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Jugendliche Kenyaner im Flüchtlingslager ohne Perspektive: Neujahrskarte von Bundesrat Alain Berset © EDI

2019: Das Elend der Migranten vor Ort lindern

Urs P. Gasche /  Die explodierende Bevölkerung Afrikas lassen wir mit einer egoistischen (Wirtschafts-)Politik und einer Doppelmoral in Existenznot.

Millionen Afrikaner riskieren ihr Leben, um nach Europa zu gelangen. Europa versucht sich abzuschotten, die Fremden vor der Grenze abzuschrecken, mit einem finanziellen Zückerchen zur Rückreise zu bewegen oder sie mit Gewalt auszuschaffen. Trotzdem wird sich der Migrationsdruck in Zukunft verstärken und zu einer der grössten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Denn die Bevölkerung Afrikas wird sich laut Prognosen in den nächsten dreissig Jahren von heute 1,3 Milliarden auf 2,6 Milliarden verdoppeln.

Die Migranten nicht zu Migranten werden lassen

«Es ist die Politik der Industriestaaten, welche im Heimatland der Migranten Armut und Elend schafft», sagt die linke Bundestagsabgeordnete Sarah Wagenknecht. Es sind zwar nicht nur die Industriestaaten und Grosskonzerne schuld, aber diese haben einen entscheidenden Einfluss. Sie wollen in Afrika investieren, um höhere Renditen zu erzielen als bei uns. Sie spielen Regierungen gegeneinander aus, um von möglichst tiefen Sozial- und Umweltstandards zu profitieren. Auch Rohstoffe wollen sie seit Jahrzehnten aus Afrika möglichst billig importieren.
Die Theorie, dass am Schluss auch die Ärmsten vom Handel profitieren, hat sich nicht bewahrheitet. 70 Prozent der extrem Armen in Afrika leben ausgerechnet in Ländern mit viel Erdöl, Erdgas oder Mineralien wie Gold, Silber, Uran und andern Erzen.
Von den über achtzig Millionen Einwohnern der Demokratischen Republik Kongo sind sogar 80 Prozent extrem arm. Sie überleben mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag. Westliche Regierungen und Konzerne paktieren mit dem totalitären politischen Regime. Sie schüren auch interne Konflikte um die Rohstoff-Regionen. Dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank geht es in erster Linie darum, dass der Kongo Schulden gegenüber dem Ausland bedienen kann, ein «günstiges Investitionsklima» schafft und das Importgeschäft nicht behindert.
Hinzu kommt die Veränderung des Klimas: Die Folgen der raschen Erderwärmung, für die in erster Linie die reichen Industriestaaten verantwortlich sind, werden in Afrika stärker und schneller spürbar als in Europa. Auch deshalb wird die Zahl der Migranten steigen.

Über 2200 Migranten sind im abgelaufenen Jahr im Mittelmeer ertrunken. Ein unhaltbarer Zustand, der ungleich weniger Schlagzeilen macht und weniger Aktivismus auslöst als etwa die fünf Ermordeten des Attentats Mitte Dezember in Strassburg.

Diebstahl und Ausbeutung

Eine wichtige Nahrungs- und Existenzgrundlage ist in manchen Ländern Afrikas der Fischfang. Doch mit modernster Technik und riesigen Fangflotten fischen Europäer, Japaner und Chinesen Afrikas Küsten leer und rauben der lokalen Bevölkerung die Lebensgrundlage – in manchen Küstengewässern auch illegal.

Unter dem Titel «Diebstahl auf hoher See» berichtete der Tages-Anzeiger: «Sie dezimieren die Fischbestände und ruinieren lokale Fischer – von denen sich viele auf den Weg nach Europa machen.»

Europa und auch aussereuropäische Industriestaaten importieren Kupfer, Gold, Uran und andere Rohstoffe im Wisssen, dass sie unter menschenunwürdigen Bedingungen abgebaut und gefördert werden. In den Industriestaaten profitieren Konsumentinnen und Konsumenten von billigen Computern, Handys, Kleidern und tropischen Früchten. Sie leisten sich einen rohstoffverschleissenden Wegwerfkonsum.
Meist sind sich diese Konsumierenden nicht bewusst, was sie anrichten. Denn die anbietenden Konzerne verschweigen der Käuferschaft wenn immer möglich die skandalösen Arbeitsbedingungen, die in den Herstellungsländern herrschen, und die gravierenden Umweltschäden, die sie dort verursachen. Handy-Hersteller verheimlichen die Produktionskette ihrer Produkte. Sie sind nur ein Beispiel unter vielen.

Unlauteres Dumping und ungleiche Behandlung

Die reichen Länder überschwemmen Afrika mit Agrarprodukten, deren Herstellung sie in ihren eigenen Ländern mit Milliarden subventionieren. Gleichzeitig verbieten Weltbank und Weltwährungsfonds den armen Ländern, ihre lokale Produktion gegen die hoch subventionierten Importe zu schützen. Die OECD berechnete die Stützungsleistungen für Landwirtschaftsbetriebe der reichen Industriestaaten im Jahr 2013 auf 258 Milliarden Euro. «Das europäische Subventionsvieh frisst den Hungernden im Süden das Essen weg», konstatierte NZZ-Auslandredaktor Andres Wysling.
Von Subventionen oder garantierten Preisen wie in Europa können die Kaffee- und Kakaobauern oder Früchteproduzenten in Afrika nur träumen. Als es beispielsweise das internationale Kaffeekartell noch gab, waren die Preise der Produzenten zwar immer noch schwankend, aber deutlich höher. Doch das Kartell brach Ende der 1980er Jahre unter dem Druck der USA und Europa zusammen. Seither können wir Kaffee billiger trinken.
Viele der fruchtbarsten Regionen Afrikas werden von Konzernen und Investmentfonds, in welche Pensionskassen und Lebensversicherungen investieren, geraubt – gekauft, geleased oder gepachtet. Nicht etwa, um Nahrungsmittel für die Bevölkerungen Afrikas rationeller und produktiver herzustellen, sondern um Futtermittel für die Fleischproduktion und Agrartreibstoffe für die reichen Länder zu produzieren.

Das wirft grundsätzliche Fragen auf:

  1. Warum importieren wir so viele Futtermittel und subventionieren bei uns die Fleischproduktion sowie den Fleischexport? Der hohe Fleischkonsum beeinträchtigt die Produktion von Grundnahrungsmitteln in Afrika.
  2. Ist es ethisch vertretbar, nur unseren eigenen Bauern Einkommen und Preise zu garantieren, jedoch Bauern in armen Ländern der Willkür von spekulativen, stark schwankenden Weltmarkt- und Börsenpreisen von Mais, Getreide, Reis, Palmöl, Soja, Kaffee, Kakao, südländischen Früchten oder Baumwolle auszuliefern? Ist diese unterschiedliche Behandlung nicht sogar rassistisch?
  3. Mit welchem Recht überschwemmen wir arme Länder mit hoch subventionierten landwirtschaftlichen Überschüssen, treiben mit dieser unfairen Dumpingpolitik Millionen von Bauern in den Ruin – und zur Migration – und zwingen viele Länder, einen schönen Teil ihrer Eigenversorgung aufzugeben?

«Wir haben lange ungestört vom Elend anderer Menschen profitiert, weil sie weit weg waren. Wir konnten sie indirekt nach Strich und Faden ausbeuten und trotzdem reizende Menschen sein in Zürich oder Wien, die mit all dem nichts zu tun hatten. Aber inzwischen kommen die Menschen, mit denen wir das gemacht haben, zu uns, und wir mögen das komischerweise nicht.»
Philipp Blom, Historiker und Journalist, Hamburg

Auch Kapital und Fachkräfte fliessen aus Afrika zu den Reichen

Berichte über Entwicklungshilfe und Investitionen in Afrika täuschen darüber hinweg, dass die reichen Länder viel mehr Kapital in Form von Gewinnen und Fluchtgeldern aus Afrika abziehen. Die UN-Wirtschaftskommission für Afrika schätzt den Netto-Kapitalabfluss aus Afrika auf jährlich über 50 Milliarden Dollar. Das ist bedeutend mehr als an Entwicklungshilfe nach Afrika fliesst.
Fluchtgelder korrupter Potentaten würden den geringsten Teil ausmachen. Am meisten Kapital verlasse den Kontinent in Form meist versteckter Gewinne. Durch Steuertricks internationaler Konzerne entgehen afrikanischen Ländern nach Angaben des Weltwährungsfonds jährlich 175 Milliarden Dollar.
Reichen Oberschichten helfen wir, ihre durch Korruption und Ausbeutung erlangten Vermögen diskret auf unsere Banken zu verschieben und vor dem Fiskus und der Öffentlichkeit zu verstecken.

Nur wenn es sich um «ausgewiesene Fachkräfte» handelt, sind Migranten aus Afrika (und andern Ländern) in Europa weiterhin willkommen. Dies führt zu einem «Brain Drain» in die Industriestaaten, zu einem Abgang von Ausgebildeten aus den Herkunftsländern. Mit abenteuerlichen statistischen Verrenkungen wird zuweilen versucht, den «Brain Drain» als positiv für Afrika darzustellen.

Verweigerte Familienplanung

Der Migrationsdruck aus Afrika wird noch gewaltig zunehmen, wenn sich die dortige Bevölkerung gemäss Prognosen bis in dreissig Jahren auf 2,6 Milliarden verdoppelt. Siehe «Afrika wächst – und die Armut nimmt zu».


Die weltweite Bevölkerungsentwicklung bis ins Jahr 2100. Quelle: MeliesArt. Grössere Auflösung hier.

Zwar ist das Recht auf selbstbestimmte Familienplanung in zahlreichen internationalen Vereinbarungen und Menschenrechtsabkommen festgeschrieben. Es ist «nahezu universell als unantastbares Menschenrecht anerkannt», sagt Werner Haug vom UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA). Doch dieses Recht wird unzähligen Frauen nicht gewährt.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO haben in Entwicklungsländern über 200 Millionen Frauen und Paare keinen Zugang zu Mitteln der Familienplanung, obwohl sie ihre Kinderzahl beschränken möchten. Diesen Paaren wird die sexuelle Selbstbestimmung in Form von Aufklärung und guter Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln vorenthalten. Jährlich werden 80 Millionen Frauen gegen ihren Willen schwanger.

Evangelikale Kirchen, die sich in Afrika stark ausgebreitet haben, verurteilen nicht nur Abtreibungen, sondern verteufeln häufig, gleich wie die katholische Kirche, auch die Verhütungsmittel. Sie verurteilen das «Family Planning» als «unchristlich».

Es ist zwar eine Binsenwahrheit, dass mehr materielle Sicherheit und Wohlstand die Kinderzahl senken. Doch das ist kein Grund, um denjenigen 80 Millionen unter den Ärmsten, welche Verhütungsmöglichkeiten wünschen, diese zu verweigern. Seit die Trump-Administration, um den evangelikalen Kirchen und ihren Gläubigen zu hofieren, allen Organisationen Geld verweigert, die auch Familienplanung auf dem Programm haben, müssten Schweizer und europäische Regierungen und Hilfswerke in die Bresche springen und dem Recht auf Familienplanung das nötige Gewicht geben.

Kategorischer Imperativ

Die allermeisten Menschen möchten in der vertrauten Umgebung und Kultur bleiben, in der sie aufgewachsen sind. Nur aus Existenznot machen sich Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen auf den risikoreichen Weg in Richtung Europa – so wie früher aus den gleichen Gründen mehrere Millionen Europäer keine andere Zukunft als eine in Amerika gesehen hatten. Aus Deutschland wanderten über zwei Millionen allein in die USA aus, aus der Schweiz rund 300’000.

Man kann die Probleme der Migration selbst mit besten Vorsätzen im Jahr 2019 nicht lösen. Aber die reichen Länder sollten entscheidende Schritte einleiten, um das Elend und die Not zu lindern, welche die Menschen zur Migration drängen.
Deshalb ein frommer Wunsch an Politiker und Politikerinnen, die häufig und gerne über Probleme der Migration reden, für das Jahr 2019: Beschäftigt euch künftig vor allem mit diesen entscheidenen Schritten und redet vor allem darüber.

Europa ist für die Armut und das Elend in Afrika mitverantwortlich. Frei nach dem Kategorischen Imperativ des Philosophen Immanuel Kant muss unser Lebensstil so sein, dass alle Menschen auf unserem Planeten in absehbarer Zeit so leben können wie wir. Das geht nur, wenn sich die Reichsten von ihrer Wachstums-, Konsum-, Wegwerf- und Ausbeutungspolitik verabschieden.

Unter dem Eindruck des Weltkriegs und des Faschismus hat die Uno 1948 die universelle Deklaration der Menschenrechte verabschiedet: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren … Sie sollen einander in Brüderlichkeit begegnen … Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit … Jeder hat das Recht, jedes Land, einschliesslich sein eigenes, zu verlassen … Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen.» (Art 13 und 14)

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Siehe dazu auch:

Infosperber-DOSSIER:
«Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende»

Infosperber-DOSSIER:
«Hunger und Fehlernährung weltweit»

«Ausbeutung dort, Abschottung hier», 1.1.2015
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Sperber.NurKopf.vonLinks.IS-Hintergrund

Des Sperbers Überblick

Kompaktes Wissen: Hier finden Sie die wichtigsten Fakten und Hintergründe zu relevanten Themen.

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Menschenrechte

Genügend zu essen. Gut schlafen. Gesundheit. Grundschule. Keine Diskriminierung. Bewegungsfreiheit. Bürgerrechte

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Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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6 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 1.01.2019 um 12:36 Uhr
    Permalink

    Ïch wünsche Urs Gasche, einem der redlichsten Publizisten in unserem Land, der nie einfachhin so etwas dahinschreibt, für 2019 weiterhin eine glückliche Hand mit Infosperber. Auch der heutige Beitrag, dieser zumal, bewegt sich auf einem absoluten Hauptschauplatz des Weltgeschehens, aber mit Perspektiven, wie es eben nicht auf herkömmliche Weise in der Zeitung steht oder ins Fernsehen kommt.

  • am 1.01.2019 um 14:11 Uhr
    Permalink

    Ganz konkret: Wer dazu etwas unternehmen will melde sich bei https://www.ecogood.org/de/schweiz/. Der Druck zur Veränderung muss von unten kommen. Auf Politik und Grosskonzerne können wir lange warten. Soviel Zeit bleibt uns nicht.

  • am 1.01.2019 um 16:23 Uhr
    Permalink

    Wo war Infosperber, als der Verein ECOPOP den Zugang zur Familienplanung in Entwicklungsländern forderte? Nichts gehört damals!

  • am 2.01.2019 um 11:40 Uhr
    Permalink

    "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.» Bertolt Brecht (Urheberschaft nicht belegt)

    Im Zeitpunkt.ch finden sich regelmässig weitere Ideen und Möglichkeiten für ein politisches Engagement von unten.

  • am 24.01.2019 um 09:14 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen Artikel, dem ich weitgehend zustimme.
    Den demographischen Aspekt zu Afrika könnte man noch deutlicher ausleuchten, wäre einen eigenen Artikel wert. Die Kinderzahlen pro Frau sind je nach Land zwischen 3 und 6, der Generationenabstand um über 1/3 kleiner als in Europa.
    Zur Erinnerung und zum Vergleich: 1915 betrug die durchschnittliche Kinderzahl in der Schweiz 2,4 pro Frau (Quelle Bundesamt für Statistik).
    Zur Grafik: Honi soit qui mal y pense – Afrika Füsse, Beine Gesäss, Europa der Kopf…ja, da lang ich mir wirklich an den Europa!
    Sabine Wirth, Buchberg

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