Verblendete Wissenschaft: Übersehene Skandale der Vergangenheit
(Red./cm) Gegenwärtig versuchen nicht wenige europäische Länder, ihre Rolle vor und im Zweiten Weltkrieg weisszuwaschen – mit einigem Erfolg, wie z.B. die Resolutionen des Europa-Parlaments zeigen. Dass selbst Historiker auf Universitätslevel und auch in der Schweiz keine Hemmungen hatten, die Vergangenheit des eigenen Landes zu beschönigen, ist aber ebenso Realität. Gerade auch im Hinblick auf die Konzernverantwortungsinitiative müssen wir uns bewusst sein, dass auch wir Schweizer nicht immer eine weisse Weste hatten – und haben. Unser gelegentlicher «kontertext»-Autor Rudolf Walther erzählt so ein Beispiel anhand seiner eigenen Jugend und seines eigenen Geschichtsstudiums.
Eine persönliche Vorbemerkung
Meine Vorbemerkung ist nicht zu verwechseln mit einem erklärenden Kommentar zum eigenen Text. «Wer sich selbst kommentiert, geht unter Niveau». Das Motiv, einen Artikel über Sklaverei und Kolonialismus zu schreiben, liegt in den Zumutungen und Ungeheuerlichkeiten, die während des Kalten Krieges in einem intellektuellen Klima möglich waren, das den Antikommunismus zur Staatsräson und -religion machte, und die in Medien, Politik, Wissenschaft und Schule einfach als normal durchgingen. Als früheste politische Erinnerung blieb dem Autor eine Schulstunde Anfang März 1953. Ich war damals neun Jahre alt und wurde als einziges nicht-katholisches Kind von einer Nonne unterrichtet. Diese liess die Klasse zum Beten aufstehen. Wofür oder wogegen, weiss ich nicht mehr so genau. Am wahrscheinlichsten ist, dass es eine Art Dankgebet gewesen sein muss, weil – und dessen bin ich sicher – «ein ganz böser Mann» gestorben sei. Wann und von wem ich erfuhr, um wen es sich handelte bei dem «bösen Mann», weiss ich nicht mehr. Es ging aber mit Sicherheit um Stalins Tod, der am 5. März 1953 verstorben ist. Drei Jahre später war eine Demonstration («Fackelzug» hiess das damals) angeordnet für einen Novemberabend. Während des Tages hatten wir im Städtchen Altpapier, Kleider und Spielsachen gesammelt – «für die Flüchtlingskinder aus Ungarn». Warum das richtig und wichtig war, wusste ich so wenig wie und weshalb diese kamen. Und so ging das während der ganzen Schulzeit: Von Cäsars Vernichtungskrieg gegen Bevölkerungen, die Gallien bewohnten, blieb im Latein- und Geschichtsunterricht allenfalls, warum natürlich «die Guten» siegten. Noch an der Universität galt es als normal, dass ein verdienter Historiker im Namen der Wissenschaft schlicht leugnete, dass es so etwas wie «Kolonialismus» gegeben habe und gebe.
Erst in jüngster Zeit hat sich in der Geschichtswissenschaft und in den meisten Medien die Einsicht durchgesetzt, wie wichtig die transnationale Vernetzung von Wirtschaft und Banken – einschliesslich des Sklavenhandels und der Sklavenwirtschaft und der damit verbundenen Gewalt – für die Industrialisierung und damit für die Wohlstandsentwicklung und damit auch für die kulturelle Blüte Europas und Nordamerikas seit rund 300 Jahren gewesen ist. Dass buchstäblich Blut an Wohlstand und Kultur klebt, ist keine neue Einsicht. Aber wie erfolgreich die Übermalung und Überschreibung diese Einsicht historisch war – besonders zu Zeiten des Kolonialismus und des Kalten Krieges – , wird erst Stück für Stück sichtbar. Und das gilt auch für Binnenländer wie die Schweiz, die direkt keine Kolonien besass und im Inland keine Sklavenhaltung betrieb, wie das Gutachten von drei jungen Schweizer Historikern eindrücklich belegt. Insofern besteht Hoffnung, dass die Vernebelung der Köpfe im Kalten Krieg langsam endet und das Licht der Aufklärung langsam auch das Terrain der Geschichtswissenschaft erreicht.
Doch jetzt zum Thema:
«Quod non est in actis, non est in mundo» (frei übersetzt: «Was nicht in den Akten steht, existiert nicht»), lautet eine Grundregel im Zivilprozess nach dem Römischen Recht. Die Maxime galt aber auch lange und unbestritten für die historische Forschung bzw. jene, die Nietzsche die «antiquarische» Geschichtsschreibung nannte, weil sie nur für darstellungswürdig und -fähig hält, was sich mehr oder weniger wörtlich aus Akten und anderen Quellen ablesen lässt. Methodisch ist diese Maxime veraltet, weil sich durchgesetzt hat, dass der Rechtsgrundsatz sich nicht eins zu eins auf die Geschichtswissenschaft übertragen lässt. Es kommt immer auch darauf an, aus welcher Perspektive Historiker Quellen lesen und interpretieren. Hinzu kommt die linguistisch und sprachphilosophisch begründete Einsicht, dass viele in den Archiven gelagerte und gedruckte Quellentexte einen Subtext enthalten, der sich nicht aus dem Text direkt, sondern erst aus dem historischen Kontext sowie spezifischen Eigenschaften der Quellensorte und deren Überlieferung erschliesst.
Das ist Stoff für das historische Proseminar und darum geht es hier nicht, sondern um den in der Geschichtswissenschaft eigentlich nicht vorgesehenen Fall, dass sich forschende Historiker schon beim Durcharbeiten der Quellen die Brille verkleben und deshalb gar nicht erkennen können, was in den Akten steht. Zu diesem Ergebnis führt die Lektüre von einem ganz jungen und einem älteren Text. Doch jetzt der Reihe nach.
Vor einigen Wochen erschien ein «Bericht zuhanden des Präsidialdepartements der Stadt Zürich» über «Die Beteiligung der Stadt Zürich sowie der Zürcherinnen und Zürcher an Sklaverei und Sklavenhandel vom 17. bis ins 19. Jahrhundert». Die Autoren sind drei wissenschaftliche Mitarbeiter – Marcel Brengard, Frank Schubert und Lukas Zürcher – am Historischen Seminar bzw. dem Lehrstuhl der Professorin Gesine Krüger.
Der Bericht hat eine längere Vorgeschichte, denn bereits 2007 antwortete das Präsidialdepartement auf ein Postulat von 2003 mit einem Bericht, den Konrad J. Kuhn und Béatrice Ziegler-Witschi verfassten. 2017 reichte die sozialdemokratische Fraktion ein zweites Postulat ein, mit dem sie aus Anlass des 200.Geburtstags von Alfred Escher 2019 eine Antwort auf die Frage nach der Verwicklung der Familie Escher in Sklavenbesitz bzw. Sklavenhandel verlangte. Der neue Bericht geht auf dieses Postulat zurück und wurde vom Präsidialdepartement der Stadt Zürich finanziert.
Der gut 50 Seiten starke Bericht beruht auf der Auswertung von Quellenbeständen im Zürcher Staatsarchiv, der neuesten wissenschaftlichen Literatur, aber auch von studentischen Seminararbeiten, die im Rahmen eines Bachelor-Seminars zu «Zürich und die Sklaverei» im Wintersemester 2019 entstanden sind. Ganz wichtig und ausserordentlich ertragreich zu Sklavenhandel und Sklaventransport sind für die Autoren drei Datenbanken, die erst seit kurzem zur Verfügung stehen und zum Beispiel über jeden einzelnen Sklaventransport Auskunft geben, was auf der Basis der alten Zürcher Archivbestände bislang nicht möglich war. Insofern hatte die ältere Forschung einen ganz erheblichen Nachteil gegenüber der jüngeren. Es liegt in der Natur historischer Forschung, dass neue Quellen erschlossen werden. Aber das ist kein neues Problem, sondern für Historiker selbstverständlich. Das Problem liegt vielmehr bei einem bekannten Schweizer Historiker. Der erforschte zwar ebenso quellenkundig wie quellennah die wirtschaftliche Verflechtung Zürichs und der Schweiz mit Europa im 18. Jahrhundert, aber er ging mit kategorialen Vorentscheidungen und ideologischer Voreingenommenheit – gleichsam verklebten Augen – ans Werk, sodass er vieles gar nicht lesen konnte, was in den Akten stand.
Der Historiker Herbert Lüthy (1918-2002), der in Zürich und in Basel lehrte, aber lange Zeit in Frankreich lebte, legte 1959-1961 in zwei Bänden auf rund 1500 Seiten die Geschichte der «Banque protestante en France de la révocation de l’édit de Nantes à la Révolution» vor. Dieses Werk geniesst in der Fachwelt bis heute hohe Anerkennung. Das ist einigermassen erstaunlich, denn Lüthy näherte sich seinem Thema und den Quellen mit grobschlächtigen Vorurteilen. Damit setzte er sich gar nicht erst der Gefahr aus, wirklich erkennen zu können, was das Jahrhundert der Aufklärung unübersehbar mitprägte: Sklavenarbeit, Sklaventransporte, Sklavenhandel.
Nichts von Sklavenarbeit, Sklaventransporten und Sklavenhandel
Lüthys Essay «Ruhm und Ende der Kolonisation» erschien 1957 – zwei Jahre vor dem ersten Band über die «Banque protestante», mitten im Kalten Krieg und noch während des Algerienkriegs – in der rabiat antikommunistischen Zeitschrift «Der Monat», die der amerikanische Geheimdienst finanzierte, wie man heute weiss. Von Sklavenarbeit, Sklaventransporten und Sklavenhandel mochte Lüthy in den Quellen nichts entdecken, denn er ging gleich im ersten Satz des Essays von einer Differenz zwischen «Kolonisation und ‹Kolonialismus›» aus. Die Differenz markierte er deutlich, indem er das Wort ‹Kolonialismus› durchgehend in Anführungszeichen setzte, so als ob es den gar nicht gegeben hätte und das Faktum sich aus der Welt schaffen liesse, indem er den Begriff zum «Wortbastard» erklärte. Dass die sprachliche Abhebung des Wortes keine blosse Marotte ist, sondern auf eine Unterscheidung in der Sache hinausläuft, wird schnell klar, wenn der Autor dogmatisch dekretiert: «Wo immer Kolonialpolitik über die reine Machtausübung hinaus eine innere Rechtfertigung suchte, hat sie die Kolonisation als Erziehungswerk verstanden, das sein Ende anstrebt: Emanzipation.» Lüthy relativierte das zwar umgehend: «Wohl hat die Wirklichkeit nie ganz dieser verklärten Schau entsprochen; die Kolonisation war kein philanthropisches Erziehungsinstitut».
Wie «innere Rechtfertigung» funktioniert, demonstrierte der preussische Historiker Heinrich von Treitschke sechzig Jahre vor Lüthy: «Wenn die Engländer (…) die Hindus vor die Mündungen der Kanonen banden und sie ‹zerbliesen›, dass ihre Körper in alle Winde zerstoben, so kann man das, da doch der Tod sofort eintrat, nicht tadeln. Dass in solcher Lage Mittel des Schreckens angewandt werden müssen, ist klar». Lüthy aktualisiert diese Position mit seiner zeittypisch manichäisch, also antikommunistisch grundierten Unterscheidung der Wirklichkeit nach Gut/Böse, Schwarz/Weiss und geht dabei aufs Ganze: Er versteht sich 1957 (!) als «Advokat der letzten europäischen Kolonialmächte» und verweist Kritiker des ‹Kolonialismus› als «unbefugte Richter» des Platzes. Für Lüthy reimt sich «Kolonisation» auf «Erschliessung, Erforschung und Besiedelung der Welt»; obendrein sei bei diesem Prozess «der Anteil der Gewalt erstaunlich klein» gewesen. Der Autor spricht – mitten im Algerienkrieg – von «widerstandsloser Kolonisierbarkeit der nichteuropäischen Welt» und behauptet ernsthaft, 800 englische Polizeibeamte und 60 Mann englische Truppen hätten Indien in Schach gehalten. Dabei entsandte London zum Beispiel im Jahr 1857 allein zwischen Juni und Oktober 40’000 Soldaten, um das Land wegen des ersten Aufstands zu «befrieden». Daran knüpft Lüthy einen abenteuerlichen Schluss: «Wenn das Ziel der Kolonisation die Emanzipation ist, so hat England gewiss nicht immer selbstlos und ungeduldig dieses Ziel angestrebt; aber es hat nichts unternommen, was ihm zuwiderlief.»
In dieser Voreingenommenheit las der Schweizer Geschichtsprofessor Herbert Lüthy die Quellen und schrieb sein Buch über die «Banque protestante». Daher überrascht es nicht, dass Sklaven und Sklavenhandel in seinem Sachregister gar nicht vorkommen. Die sorgfältige Durchsicht des Textes ergab, dass Lüthy die Wörter ganz selten verwendet. Selbst an Stellen, wo es genau darum ging, fehlen sie. Die 1755 gegründete, halbstaatliche Bank Leu & Cie. in Zürich kaufte wie der Kanton Bern Anteile an der «Compagnie de la Mer sud»/«South Sea Company», die nach heutigem Wissen mindestens 35’000 Sklavinnen und Sklaven einkaufte, transportierte und verkaufte, aber nirgends wird bei Lüthy deutlich, wozu die Investitionen in Bern und Zürich dienten und womit bezahlt wurde: nämlich mit Produkten der Schweizer Textilindustrie, sog. «Indiennes», die einen regelrechten Boom erlebten. Grob verschleiernd ist bei Lüthy nur von «Überseehandel» oder «sicheren Geschäften» die Rede. Der jüngste Bericht der Zürcher Historiker dagegen kann die Schweizer Beteiligung an immerhin 100 Sklaventransporten belegen und nennt die Geschäfte beim Namen. Die Monographie des Zürcher Historikers Hans Conrad Peyer, dem 1968 dieselben Quellen zur Verfügung standen wie Lüthy, verzeichnet für die Handelsfirma und Privatbank «Usteri, Escher & Cie.» mit ihrem Pariser Ableger «Rougemont, Hottinguer & Cie.» Investitionen in Sklavenschiffe mit Krediten der halbstaatlichen «Bank Leu & Cie.», was dem «Zürcher Staatsschatz einen schönen Erfolg» (Peyer) bescherte. Davon und vom wirklichen Zweck der Schweizer Investitionen wollte die monumentale Studie Lüthys aber gar nichts wissen.
Sklavenhalter werden bei Lüthy zu «Händlern auf den Antillen», «Eigentümern» oder «Plantagenbewirtschaftern» («exploitants de plantations») aufgehübscht. Nur an einer Stelle fallen unter die «gehandelten Werte/Waren» («valeurs réelles») ausser «Kaffee, Zucker und Textilien» auch «Sklaven». Das treffliche Buch von Leo Weisz, der schon 1949 über Sklavenhandel und Sklavenbesitz von Schweizern berichtete, kommt dagegen bei Lüthy, der sich offensichtlich besser auskannte, aber nicht darüber schreiben wollte, ganz schlecht weg: «zahlreiche Fehler und ohne Quellenangaben».
Während der jüngste Bericht aufgrund akribischer Forschung zum nuancierten Fazit kommt, dass Schweizer Banken und die Zürcher und St. Galler Textilwirtschaft sehr eng in dem internationalen Handel mit Sklaven und mit Produkten aus Sklavenarbeit verbunden waren, insbesondere auch der Vater und der Grossvater Alfred Eschers, präsentiert Lüthy nur die ebenso triviale wie verzerrende Einsicht: «Die Bank, das ist der Finanzdienst des internationalen Handels».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Bravo Herr Walther, endlich einmal einer, der die Wahrheit, und nur die Wahrheit berichtet.
Ich gratuliere Ihnen und hoffe, Sie unternehmen noch weitere Schritte, um die verlogene bisherige Geschichtsschreibung in richtige Licht zu rücken. Herzlichen Dank Joseph Goldinger, Grandson josyg@hispeed.ch
An und für sich ein guter Artikel, sofern er die Verstrickungen unserer Eliten in den überseeischen Sklavenhandel aufzeigt.
Jedoch gab es auch bei uns eine ausgeprägte Kultur der Sklaverei. Wenn zum Beispiel da steht «….Binnenländer wie die Schweiz, die direkt keine Kolonien besass und im Inland keine Sklavenhaltung betrieb, wie das Gutachten von drei jungen Schweizer Historikern eindrücklich belegt.» blendet man gewissentlich unsere jahrhunderte lange Geschichte der Leibeigenschaft aus. Nicht zu vergessen auch, unser bis in die letzten Jahre praktiziertes Verdingwesen, das unsägliches Leid und Verzweiflung für hunderttausende Kinder und Mütter aus armen Verhältnissen mit sich brachte. Oder sprechen Sie einmal mit Jenischen Müttern, denen von «Kinder der Landstrasse» ihre Söhne und Töchter weggenommen wurden.
@Patrick Jud – Vielen Dank für die Erinnerung an die Wanderausstellung „Geraubte Kindheit – Verdingkinder reden“ 2014 im Freilichtmuseum Ballenberg.
Es wurde eindrücklich und glaubhaft das Elend der Verdingkinder und der ‹unehelichen› Kinder vergewaltigter Mägde gezeigt.
Die Vergewaltiger waren zumeist die reichen Bauern, incl. Gemeindepräsident u. Dorfpfarrer. Die Lustbefriedigung und noch hart Arbeitende ohne Bezahlung daraus, war klar Ausbeutung.
Noch bevor es Trump gab, haben die erznationalistischen,
CH-Machteliten die Leiterin Katrin Rieder u. später Patricia Rufer, Leiterin Marketing und Kommunikation, gefeuert.
(Pardon, die Trumpisten haben ‹freigestellt›.)
Und ja, Menschen die sich und nationalistisch ‹ihren› Volksteil weit überschätzen, gehen gerne mit denen so übel um, die nicht «mit den Wölfen heulen».
Die Ideologie und Instrumentalisierung des Nationalismus ist langfristig meist nur für die Verführer bekömmlich. Ausnahme waren u.a. die gerade aktuellen «Nürnberger Prozesse» federführend noch von humanen US-Amerikanern initiert.