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Politikwissenschaftler, Strategieberater und Publizist Parag Khanna © Wikimedia Commons/CC BY 2.0

Politologe will Schweiz und Singapur mischen

Jürg Müller-Muralt /  Die Welt von morgen befindet sich «jenseits von Demokratie»: Die Vision des Politologen Parag Khanna heisst «direkte Technokratie».

Wir leben im Rundum-Krisenmodus. Auch die Demokratie ist davon nicht ausgenommen. Immer deutlicher treten in verschiedenen Ländern und in unterschiedlichem Grad Zerfallserscheinung zutage. Am auffälligsten sind autoritäre Tendenzen. Die Gewaltenteilung wird geritzt oder ganz ausser Kraft gesetzt, die Medienfreiheit gerät stark unter Druck. Zudem werden westliche Demokratien immer instabiler. Die traditionellen Parteien leiden unter Vertrauensschwund. Davon profitieren einerseits populistische Rattenfänger. Anderseits tauchen neue Instant-Bewegungen mit noch unbekannter Halbwertszeit auf, wie das Phänomen Emmanuel Macron in Frankreich zeigt.

Gegen und jenseits von Demokratie

Auch ein Teil der politologischen Literatur legt Vorschläge auf den Tisch, die weit von den bisherigen demokratischen Standards entfernt sind. Die Buchtitel ähneln sich: «Gegen Demokratie: Warum wir die Demokratie nicht den Unwissenden überlassen dürfen» (Jason Brennan), «Gegen Wahlen: Warum abstimmen nicht demokratisch ist» (David van Reybrouck), «Jenseits von Demokratie» (Parag Khanna). Die ersten beiden Bücher sind bereits ausführlich diskutiert und rezensiert worden, auch auf Infosperber. Alle drei Autoren liefern bemerkenswerte Analysen über den Zustand der Demokratie, ihre Rezepte sind allerdings problematisch. Brennan will die Unwissenden von Wahlen und Abstimmungen fernhalten. «Wir sollten anerkennen, dass das Wahlrecht kein universales Menschenrecht ist, sondern nur verantwortungsvollen, informierten Menschen mit politischen Kompetenzen zusteht», findet Brennan. Wer mitbestimmen will, soll einem Wissenstest unterzogen werden. Van Reybrouck wiederum will Wahlen teilweise durch ein Losverfahren ersetzen.

Effizienz ist alles

Parag Khanna präsentiert einen noch weit überraschenderen Vorschlag: Er sieht als ideale Regierungsform für das 21. Jahrhundert eine Mischung aus der schweizerischen direkten Demokratie und der singapurischen Technokratie. «Beide nehmen Rücksprache mit der Bevölkerung. In der Schweiz geschieht dies mit direktdemokratischen Mitteln. In Singapur über Umfragen und Workshops», sagt Khanna in einem Interview mit dem Bund und dem Tages-Anzeiger. Er nennt dies «direkte Technokratie», die «langweiligste, aber effektivste Herrschaftsform der Welt. Jedes Land sollte sie anstreben.»

Effizienz ist für den Technokraten Khanna alles, und so findet er: «Freiheit ist in diesem Modell kein absoluter Wert, dem sich alles andere unterordnen muss.» Es ist für ihn auch kein Nachteil, wenn man eine Technokratenregierung nicht abwählen kann, denn: «Eine direkte Technokratie, wie sie mir vorschwebt, wird ständig rückgekoppelt und passt sich den Bedürfnissen der Menschen an. Alle Prozesse werden gemessen und ausgewertet. Sobald etwas schiefläuft, muss sich der Kurs ändern.» Den Hinweis des Interviewers, sein Vorbild Singapur gelte als Polizeistaat, der Kritiker einsperre, hält Parag Khanna für «völlig übertrieben». Und dass die Pressefreiheit weit hinten auf Rang 151 von 180 steht, beeindruckt ihn auch nicht: «In Singapur gibt es kaum aggressiv oppositionelle Medien. Das hat aber vor allem mit freiwilliger Selbstbeschränkung zu tun. Man ist sich einig, dass Beschimpfungen keine Lösungen hervorbringen. In Singapur zählen nachweisbare Verbesserungen mehr als ausufernde Polemiken. Man achtet darauf, Debatten nicht zu stark politisch aufzuladen.»

Ein Staat ohne Pressefreiheit als Vorbild

Diese Aussage ist derart schönfärberisch, dass sie aus der Propagandabteilung eines diktatorischen Staates stammen könnte. Es zeugt von einem für einen Politologen geradezu grotesken Verständnis der Rolle der Medien: Wenn sich die Medien eine wie auch immer geartete «freiwillige Selbstbeschränkung» auferlegen, können sie ihre demokratische Kontrollfunktion nicht ausüben. In der Tat kennt Khannas Vorbild Singapur keine Pressefreiheit. Es herrscht strenge Zensur, der staatliche Druck führt auch zu Selbstzensur. Einige Medien sind verboten, andere in ihrer Verbreitung stark eingeschränkt. Singapur gilt faktisch als Einparteistaat. Und es herrscht ein in weiten Teilen barbarisches Strafrecht, auch mit drakonischen Körperstrafen. Der wirtschaftliche Tigerstaat ist, nicht zuletzt dank grosszügigen staatlichen Programmen in Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge, als politisch und sozial stabil. Aber als Vorbild für Demokratie taugt das Land nicht. Trotzdem geniesst das undemokratische System Singapurs auch im Westen immer wieder erstaunlich viel Sympathie.

Parag Khanna – der Star

Viel Sympathie geniesst auch Parag Khanna. Der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler, Strategieberater und Publizist lebt in Singapur und arbeitet an der dortigen Nationaluniversität. Vor allem aber ist er eine bei internationalen Führungskräften äusserst einflussreiche Stimme. Khanna ist als Direktor der Global Governance Initiative der Denkfabrik New America Foundation ein gefragter Experte für Geopolitik und internationale Beziehungen und gehört gemäss dem Magazin Esquire zu den 75 einflussreichsten Persönlichkeiten des 21. Jahrhunderts. Während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs 2008 gehörte Parag Khanna zum aussenpolitischen Beraterstab des Kandidaten Barack Obama. Er publiziert nur in den renommiertesten Blättern, wie New York Times, Washington Post, Financial Times, Forbes, Newsweek, The Guardian, Foreign Policy, New Statesman, Die Zeit, Indian Express, India Today. Er arbeitete auch für das Weltwirtschaftsforum in Davos und wurde 2009 vom WEF mit dem Titel eines «Young Global Leader» geehrt. 2014 war er auch Gast des Swiss Economic Forum (SEF).

Die Idee der Mega-Diplomatie

Der kreative Khanna hat ähnliche Ideen schon in anderen Büchern verbreitet. In seinem Buch «Wie man die Welt regiert: Eine neue Diplomatie in Zeiten der Verunsicherung» von 2011 propagiert er die Idee der Mega-Diplomatie (siehe den Beitrag auf Infosperber). Seine Analyse: Der Staat ist nicht mehr die unbestrittene ordnende Instanz und nicht mehr der alleinige Träger von Souveränität. Regierungsunabhängige Organisationen (NGO), das WEF, multinationale Konzerne, Finanzimperien und superreiche Oligarchen treten in Konkurrenz zu den Staaten. Khannas Zauberformel, um die unterschiedlichen Akteure einigermassen in Griff zu bekommen, heisst «Mega-Diplomatie». Denn: «Technologische Vorrangstellung und Kapitalkraft, nicht Souveränität, bestimmen, wer die Macht besitzt und das Sagen hat.»

Für den in der Wolle gefärbten Pragmatiker Khanna muss das nicht negativ sein, denn heute sei ohnehin keine einzelne Institution mehr in der Lage, die grossen Probleme zu lösen. Mega-Diplomatie bedeutet, dass man – als Beispiel – nicht mehr internationale Klimakonferenzen durchführt, die in erster Linie über die traditionellen diplomatischen Kanäle abgewickelt werden, sondern dass man alle am Problem interessierten Kreise und Akteure zu unkonventionellen Koalitionen zusammenschweisst – und zwar ohne «steifen Walzer von Ritualen und protokollarischen Förmlichkeiten zwischen Staaten». Denn «in dieser neuen Welt der Mega-Diplomatie hängt der Erfolg davon ab, dass man die wichtigsten Akteure – Regierungen, Unternehmen und Organisationen – zu Koalitionen zusammenschmiedet, die sehr schnell globale Ressourcen zur Lösung von Problemen mobilisieren können.»

Materielle Lebensverhältnisse versus Demokratie

Das Heimtückische und Gefährliche an den Vorstellungen von Parag Khanna ist, dass ihm ziemlich gleichgültig zu sein scheint, wer in das von einem schwachen, handlungsunfähigen oder gänzlich abwesenden Staat hinterlassene Vakuum tritt – Hauptsache, es funktioniert: «Regierungsbürokraten mögen behaupten, souveräne Staaten seien die einzigen Träger von Legitimität und Rechenschaftspflicht, doch dieser konventionelle Mangel an Phantasie hat in einer Welt, die neuartige Lösungen braucht, keinen Platz mehr.» Und überhaupt: In einer Welt mit derart unterschiedlichen ökonomischen und politischen Modellen werde der Attraktivitätsvorsprung des einen gegenüber dem anderen «nach seiner Fähigkeit beurteilt, die materiellen Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern – nicht danach, wie demokratisch es ist».

Den richtigen Knopf finden

Khanna geht davon aus, dass in dieser neuen, hybriden, öffentlich-privaten Welt der Mega-Diplomatie alle Akteure zum Wohle des Ganzen ihre Kräfte bündeln «und sich gegenseitig zur Rechenschaft» ziehen. In seiner Welt «ist Pragmatismus das einzige Prinzip, das eine zuverlässige Richtschnur sein kann: aus der Erfahrung lernen und ihre Lehren umsetzen». Die Frage ist nur, ob diese pragmatismusgesättigte, kontrollschwache, institutionenfeindliche, anarchische, staats- und demokratieferne Mega-Diplomatie uns nicht gerade denjenigen ökonomischen Kräften ausliefert, die sich ohnehin am wirkungsvollsten durchsetzen können.

Wie schon in seinem Buch von 2011 ist der Glaube Parag Khannas an technokratischen Lösungen bis heute ungebrochen. Er denkt nicht von den Werten der Demokratie und der Freiheit her, sondern einzig von den Resultaten, wie er im Bund-Interview sagt: «Was müssen wir tun, damit die Gesellschaft funktioniert? Wie können wir den Menschen ein gutes Leben bieten? Politische Ideologien spielen dabei keine Rolle mehr.» Khanna tut so, als müsse man bloss irgendwie den richtigen Knopf finden, um ein selbstregulierendes System in Gang zu setzen. Die Verteilkämpfe, die immer wieder mühsamen demokratischen Aushandlungsprozesse und die damit verbundene Machtfrage – alles Schnee von gestern im reichlich unhistorischen Gesellschaftsverständnis von Parag Khanna.


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7 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 16.06.2017 um 11:38 Uhr
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    "Direkte Technokratie» – war es das, was im 19. Jahrhundert, auch im Umfeld des Kulturkampfes, in diesem Sinn ein konstruktiver Beitrag auch der Konservativen, für die Schweiz als «direkte Demokratie» erkämpft wurde?

  • am 16.06.2017 um 14:05 Uhr
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    Gerade auch in der Schweiz produziert die Demokratie viele Resultate, die alles andere als dem Volkswohl dienen. Im Parlament und in der Verwaltung können sich Partikularinteressen, Lobby- und Pressure-Groups fast ungehindert durchsetzen (im EU-Ausland ist manches besser und auch schlechter). Das Ausmass an faktischer Korruption und Selbstbedienung (die oft de iure keine ist) wird nur noch durch den relativen Reichtum des Landes einigermassen verdeckt. Neue Ideen a priori abzulehnen ist unredlich. Auch wenn man nicht alles übernehmen und kopieren möchte, so sollte man das Analysieren nicht gleich abstellen im Sinne wir lebten so oder so in der besten aller möglichen Welten. Das tun wir nicht! Es gibt auch den ausgeprägt libertären Hans-Hermann Hoppe, der die «Demokratie» nicht als «Gott» ansehen will.

    Die Demokratie muss immer auch in Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität aufgeteilt werden. Rechtsstaatlichkeit ist für mich die wichtigere Komponente.

  • am 16.06.2017 um 14:05 Uhr
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    Parag Khanna präsentiert einen noch weit überraschenderen Vorschlag: Er sieht als ideale Regierungsform für das 21. Jahrhundert eine Mischung aus der schweizerischen direkten Demokratie und der singapurischen Technokratie. – Und wie will er dies bewerkstelligen? Dann ist es wohl besser, eine Mischung aus Donald Trump und Wladimir Putin herzustellen. Daran wird ja bereits seit Jahren gearbeitet, bereits vor der Wahl Trumps zum Präsidenten, wir im Westen werden immer sozialistischer, im Osten werden sie immer freiheitlicher.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 16.06.2017 um 14:31 Uhr
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    @Düggelin. Die Freiheitlichkeit im Osten hat aber schon noch viel Spatzig bzw. in Russland noch längst nicht ausgeschöpftes Ausdehnungspotential nach oben und in die sozusagen sibirische Weite, während tatsächlich bei uns unter allerlei Vorwänden, nicht etwa nur im Kampf gegen «hate speech» usw. , das Bedürfnis nach Freiheitseinschränkung offenkundig wächst.

  • am 16.06.2017 um 23:44 Uhr
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    Für Technokratien, denen sich die Freiheit unterordnen muss, gibt es ein älteres Wort, das zutreffend beschreibt, wie es sich in einem solchen Land dann leben lässt:

    Es heisst Faschismus.

  • am 16.06.2017 um 23:47 Uhr
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    Demokratie muss ineffizient sein. Sonst kann sie das Subsidiaritätsprinzip nicht erfüllen. Je effizienter eine Demokratie wird, desto mehr löst sie sich auf.

  • am 16.06.2017 um 23:50 Uhr
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    Dem Gemeinwohl dient, was den Frieden hält. Dazu ist es ebenso wichtig, mächtige Interessen mit zu berücksichtigen wie jeden einzelnen mit einzubinden und ihm Teilhabe zu gewähren.

    Das beste für das Volk sieht aus jeder Perspektive anders aus – je nachdem, wen im Volk man frägt. Wer es garantiert nicht besser weiss als der Stimmbürger, sind vom Alltagsleben der Meisten abgehängte Experten.

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