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Was in der Schweiz selbstverständlich ist, wird in den USA gerade zum Zankapfel. © Nadya Peek, Flickr, CC

USA: Die Schlacht um die Briefwahl

D. Gschweng /  Das Corona-Virus bringt die US-Wahlreglemente durcheinander. Gekämpft wird derzeit vor allem um die Bedingungen der Briefwahl.

In Zeiten von Physical Distancing ist die Briefwahl eine offensichtlich gute Option. Genau darum tobt in den USA gerade eine erbitterte Auseinandersetzung. In den Bundesstaaten werden Regeln geändert, angepasst oder verschärft, mit entsprechend lautem begleitendem Getöse. Donald Trump twitterte schon vorab von der «korruptesten Wahl in der Geschichte unserer Nation».

Die ersten gerichtlichen Auseinandersetzungen gab es bereits im April und Mai. Vor allem die Republikanische Partei warnt vor Betrug bei der Briefwahl, beide Parteien und einige Minderheitenvertretungen befürchten, dass Stimmen nicht gezählt werden könnten. Dazu sollten demnächst auch noch Postfilialen geschlossen werden.

Vorab-Wahl und Briefwahl

Der Vorwurf der Wahlmanipulation wird vorab grosszügig von allen Seiten geäussert. Aus Schweizer Sicht ist das einigermassen unverständlich. Wer nicht Schlange stehen oder sich stundenlang in einem Wahllokal aufhalten kann oder will, der kann auch in den USA «in Abwesenheit» wählen, nur nicht überall und nicht unter jeder Bedingung. Genau das ist der Streitpunkt.

Zum einen gibt es für US-Wählende die Möglichkeit, vorab zu wählen. Die vorzeitige Stimmabgabe ist momentan in mindestens 40 der 50 Bundesstaaten möglich, entweder in einem Wahllokal oder per Brief. Die Vorab-Wahl erfordert meist einen Antrag, teilweise mit Begründung.

Dann gibt es die eigentliche Briefwahl. 17 Staaten verlangen dazu eine Begründung, warum die persönliche Stimmabgabe nicht möglich ist, beispielsweise aufgrund einer Krankheit, Reise oder körperlicher Einschränkung. In 28 Staaten genügt es, einen Antrag auf «Mail-in Ballot» zu stellen, wieder woanders gilt eine Altersgrenze. Einige Staaten wählen immer per Briefwahl.


In fünf US-Staaten wird nur brieflich gewählt (hellblau), viele andere verlangen keine Begründung bei einem Briefwahlantrag (dunkelblau). (Brookings Inst, Stand 22.Juni 2020)

Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2016 wurde ein Viertel der Stimmen per Briefwahl abgegeben. Diesmal werden es vermutlich um einiges mehr sein. Einige US-Bundesstaaten sind jedoch auf eine Masse an Briefwählern nicht vorbereitet, manche haben nicht die rechtlichen Voraussetzungen, um dem Gros der Wähler die Briefwahl zu ermöglichen.

Föderaler Flickenteppich

Wenig Probleme mit Briefwählern dürften Colorado, Hawaii, Oregon, Utah und Washington haben, wo ohnehin per Post gewählt wird. In Arizona, Montana und New Mexiko wird vorwiegend per Briefwahl gewählt, in einigen kleinen Bezirken wählen die Wähler ebenfalls immer brieflich. In vielen Schlüsselstaaten spielte Briefwahl bisher aber kaum eine Rolle. Durch die Corona-Krise können sich die Bedingungen jedoch kurzfristig noch ändern.

Dazu kommt, dass die staatliche Post USPS (United States Postal Service) wegen Geldmangels Leistungen kürzen muss. Laut «ABC» macht die Post ein Defizit von sieben Milliarden US-Dollar. Demnächst sollen bis zu 1’000 Postfilialen geschlossen werden, mehr als 3’000 werden überprüft.

In einem Land, in dem viele ihre Rechnungen bezahlen, indem sie Schecks verschicken, ist das ungünstig. Vor einer Wahl mit einer nie dagewesenen Anzahl an Briefwählern erst recht. Erste Schliessungen werden frühestens zu Beginn des Fiskaljahres im Oktober erwartet. Staaten, die nicht darauf vorbereitet sind, könnten Probleme bekommen, Briefwahlunterlagen rechtzeitig zustellen und auswerten zu können.

Wahlen in den USA – zwischen Schlacht und Show

Präsidentschaftswahlen in den USA verlaufen traditionell turbulent bis chaotisch. Ein Teil davon hat strukturelle, ein anderer föderale Gründe, ein dritter Teil gehört zur Show. Unter dem Strich geht es natürlich darum, wer die Wahl gewinnt.

Da es in den USA kein mit europäischen Ländern vergleichbares Meldesystem gibt, ist Wählen in den Vereinigten Staaten deutlich komplizierter. Wähler müssen sich vorab in ein Wählerverzeichnis eintragen lassen. Für den Einzelnen ist das meist nicht besonders aufwendig. Die Art der Registrierung und die dazu benötigten Dokumente unterscheiden sich von Staat zu Staat. In 40 von 50 Staaten ist die Registrierung aktuell online möglich.


Bei der US-Briefwahl gibt es ein deutliches Ost-West-Gefalle. Dunkel: wenig Briefwähler, hell: viele, Stern: alle Wähler bekommen 2020 Briefwahlunterlagen. (Daten US Wahlkommision, Visualisierung: Mother Jones)

Die Wahl findet traditionell an einem Dienstag im November statt, der Wählende muss sich in ein bestimmtes Wahllokal begeben. Viele Angestellte bekommen dafür keine Freistellung. Wer nicht dort wohnt, wo er wahlberechtigt ist, hat dazu eventuell einen längeren Weg vor sich.

Im Wahlkampf wird viel Aufwand betrieben, um möglichst viele Wahlberechtige dazu zu bringen, sich registrieren zu lassen – vorzugsweise diejenigen im eigenen Lager. Durch Corona wurden die Bedingungen dafür einerseits schlechter, da es weniger Möglichkeiten gab, potenzielle Wähler persönlich anzusprechen. Andererseits dürften Bewegungen wie «Black Lives Matter» viele Erstwähler mobilisiert haben.

Jede noch so kleine Änderung birgt Konfliktpotenzial

Jede kleine Änderung in der Ausgestaltung der Wahl wird mit Argusaugen beobachtet, bis hin zu den Öffnungszeiten der Wahllokale. Im Rahmen der legalen Möglichkeiten versuchen Parteien vor und in jedem Wahlkampf, den Wählern der eigenen Partei das Wählen möglichst einfach und denen der gegnerischen Partei das Wählen möglichst schwer zu machen. Wählerabschreckung ist ja nicht illegal.

Beide Parteien legen Millionen für Klagen und Anfechtungen zurück, die dann auch genutzt werden. Der Kampf um die Randbedingungen der Wahl hat vor Gericht längst begonnen. Ein Berufungsgericht in Wisconsin zum Beispiel fällte Anfang Juli bezeichnenderweise einen Entscheid, der die vorzeitige Stimmabgabe einschränkt.

Ein Argument, das gerade jetzt zu tun, lautete: jede Partei dürfe das Wahlrecht in ihrem Sinne auslegen, der Gegner mache das ja genauso. In Texas gab es im April 2020 ein Urteil, das es allen Texanerinnen und Texanern aufgrund der Pandemie ermöglichen sollte, brieflich zu wählen. Am ersten Mai wurde es von einem anderen Richter mit dem Argument widerrufen, COVID-19 sei «ein emotionaler Zustand und kein physischer» und so auch kein Grund, nicht persönlich zur Urne zu gehen.

Die Währung heisst auch Aufmerksamkeit

Der Gegner wiederum kann aus jedem Urteil, jeder Umstellung oder Erleichterung einen rhetorischen Vorteil ziehen. US-Präsident Trump warf sich früh ins Getümmel, beschuldigte die Demokratische Partei, Corona als «Trick» zu missbrauchen, um an mehr Wählerstimmen zu gelangen, und bezeichnete die Wahl vorab bereits als «rigged» (manipuliert). Das ist drastisch, entspricht aber den Befürchtungen der Konservativen. Aber auch für die Demokratische Partei gilt: Was angreifbar ist, wird angegriffen. Je mehr über Wahlbetrug geredet wird, desto mehr Aufmerksamkeit bekommen beide Parteien von potenziellen Wählern.


Donald Trump bezeichnet die Präsidentschaftswahl bereits seit Monaten als manipuliert – wegen der Briefwähler (Trump auf Twitter)

Tendenziell versuchen die Demokraten eher, die Wahl zu erleichtern, die Republikaner eher, sie zu erschweren. Nevada plante beispielsweise gerade, die Wahlunterlagen für die Vorwahlen an alle aktiven registrierten Wähler zu versenden, da legte die konservative Organisation «True The Vote» bereits Einsprache wegen Betrugsgefahr ein. Sie wurde aber als «spekulativ» abgelehnt. Wisconsin schreibt vor, dass bei der Wahl in Abwesenheit ein Zeuge anwesend sein muss, wogegen jetzt eine Einsprache der Demokraten offen ist. In Virginia soll die Zeugenregelung fallen, wogegen die Republikaner Einsprache eingelegt haben, listete unter anderem «npr» auf.

Schon immer lief einiges schief

Tatsächlich gibt es immer wieder Probleme bei US-Wahlen. Zum Beispiel Fälle, in denen sich der oder die Wählende nicht auf der Registrierungsliste des Wahllokals befindet, in dem er oder sie wählen will. Sei es wegen Umzug, Neuaufteilung von Wahlkreisen oder einer gewollten oder schiefgelaufenen Bereinigung von Wählerlisten. Vielleicht hat die betreffende Person auch einfach das falsche Wahllokal erwischt oder das falsche ID-Dokument dabei. Die Lösungen sind je nach Ort unterschiedlich. Sie reichen von «schnell und einfach» bis «nicht machbar». Im schlimmsten Fall kann der Wählende seine Stimme nicht abgeben oder sie ist ungültig.

Wenn Kapazitäten nicht ausreichen, kann es Verzögerungen geben, was schon öfter passiert ist. Wählende mussten lange Schlange stehen, weil es zu wenige Wahllokale gab oder zu wenige «Voting Machines» oder wenn einige davon nicht funktionierten. Viele Wähler schreckt das ab. Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2016 gab es zudem Berichte über Wahlmaschinen, die die Stimmen nicht richtig zählten. Sicherheitsexperten sorgten sich um die Integrität der Geräte.

Wenn die Vorwahlen ein Vorgeschmack sind, wird es diesmal echt anstrengend

Minderheiten-Vertretungen machen häufig auf ungünstige Gesetze und Umstände, bürokratische Fehler und Pannen, oder kurz auf «Voter Suppression», also vermeintliche oder tatsächliche Benachteiligung, aufmerksam. Das betrifft vor allem nicht-weisse Wählende. Was davon ungünstige Umstände und was gewollt oder geduldet ist, ist schwer zu erfassen.

Noch etwas komplizierter ist es bei den Vorwahlen, von denen wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr einige verschoben werden mussten. Die Parteien bestimmen damit ihre Präsidentschaftskandidaten direkt oder über Mittelspersonen.

In einigen Bundesstaaten verliefen die «Primaries» 2020 ziemlich chaotisch. In Iowa beispielsweise streikte bei den Vorwahlen der Demokraten die IT, in Georgia gab es Probleme mit der Briefwahlregistrierung, dann fielen Wahlmaschinen aus. Papierwahlzettel gab es aber zu wenige, was zu langen Schlangen führte. In New York und Kentucky dauerte es mehr als eine Woche, bis alle Stimmen ausgezählt waren. Vorwürfe von Wahlmanipulation wurden laut. Ein möglicher Vorgeschmack auf den Ablauf der Wahlen im November, meint dazu die «New York Times». Zu den organisatorischen Problemen, die die US-Wahlen seit jeher plagen, kommt nun noch die Pandemie.

Auch ohne Streit eine organisatorische Herausforderung

Es könnte also wirklich etwas anders laufen in diesem Jahr. Es gibt Befürchtungen, dass sich für die Wahl im November nicht genügend Wahlhelfer finden, weil sie das Infektionsrisiko fürchten. Dabei gibt es mit mehr Briefwahlunterlagen zwar weniger Arbeit in den Wahllokalen, aber bei der Auszählung mehr zu tun. Eine organisatorische Herausforderung stellen dabei auch die wegen des Corona-Virus angeordneten Hygienemassnahmen dar.

Durch die Briefwahl könnten mehr Stimmen als üblich aus formellen Gründen für ungültig erklärt werden, etwa, weil ein Unterschriftenvergleich fehlschlägt oder weil ein Formular falsch ausgefüllt ist. In 26 von 50 Staaten erfahren Wählende davon nichts.

Die Sorgenkinder im «Rust Belt»

Sorgen machen sich Beobachter vor allem um Michigan, Pennsylvania and Wisconsin, drei Staaten im «Rust Belt», die massgeblich zu Trumps Sieg in den letzten Präsidentschaftswahlen beigetragen haben. Zusammen mit Florida könnten sie die Wahl entscheiden. Alle drei Staaten erlauben es derzeit nicht, Stimmen vor dem Wahltag auszuzählen. In Pennsylvania wurden zudem die Regeln erstmals soweit gelockert, dass alle Wähler briefwahlberechtigt sind. Die Zahl der Anträge hat sich bereits bei den Vorwahlen versiebzehnfacht.

Gestritten wird auch um das späteste Datum, an dem Wahlunterlagen noch eingesendet werden können. Passiert das am Wahltag im November, könnte sich die Auszählung über Wochen erstrecken, prognostiziert Brian Corley, Wahlleiter in Pasco County im «Swing State» Florida der «New York Times». Wovon nach bisherigen Erfahrungen eher die Demokraten profitieren würden. Mit schnellen, exakten Hochrechnungen und einem schnellen Sieger ist dann nicht zu rechnen. Womöglich aber mit mehr Klagen über Wahlbetrug.

Monate, wie Trump behauptet, wird es aber eher nicht dauern, bis die USA einen neuen Präsidenten haben. Der Vorwurf, dass bei der Briefwahl mehr betrogen werde, sei Unsinn, schreibt «CNN» in einem Faktencheck. Ganz und gar abwegig sei Trumps Prognose von «20 Prozent falschen Stimmen», sowohl bei der kommenden wie auch bei vergangenen Wahlen. Dafür gebe es keine Hinweise.
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[Red] Siehe dazu auch die interessanten Informationen von Meret Baumann in der NZZ, hier anklicken. Die Headline dazu mit der stets wiederkehrenden Anschwärzung Russlands wurde in der Redaktion der NZZ in Zürich gesetzt.

… und jetzt hat sich auch noch das «Echo der Zeit» dieses Themas angenommen. Interessant!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Wahlen in den USA

Wahlkreise werden willkürlich festgelegt. Lobbys greifen ein. Viel Lärm um Einfluss aus dem Ausland.

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