Kurdischer Südosten der Türkei: Stacheldraht und goldene Hähne
«Und schon stehen wir wieder unter (fremder) Besatzung.» Der Aufschrei der kurdischen Menschenrechtlerin Nurcan Baysal dürfte die gegenwärtig vorherrschende Stimmung unter Kurden in der Türkei getreu widerspiegelt haben. Diese Woche hat für die kurdische Bewegung mit bösen Überraschungen angefangen: Zunächst verkündete der türkische Innenminister Süleyman Soylu, dass die bei den Kommunalwahlen im März demokratisch gewählten Oberbürgermeister von Van, Diyarbakir und Mardin ab sofort ihrer Ämter enthoben werden.
Während diese Nachricht in den TV-Sendungen lief, machte das Innenministerium bekannt, dass die Polizei bei landesweiten Razzien an einem einzigen Tag 418 HDP-Mitglieder festgenommen habe. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) ist in der Türkei die einzige, legale pro-kurdische Partei. Kundgebungen der HDP gegen die unerwartete Repressionswelle wurden in der westlichen Metropole Istanbul wie in Städten des kurdischen Südostanatoliens gewaltsam aufgelöst. Die Türkei werde niemals zulassen, dass der Terrorismus den Rechtsstaat und die Demokratie zu seinen Zwecken ausnütze, brüstete sich danach Innenminister Süleyman Soylu.
Ein schon gesehener Film
Es dürfte eine Frage der Interpretation sein. Während Ankara von «Terroristen» und «Terrorbekämpfung» spricht, fühlen sich die Kurden plötzlich wie zurückversetzt: Die türkische Regierung hatte schon einmal, am 11. September 2016, zunächst zwei Dutzend, dann im Laufe von wenigen Tagen 95 von den insgesamt 102 gewählten kurdischen Bürgermeistern ihres Amtes enthoben. Sie wurden kollektiv beschuldigt, die Finanzen ihrer Gemeinden zu missbrauchen und damit die illegale, kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu unterstützen, oder noch etwas allgemeiner, Verbindungen zur PKK zu unterhalten.
Dutzende wanderten damals ins Gefängnis. Wie viele HDP-Politiker und -Anhänger tatsächlich hinter Gitter sind, kann niemand genau sagen. Die Partei schätzt aber ihre Zahl auf mindestens 7’000. In Haft befinden sich seit September 2016 auch 40 ehemalige Bürgermeister. Wegen vermeintlicher Terrorunterstützung sitzt seit November 2016 auch der Ex-Parteivorsitzende Selahattin Demirtas im Gefängnis. Beweise für diese teils schweren Anschuldigungen blieben bislang aus.
An Stelle der abgesetzten Bürgermeister traten im September 2016 regierungsnahe Zwangsverwalter, die man in der Türkei «kayyum» nennt. «Das erste, was die Zwangsverwalter taten, war, die Symbole der kurdischen Kultur und Geschichte zu zerstören», schrieb die Menschenrechtlerin Nurcan Baysal im Portal Ahval. Sie hätten die kurdischen Namen der Strassen mit türkischen ersetzt, vor jedem Gemeindehaus riesige türkische Flaggen gehisst und die Frauen- sowie Kulturzentren ihrer Stadt sofort geschlossen. Die Polizei «baute dann Barrikaden um jedes Gemeindehaus, das man als normaler Bürger ohnehin mied».
Nach einer 2,5-jährigen Verwaltung haben die Zwangsverwalter in den meisten Rathäusern riesige Schuldenberge hinterlassen. Adnan Selcuk Mizrakli, der letzten März gewählte Oberbürgermeister der kurdischen Metropole Diyarbakir, hatte laut der Presse gerade die Veröffentlichung eines Berichts vor, der beweisen sollte, dass der Erdogantreue kayyum in den letzten 2,5 Jahren sich eine riesige Privatvilla mit viel Marmor und mit vergoldete Wasserhähnen bauen und damit die Verschuldung seiner Stadt in die Höhe treiben liess. Adnan Selcuk Mizrakli, der beim Urnengang letzten März 63 Prozent der Stimmen erhielt, wurde abgesetzt. An seiner Stelle soll nun erneut der vorherige kayyum antreten. Das Rathaus ist laut einem AFP-Reporter vor Ort mit Stacheldraht abgeriegelt worden.
Beginn einer neuen, ungeahnten Repressionswelle?
Der gewählte Oberbürgermeister von Mardin, Ahmet Türk, wurde von der Regierung Erdogan zweimal entmachtet. Der 77-jährige Politiker, Sohn eines der mächtigen kurdischen Stammesführer, war 1980 im Zuge der Säuberungsaktionen der damaligen Militärjunta inhaftiert und im berüchtigten Gefängnis von Diyarbakir schwer misshandelt worden. Im Gefängnis kam er erstmals mit Vertretern der kurdischen Nationalbewegung in Verbindung, der er gleich beitrat. Weil er ungeachtet aller Folter oder der alltäglichen Repression des Staates in Südostanatolien ungebrochen für ein friedliches Zusammenleben von Türken und Kurden in der Türkei plädierte, haftete ihm der Ruf, die Taube der kurdischen Nationalbewegung, ihr «Buddha», zu sein.
Letzten Montag wurde Ahmet Türk wie seine Amtskollegen von Diyarbakir und Van beschuldigt, Verbindungen zur PKK zu unterhalten und mit den Finanzen seiner Gemeinde diese illegale Partei zu unterstützen. Ein «Gipfel der Unrechtmässigkeit», kommentierte verstört dieser äusserst milde kurdische Politiker und schien zum allerersten Mal in seiner langen politischen Karriere nun jedes Vertrauen in die Demokratie der Türkei verloren zu haben.
«Merken sie nicht, dass die Barrikaden der Polizei nicht mehr zwischen den Rathäusern und dem Volk stehen, sondern zwischen den Kurden und diesem Land?», schrieb verzweifelt auch Nurcan Baysal – auch sie bislang eine Verfechterin für das friedliche Zusammenleben von Kurden und Türken in der Türkei. Die TV-Sendungen zeigten am Dienstagabend Bilder vom Amtsantritt des kayyum von Van. Er lief selbstbewusst in sein Büro und trug in seinen Händen ein riesiges Portrait des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
‹…versetzt so das ganze Land in Aufruhr.›
Man kann eine Bevölkerung oder einen Staat in Aufruhr versetzen, aber nie ein Land. Dazu bräuchte es entweder ein Erdbeben oder einen Meteoriteneinschlag.
Wie immer bei Amalia van Gent ein Artikel mit Aktualiät UND Tiefe
DANKE!
MfG
Werner T. Meyer.
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