ein Ehemaliger an unserem Tisch. Der nächtliche Blick in den Duden ergibt: «Die deutsche Rechtschreibung» steht aufseiten von Kellner und Chef. Das Wort «Truffe» finde ich da gar nicht. Nur «Trüffel». Für Pilze oder, eben, «kugelförmige Praline aus schokoladenartiger, oft mit Rum aromatisierter u. in Kakaopulver gewälzter Masse». Sogar Wikipedia lässt uns im Stich: «Schokoladentrüffel, in der Schweiz Truffes», heisst es da, «aus dem Französischen für Trüffel». Obwohl wir uns normalerweise nicht auf den Französisch-Dictionnaire von Langenscheidt beziehen und am ersten August keine Schweizer Fahnen hissen – jetzt wollen wir Üsserschwyzer Patriot*innen, dass diese Pralinen auch im multikulturellen Zermatt gut Deutsch «Truffes» genannt werden. Auch wenn alle Welt nur Trüffeln kennt. Schliesslich verkauft der Sprüngli auch keine «Trüffel du Jour».
Der könne keinen graden deutschen Satz. Der Walliser Benigni. Lästern wir. Und sei sicher schon lange in der Schweiz. Jahrzehnte vermutlich. Wir hätten längst. Als erstes die Sprache. Schlüssel der Integration. Grad im Service. Kein Berufsstolz. Wahrscheinlich ein Portugiese. Eine Vermutung ohne Risiko. Von den 5430 in Zermatt Lebenden sind neben den 3306 Schweizer*innen gemäss Einwohnerstatistik des Jahres 2019 die 944 Portugies*innen die weitaus grösste Gruppe. Und über den Zermatter Vorort beziehungsweise Parkplatz Täsch schreibt swissinfo.ch schon 2012: «Ein Schweizer Dorf spricht Portugiesisch. In Täsch bei Zermatt (Wallis) leben mehr Ausländer als Schweizer. Die meisten von ihnen kommen aus Portugal.» Beim Bezahlen bestätigt der Trüffelkellner unsere Vorurteile. Ein Portugiese. Schon bald dreissig Jahre komme er in die Schweiz. Bald, lacht er, sei Schluss. In zwei Jahren gehe er in Rente. «Und dann zurück nach ‹bom› Portugal?» Wollen wir wissen. Die Antwort verrät Zerrissenheit oder Weltläufigkeit. Ein halbes Jahr Portugal. Ein halbes Jahr Zermatt. Vielleicht hat er an beiden Orten eine Familie. Oder wenigstens eine Frau. Vielleicht sogar einen Mann. Fantasiere ich. Deutsch wird er in diesem Leben, vermute ich, nicht mehr wirklich lernen. Wofür wird er bezahlt – für korrekte Sätze, vielfältigen Wortschatz, fundierte Argumentation zu BörsenhochLiteraturFlüchtlingspolitikDigitalisierungKlimawandel? Oder für schnellen, für gefälligen Service? Mit ein paar Brocken Deutsch und zweidrei träfen Walliser Ausdrücken?
Ich stelle mir vor, ich käme mit ihm ins Gespräch. Draussen bei einer Zigarette. Obwohl ich nie Zigaretten geraucht und für mich als ehemaligen Pfeifenraucher die Rauchpausen immer zu kurz waren. Nicht grad ein «Auf eine Zigarette»-Gespräch, wie es der Chefredaktor Giovanni di Lorenzo von der Zeit und sein Herausgeber Helmut Schmidt während anderthalb Jahren jede Woche geführt haben – «eine einzigartige Mischung aus Politischem, Privatem und erlebter Geschichte: von Schmidts Wut auf Investmentbanker über den Walzer, den er einst mit Gracia Patricia tanzte, bis hin zu seiner Schulzeit mit Loki», bewirbt der KiWi-Verlag das entsprechende Buch. Ich fürchte, Benigni, bald Roberto, und ich würden uns nicht immer ganz verstehen. Portugiesisch kann ich nicht. Mein Französisch ist schlechter, mein Englisch ein anderes als seins. Und so bliebe uns nur das Deutsch. Das kann er viel besser als ich Italienisch. Wahrscheinlich würde es nicht bei einer Zigarette bleiben, und vielleicht würde der Chef ihn schon mal mit einem Blick ermahnen, es gäbe noch andere Gäste. Aber meine Frage – «Haben Sie nie das Bedürfnis gehabt, richtig Deutsch zu lernen?» –, sie würde ihn, vermutlich, aufwühlen. Sein Redefluss kaum mehr zu stoppen sein.
Nur für ein paar Jahre. Habe er damals zu seiner Frau gesagt. Gutes Geld verdienen. (Das Gastgewerbe gehört in der Schweiz zu den Branchen mit den tiefsten Löhnen, für Ungelernte wie Roberto sowieso.) Für ein eigenes Haus. Ein grösseres Auto. Gute Ausbildung für die Kinder. Schöne Kleider für die Frau. Rücklagen fürs Alter. «Das habe ich auch geschafft.» Er sieht mich stolz an. Aber er habe viel gearbeitet dafür. Zuweilen zwei Schichten im Tag. Manchmal habe er noch oben am Skilift oder im Bergrestaurant des Kollegen ausgeholfen. Jeden Tag mit der Frau telefoniert. Wann hätte er da noch Deutsch? Und die Kollegen – alles Portugiesen. Zuerst sei er ja im Unterwallis gewesen. Da habe er etwas Französisch gelernt. Und Englisch. Immer habe es geheissen, Englisch sei das Wichtigste. Und überhaupt – diese Sprachkurse, immer am Abend, dann Arbeit, vielviel Arbeit. Aber er habe sich vorgenommen, wenn die Frau mit den Kindern komme, dann lerne er richtig Deutsch. Er wisse ja, es sei wichtig. Für ihn. Nicht für die CEOs der multinationalen Konzerne. Die kommen mit Englisch überallhin. Und in Zollikon, erzählt S., gäbe es Kinder, die von den Lehrpersonen verlangten, sie sollten ihnen den Stoff in Englisch erklären. Die Frau – er würde wollen, dass ich ihn verstünde – habe schon alles vorbereitet, die Kinder den Schulkolleg*innen erzählt, sie gingen jetzt dann in die Schweiz, nicht nur in die Ferien, für immer. Da sei ihre Mutter krank geworden, schwer krank, da sei sie natürlich dageblieben, habe die Mutter zu sich; bei ihnen, er schaut mich mit traurigen Augen an, bei ihnen würde man die eigenen Eltern nie in ein Heim – stecken, sagt er, wie hier in der Schweiz. Jetzt brauchten sie sein Geld erst recht. Er fliege jeden Monat für ein paar Tage nach Hause, fliegen komme am billigsten, und in den Ferien komme die Frau mit den Kindern nach Zermatt, dann übernehme ihr Bruder und dessen Frau die Pflege der Mutter.
So stelle ich mir das vor. Ohne wirklich zu wissen, wie es einem portugiesischen Kellner in Zermatt so geht. Warum er nicht Deutsch lernt. Denkt, er würde bald zurückgehen. Isabel Bartal, die portugiesische Sozialwissenschaftlerin – die in den Achtzigerjahren selbst migrierte, in der Schweiz zuerst in der Textilbranche, dann im Gastgewerbe arbeitete – ärgert sich, wie sie der Zeit verrät, «über die ältere Generation, die nicht akzeptieren will, dass sie gekommen ist, um zu bleiben» (Zeit, 23.1.2014). Kann ich nachfühlen, wie es ist, wenn einer nur als Arbeitskraft kommt? Nicht als Mensch. Weil er keine neue Heimat sucht. Nur Geld verdienen will. Was ihm hinterher vorgeworfen wird. Von denen, die nur Arbeitskräfte suchen. Keine Menschen, die sich hier breit machen. Oder wenn, sich so integrieren, dass man gar nicht merkt, dass sie da sind. Weil sie sich verhalten wie Muster-Schweizer*innen. «Die portugiesischen Arbeiter sollen sich plötzlich wie eine gebildete Schweizer Mittelschicht verhalten. Aber wer sich mit zwei Jobs über Wasser halten muss, der hat nicht noch Zeit, um seine Kinder am Waldtag des Kindergartens zu begleiten oder mit ihnen am Mittwochnachmittag zu basteln» (Isabel Bartal, Zeit). Oder korrektes Deutsch zu lernen. Nachdenklich würde ich an meinen Platz zurückgehen. Mehr als zehn Prozent Tip eingeben. Dann würden wir uns mit einem «Bis im nächsten Februar» verabschieden. Und Roberto würde uns nachwinken.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ein einfühlsamer Artikel, danke!
Grund für diese Rückmeldung (deutsch! Anstelle von „Feedback“!) ist aber die dumme Platzierung der Werbung. Ich verstehe, dass auch „Infosperber“ Werbegeld braucht. Aber bitte schaut doch, dass diese irgendwo, nur nicht am Abschnittende dort, wo der Artikel auch fertig sein könnte, erscheinen. Hier und schon bei mehreren Artikeln merkte ich nur zufällig, dass es nach der Werbung weitergeht/-ginge. Darum lieber mitten in einem Satz, auch wenns dann vielleicht andere nervt …
Einewääg vielen Dank für euren Einsatz und die guten Texte!
Das ist typisch für ‹Deutsch-Schweizer’…
Bitte sehr, in der Schweiz wird auch Französisch, Italienisch und Rumantsch gesprochen, aber Sie gehören zu den ‹typischen Deutsch-Schweizern› die so tun, also spreche die ganze Schweiz ‹Deutsch› in der Form genau Ihres Dialektes und haben ‹trotzdem Sie Schweizer sind› nicht die anderen Sprachen auf Konversationsniveau gelernt.
Ich habe als Deutscher in der Schweiz abgelehnt, ‹Schwietzerdüütsch› zu lernen, weil das erste Jahr war ich in Zürich und ich habe schnell gelernt, dass dort ‹Züridüütsch› gesprochen wird und dies im Rest der Schweiz als sehr uncharmant empfunden wird. Lerne aber jetzt Französisch und Italienisch.
Mir fällt ein:
Ein indischer Kollege und israelischer Klavierlehrer lernen Deutsch, sprechen es inzwischen mehr oder weniger, aber tun sich schwer, weil die Umgebung nur Schwietzerdüütsch spricht.
Eine Kellnerin aus Syrien sprich mind. Assyrsche, Arabisch und gutes (Hoch-)Deutsch, kommt im Urlaub in Hamburg super zurecht, in der Zentralschweiz ist die Verständigung aber nach Jahren nimmer noch nicht leicht.
Schaun› Sie, ich spreche Middelfräng’isch wie Loddar Maddäus, wenn ich Dialekt spreche versteht mich die Kollegin aus Berlin oder Hamburg nicht; ich komme mit Dialekten klar, bei Platt oder Kölsch wird es schwierig.
Ich kenne Deutsch-Schweizer die sagen, sie tun sich mit Walliser-Deutsch schwer, mit Portugiesisch erreicht der Kellner mehr Kunden; Portugiesen sprechen heute meist auch Englisch. Obrigado!
Sprachprobleme hin oder her, Hauptsache ist, wer das Trinkgeld gibt. Der ist immer oben.