Wie Corona die Digitalisierung der Schulen beschleunigt
Seit wegen der Corona-Krise Homeschooling angesagt ist, sind Handys und Computer zu einem zentralen Teil des schulischen Alltags geworden. Ohne Lernplattformen und Video-Chats hätte man die Schulen für Wochen ersatzlos schliessen müssen.
Doch der Fernunterricht hat seine Grenzen: Prüfungen fallen aus und Zeugnisse werden gestrichen. Vielen Schülerinnen und Schülern wird in der häuslichen Quarantäne langweilig. Und dann noch die Frühlingsferien, die sie ebenfalls daheim verbringen mussten.
Fernunterricht kann sich zudem negativ auf die Bildungschancen auswirken – je nachdem, wie fähig und willens die Eltern sind, Homeschooling zu unterstützen. So ist es kein Wunder, dass sich viele Eltern wünschen, die Schulen würden möglichst schnell wieder öffnen. Selbst im Homeoffice gefangen zu sein und gleichzeitig noch die Kinder zu beaufsichtigen und sie zum Lernen anzuhalten, das ist für sie – je länger es dauert – eine Zumutung.
Lernen mit digitalen Medien wird in den Schulen salonfähig
Die bisherige Bilanz des Lockdown der Schulen ist aber trotz aller Unzulänglichkeiten positiv zu bewerten. Ein eigentlicher Bildungsnotstand konnte vermieden werden. Der Zwang zum Fernunterricht hat die Schulen aus ihrer Routine aufgeweckt und bei vielen Lehrkräften den Mut zur Erprobung digitaler Lernformen gestärkt: Sie arbeiten für ihre Klassen – zum Teil auf Basis von E-Learning – Lernaufgaben zum häuslichen Lernen aus; sie coachen ihre Schülerinnen und Schüler online und gehen individuell auf Lernschwierigkeiten ein. Sie drehen Lernvideos, um Dinge zu erklären, die sie vorher im Präsenzunterricht vorführten.
Lernplattformen nahmen in der Praxis bisher ein Stiefmütterchendasein ein – in Zeiten der Schulschliessungen sind sie plötzlich zu mächtigen Lernwerkzeugen geworden. Fernunterricht und digitales Lernen haben so viel Akzeptanz erhalten wie nie zuvor. Noch vor zehn Jahren hörte man Lehrer sagen: «Was brauchen wir in den Schulen das Internet. Die Schülerinnen und Schüler sind doch jeden Tag live zusammen.»
Der mühsame Start der digitalen Medien
Schon seit mehr als dreissig Jahren haben unzählige Fortbildungskurse in den öffentlichen Schulen versucht, die Lehrpersonen auf das Lernen mit digitalen Medien vorzubereiten. Die Digitalisierung der Gesellschaft erschien schon damals als eine Perspektive, die für die Bildung junger Menschen immer wichtiger wurde. Leider blieb von diesen Fortbildungen vieles Theorie und wurde im Schulalltag nicht umgesetzt. Die Medienpädagogik blieb zwischen den bestehenden Fächern eingeklemmt und hatte kaum Raum, sich zu etablieren.
Auch der erhoffte Schub durch den Lehrplan 21, wo «Medien und Informatik» erstmals als eigener Kompetenzbereich ausgezeichnet wurde, blieb an vielen Orten aus. Eigentlich sollte man die damit umrissenen Themen ja im beginnenden Zeitalter der Digitalisierung aufgreifen – doch der ohnehin schon überfüllte Schulalltag führte oft zu Abstrichen und zur Ausrede, dass man zu wenig Zeit für medienpädagogische Themen habe. Wenigstens haben die Pädagogischen Hochschulen in den letzten Jahren die Medienpädagogik als Fach entdeckt. Ohne solche Kurse, an die sich die Lehrerinnen und Lehrer nun erinnern können, wäre der Unterricht im über die Schulen verhängten Ausnahmezustand zur Katastrophe geworden.
Doch der Ausnahmezustand wird nicht einfach aufhören, wenn die Schulen langsam wieder in die Realität des Präsenzunterrichts zurückfinden. So forderte der Dachverband der schweizerischen Lehrerinnen und Lehrer (LCH) gerade, dass mit der geordneten Rückkehr zum Präsenzunterricht ein praxistaugliches Schutzkonzept vorliegen müsse.
Die Öffnung der Schulen beim Abflauen von Corona
Gemäss LCH müssen Hygienevorschriften und Distanzregelungen altersgerecht im Schulalltag umgesetzt werden. Zudem sollen Lehrerinnen und Lehrer, die selbst einer Risikogruppe angehören, besonders geschützt werden.
Zu lösen sind also Fragen, wie der Abstand zwischen den Schülerarbeitstischen vergrössert werden kann oder wie man auch kleine Kinder zur sozialen Distanz anhalten kann. Bei kleineren Schulzimmern wird man vermehrt auf Halbklassen ausweichen müssen und gleichzeitig die Präsenzzeit der Klassen kürzen. Ältere Lehrkräfte aus den Risikogruppen könnten dabei schwerpunktmässig die Betreuung im Fernunterricht übernehmen.
Sozialkompetenzen zu üben wird möglicherweise besser gehen, wenn man solche Aktivitäten auf den Pausenplatz verlagert und so die stickigen Schulzimmer entlastet. Auch wird sich der Präsenzunterricht vor allem auf zentrale Fächer wie Mathematik, Lesen und Schreiben beschränken.
Insgesamt stehen weder genügend Räume noch Zeit zur Verfügung, um den normalen Lehrplan umfassend in den Schulen umzusetzen. Kein Zweifel: Der Fernunterricht wird die Schulen noch eine lange Zeit beschäftigen, bis das Virus wieder Normalität zulässt.
Die Zukunft des digitalen Lernens in der Schule
Doch was geschieht mit der Digitalisierung in der Nach-Corona-Zeit? Ist sie nur der Notnagel für ein beschädigtes Bildungssystem, bis man wieder zum Normalzustand übergehen kann? Doch Digitalisierung als reine Notlösung aufgrund der Epidemie ist nur ein halbbatziger Ansatz. Fernunterricht, wie er jetzt praktiziert wird, bedeutet ja vor allem, ein Minimum von Schule zu erhalten, indem Schülerinnen und Schüler Aufgaben aus Distanz zu Hause bearbeiten.
Bestehende digitale Lernmittel sind meist nur eine Ergänzung des Präsenzunterrichts. Die eigentliche Vermittlung von neuen Inhalten findet nach wie vor im Präsenzunterricht statt. Oder wie es eine Lehrperson formuliert: «Ich muss den Schülern den Stoff erklären und ihn mit ihnen in der Klasse bearbeiten. Sonst verstehen sie es nicht.»
Dennoch haben die Erfahrungen mit selbstorganisiertem Lernen der Schülerinnen und Schüler einen neuen Wind gebracht. Denn eines hat der Fernunterricht bereits gezeigt: Schülerinnen und Schüler haben Spass am digitalen Lernen und sind trotz aller Anfangsschwierigkeiten bereit und fähig, viel mehr selbstorganisiert zu lernen, als dies in der Vor-Corona-Schule üblich war. Dazu braucht es allerdings Begleitung und ein intensives Coaching durch die Schule.
Digitales Lernen kann so zu einer Revolution des Lernens beitragen, wenn die im Corona-Stress gelernte Lektion des selbständigen Lernens als Teil des schulischen Alltags erhalten bleibt und in Lehrplänen und Schulkonzepten als eigenständiger Teil zum Ausdruck kommt. In Zukunft sollten deshalb wenigstens anderthalb Schultage pro Woche digital und nicht in Präsenz gelernt werden.
Für eine solche Neuorientierung der Schulen werden neue Formen der Didaktik wichtig sein. So wird in Fachkreisen das Konzept des Flipped Classroom diskutiert. Dieses «umgekehrte Lernen» bedeutet, dass zuhause nicht einfach über Hausaufgaben der Unterricht nachbereitet wird. Im Flipped Classroom wird dies umgedreht: Einführung und Erklärungen zu einem Thema werden in die Vorbereitung vorverlagert – etwa durch Arbeit mit Videos und Schulbüchern. Im Präsenzunterricht wird das Lernen dann vertieft.
Das Lernen über Medien darf nicht vergessen werden
Eine verstärkte Digitalisierung der Schule geht allerdings über das Lernen mit Hilfe von Medien hinaus. Im Notunterricht der letzten Wochen ist fast untergegangen, dass es in dem Fach «Medien und Informatik» auch um das Lernen des Umgangs mit digitalen Medien geht.
Einerseits geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler lernen, Videos im Unterricht besser zu nutzen, mit Online-Aufgaben sachgerecht zu arbeiten und Programme wie «Word» oder «PowerPoint» zu beherrschen. Darüber hinaus ist «Computational Thinking», also das Erlernen von informatischen Grundkenntnissen, wichtig. Ohne Kenntnisse, wie die Informatik- und Medienwelt funktioniert, werden Schülerinnen und Schüler nicht verstehen, was hinter der gesellschaftlichen Digitalisierung steckt.
Sie sollten medienkritisch darüber nachdenken, dass die Digitalisierung oft zwei Gesichter zeigt: Ist das Tracking der Daten ein Schritt aus der Corona-Pandemie heraus oder ein Schritt in den dauerüberwachten Kontrollstaat? Die Schulen können zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den sozialen Medien beitragen, indem sie die Regeln einer respektvollen Online-Kommunikation im alltäglichen Austausch zwischen den Schülerinnen und Schülern praktizieren.
Digitales Lernen ist für die Schulen eine Chance für die Nach-Corona-Zeit. Diese sollte nicht vertan werden, indem man möglichst schnell eine medienlose Schule zurückwünscht oder das Medienlernen auf das Praktizieren von Fernunterricht beschränkt. Für das Leben in einer digitalen Gesellschaft wird es notwendig sein, dass «Medien und Informatik» in der gesamten Breite der Bedeutung in den Schulen Gewicht erhält.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Heinz Moser war Professor für Medienpädagogik an der Universität Kassel und bis zur Pensionierung an der PH Zürich tätig.
Solange dem Menschen keinen PC in den Kopf implantiert werden kann, werden die cognitiven Fähigkeiten wie Gedächtnis, Verknüpfungen von Inhalten, Aushalten von Paradoxien etc – eng mit emotionalem Erleben verbunden sein. Und dies ist – besonders im Schulalter- nur möglich dank direkten Kontakt und Arbeit/Freizeit mit Lehrpersonen und Mitschülern. Virtuelle Realität wird nie Realität ersetzen können ,auch nicht im Lernprozess, auch wenn sie, wie jetzt, als hilfreiche «Krücke» eingesetzt werden kann.
Es verdient Bewunderung, mit wie viel Energie Lehrerinnen und Lehrer die Herausforderung des Fernunterrichts angepackt haben. Für eine Bilanz ist es aber noch viel zu früh. Über den Lernerfolg in diesen Wochen wissen wir noch gar nichts. Aussagen wie «Schülerinnen und Schüler haben Spass am digitalen Lernen» sagen einiges über ihren Urheber und nichts über die Schülerinnen und Schüler aus.
Die dringlichste Aufgabe nach Wiederbeginn des Unterrichtes wird sein, jene Kinder wieder auf die Spur zu bringen, welche Mühe mit dem selbständigen Lernen hatten. Das sind wohl häufig genau diejenigen, welche schon vorher die schwächsten waren.
Die Auswertung dieses unfreiwilligen Schulversuchs eilt nicht besonders. Dafür muss sie umso sorgfältiger gemacht werden. Das gelingt besser, wenn die Nerven allerseits wieder etwas beruhigt sind.
Digitalisierung heisst ja nur, Anwendung elektronischer Medien. Und bitte nicht zu verwechseln mit Funkanwendungen, wie dies die meisten intuitiv noch tun. In der sogenannten Corona-Krise noch mehr, weil die Kleinen nun sogar gezwungen werden, mit Handys zu arbeiten. Die Digitalisierung wird auch durch die Digitale Offensive (sic!) des Bundes faktisch so weitergetrieben, aufklärende Information zu den Gesundheitlichen Risken: Fehlanzeige. Die dauernde Bestrahlung fördert aber Lernschwierigkeiten, wie der vergessliche Martin Röösli schon einmal herausgefunden hat. Und das herumklappern mit elektronischem Spielzeug reduziert die zentralen menschlichen Fähigkeiten, die wir in früher Jugend uns aneignen sollten. Fragt Kindergarten-Lehrpersonen, fragt Manfred Spitzer und andere….
Für die Lehrpersonen war und ist die aktuelle Fernlehr-Episode nur Stress – sie sehen, wie diejenigen, die auf physische Präsenz eines Menschen aus Fleisch und Blut angewiesen sind (die Lernschwachen…Unterprivilegierten, ….) nun seit bald zwei Monaten unter die Räder kommen. Digitalisierung in kleinen Dosen: ja; reflektiert: ja. Allheilmittel: nein.
Mehr zum Problem der verstrahlten Kinderwelt:
https://www.diagnose-funk.org/themen/mobilfunk-anwendungen/wlan-an-schulen
Als ehem. Hochschulabsolvent und dipl. Berufsschul- und HF Lehrperson meine praktische Sicht: Die Aussage zum «Lernen des Umgangs mit digitalen Medien» unterstütze ich voll. Alles andere nur zum Teil. Es beginnt schon mit der Gleichstellung von Digitalisierung mit Mediendidaktik und Internet inkl Lernplattformen. Digitalisierung heisst analoge Daten in digitale Form umzuwandeln. Digitalisierung weitergefasst, heisst die Weiterverarbeitung und Nutzung dieser Daten für schnelleres oder besseres Arbeiten oder Produkte. Der Artikel beschäftigt sich aber – nebst dem Lernen mit dem Umgang – mit Medieneinsatz und der Nutzung des Internets. Beides war schon lange vor der Digitalisierung möglich und wurde auch angewendet. Unabhängig der Digitalisierung und lange vor Corona wurden und werden die Lehrpläne nach Handlungskompetenzen umgeschrieben. «Die Lehrpersonen vergibt…. jeweils einen passenden Lernauftrag. Anhand deren erarbeiten die Lernenden selbtoerganisiert Grundlagenwissen.» (SSHL, Info 1/20). Nichts Neues also, so wie auch Medien seit Jahrzehnten und Lernplattformen schon länger immer mehr eingesetzt werden. Fernunterricht FU hat den Vorteil, weder Reisezeit noch Raum zu benötigen. Ausserdem, dass zeitlich individuelles arbeiten möglich ist. Alles andere kann auch im Präsenzunterricht durchgeführt werden!! Die im Beruf wichtige Sozialkompetenzen kommen aber im FU zu kurz. Das erwähnte Coaching ist dabei eingeschränkt, die Lehrperson erkennt zB kaum wie es dem Schüler geht.