Engelberg

Ein Ferienparadies? Sicher aber ein Wallfahrtsort für Interessierte! © gk

Grenzen einhalten – oder Grenzen eher überwinden?

Christian Müller /  Einmal im Jahr treffen sich Wissenschafter in Engelberg. Sie reden miteinander – über die Grenzen ihres Faches hinweg.

Engelberg. «Willkommen im grössten Sommer- und Winterferienparadies in der Zentralschweiz», ist da, im Internet, zu lesen.

Ein Paradies?

Das Dorf, auf 1000 Meter über Meer im Kanton Obwalden gelegen, mit etwas mehr als 4000 Einwohnern, ist, seien wir mal wohlwollend, eine bekannte Touristendestination: eine ziemlich hässliche Ansammlung von grossen und kleinen Gebäuden. Klassisch-formvollendete Hotels aus der Gründerzeit neben abstossenden mehrstöckigen Zweckbauten, dazwischen und rundherum Hunderte kleine und grosse Ferienhäuser, vom Berner Chalet über 0815-Mittelland-Häuschen bis zum hypermodernen Glas-Beton-Protz-Block. Einfach alles, und alles durcheinander. 4000 Gästebetten und 800’000 Übernachtungen. Nein, ein Paradies sieht anders aus.

Wenn da der Titlis nicht wäre…

Es sind die Berge, die Engelberg bekannt gemacht haben. Die Skipisten! Und dies mit den bekannten Nebenerscheinungen. Gäste im Sommer zum Wandern, Hochbetrieb im Winter. Dazwischen tote Hose. Die ankommenden Busse tragen das Kennzeichen von Slowenien, die herauspurzelnden Gäste mit ihren Koffer-Trolleys kommen aus dem Fernen Osten. Irgend ein global operierendes Reisebüro hat doch noch Leute gefunden, die so ein schweizerisches Ferienparadies besuchen wollen. Zu welchem Preis auch immer.

Das Kloster ist’s, der Genius Loci!

Aber es gibt einen Grund, nach Engelberg zu reisen. Auch in der Tote-Hosen-Zeit. Denn in Engelberg steht auch ein Kloster. Seit dem Jahr 1120 beten, arbeiten und lesen hier Mönche des Benediktiner Ordens. Und seit ungezählten Jahren betreiben sie hier auch eine Schule: die Stiftsschule. Rund 70 Schülerinnen und Schüler leben hier im Internat, um am Ende die eidgenössisch anerkannte Matur zu bestehen. Die Referenzen tönen gut.

Und einmal im Jahr, im Oktober, beflügelt der Genius Loci, der Geist des Ortes, The Spirit of the Location, auch Zugereiste. Seit 15 Jahren findet hier, teils im Kloster, teils im barocken Kursaal, nämlich die Tagung der Academia Engelberg statt. Und diese Tagung ist, Engelberg hin, Engelberg her, die Reise wert. Denn hier treffen sich Wissenschafter und Wissenschafterinnen verschiedenster Universitäten und Disziplinen, um ein gemeinsames Thema zu diskutieren: interdisziplinär, also nicht einäugig, nur aus einer Sicht, aus der Sicht des Fachidioten, sondern bewusst angegangen und beurteilt aus verschiedenen Blickwinkeln.

Grenzen überschreiten oder Grenzen setzen und einhalten?

In diesem Jahr waren es Grenzen, die da in Frage gestellt wurden, Grenzbereiche: die Grenzen eines Territoriums, Grenzen der Forschung, Grenzen des medizinischen Einsatzes, Grenzen der genetischen Manipulation; oder aber auch Grenzen der Sprache. Ein wahrhaft brandaktuelles Thema!

Schon der Auftakt der diesjährigen Tagung war hoch spannend. Professor Detlef Günther von der ETH Zürich schilderte, wie er in seiner Jugend in der DDR die Grenze erlebte, die Staatsgrenze, die er nie überschreiten durfte. Und er erzählte, wie seine Neugier, auf die andere Seite der Grenze zu schauen, dazu führte, dass er in die Forschung ging, dort Grenzen zu überschreiten suchte, zum Beispiel Mikroskope entwickelte und baute, die bisherige technische Grenzen weit überschritten und Dinge sichtbar machten, die vorher unerreichbar schienen. Heute ist Detlef Günther Vizepräsident und zuständig für Forschung und Wirtschaftsbeziehungen der ETH Zürich.

Ein Highlight der dreitägigen Tagung war auch der zweite Halbtag, der dem Thema «Recht auf ein Kind» gewidmet war. Professorin Andrea Büchler von der Universität Zürich gab einen Überblick, was heute schon alles möglich und, je nach Staat, erlaubt ist, um ein eigenes Kind zu bekommen. In Kalifornien etwa darf ein alleinstehender Mann, so er das Geld hat, «Vater» eines «eigenen Kindes» werden, für das er den samenspendenden Mann, die die Eizelle spendende Mutter und die das Kind in ihrem Leib austragende Frau aus einem kommerziell bereits grossen Angebot frei auswählen kann. Und mehr noch: Bereits ist das erste Kind geboren, bei dem ein gesundheitlich problematischer Teilbereich der genetischen Anlagen durch den entsprechenden Teilbereich einer anderen Eizelle ersetzt worden ist: das erste Baby nach Mass, sozusagen.

In der Schweiz sind solche Manipulationen noch weitgehend verboten. Aber wer sich ein Kind wünscht und keines kriegt, reist eben in ein anderes Land. Der Tourismus blühe, meinte die Rechtsprofessorin, und liess durchblicken, dass sie nicht zuletzt deshalb auch eher für eine liberalere Gesetzgebung eintrete. Das Recht der Eltern und ihr Kinderwunsch müssten hochgehalten werden.

Zeigte auf, was in der Fortpflanzungsmedizin schon alles möglich und was wo bereits erlaubt ist: Prof. Dr. Andrea Büchler (Foto Studhalter)

Frage aus dem Publikum: Das Recht der Eltern in Ehren, aber wer vertritt dann das Recht des Kindes? Die Rechtsprofessorin verwies auf ein juristisches Paradox: Das Kind, das da «geschützt» werden sollte, gibt es nur dank dieser Eingriffe der Medizin. Es kann aber kein Recht eines Kindes geben, das gar nicht existiert! Und noch gibt es kein Recht auf Klage gegen die eigene (künstlich beförderte) Existenz…

Professorin Andrea Büchler ist heute Präsidentin der schweizerischen Nationalen Ethik-Kommission NEK. Ob da ausgerechnet eine Juristin hingehört?

Da war es schon fast eine Erleichterung, dem Chefkinderarzt des Regionalspitals Lugano, Valdo Pezzoli, zuzuhören. Er schilderte die schwierige Situation bei sehr frühen Frühgeburten, bei denen ein Überleben des Frischgeborenen medizinisch zwar schon oft ermöglicht werden kann, aber eine – lebenslange – Behinderung hochwahrscheinlich ist. Wie wohltuend für Eltern, wenn sie da einen verantwortungsvollen Arzt und Menschen als Gesprächspartner haben!

Der Tessiner Kinderarzt Valdo Pezzoli ist kein Freund der Forderung, alles medizinisch Mögliche auch immer anzuwenden (Foto Studhalter)

Grenzen der Sprache

Ein Höhepunkt der Tagung war auch der letzte halbe Tag, an dem zuerst Kristina Zumbusch von der Universität St. Gallen über Regionen referierte, also über meist nicht klar begrenzte «Territorien» und deren Kooperationsformen. Speziell interessant waren ihre Ausführungen zur Region Bodensee – mit besonderem Hinweis auf den Obersee, wo es keine definierte Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz gibt! Das ist denn auch der Grund, warum die Schweiz behauptet, 362 km gemeinsame Grenze mit Deutschland zu haben, Deutschland aber behauptet, nur 316 km gemeinsame Grenze mit der Schweiz zu haben. So eine Differenz zwischen zwei Staaten – und trotzdem immer noch kein Krieg?

Professor Peter Auer von der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau blieb es vorbehalten, einen weitverbreiteten Irrtum auszuräumen. Meint Krethi und Plethi nämlich, dass die Grenzen der Nationalstaaten vor allem aufgrund einheitlicher Sprache entstanden seien, so beweisen langjährige Forschungen, dass – umgekehrt – politisch festgelegte Staatsgrenzen die sprachliche Homogenität erst erzeugen helfen.

Prof. Dr. Peter Auer aus Freiburg im Breisgau referierte über den Einfluss von Staatsgrenzen auf die Vereinheitlichung von Sprachen (Foto Studhalter)

Virulent wäre diese Forschungserkenntnis im Moment vor allem in der Ukraine, wo die ukrainische Redensweise vom ehemals russischen Dialekt durch politische Akte zur eigenständigen Sprache mutierte und heute dem extremen Nationalismus als Legitimation dient. («Ob etwas Sprache ist oder Dialekt, ist eine Entscheidung der Politik.» Prof. Dr. Nada Boskovska, Osteuropastudien, Universität Zürich.)

2017 ist Überdenkpause

Die Tagung der Academia Engelberg, die auch diesmal in enger Zusammenarbeit mit dem Collegium Helveticum der ETH Zürich und unter aktiver Teilnahme von Prof. Gerd Folkers, dem neuen Präsidenten des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrates, durchgeführt werden konnte, war erneut informativ, lehrreich und spannend. Gut 20 Vorträge und Panelgespräche standen auf dem Programm, dazu zwei Musikveranstaltungen im Kloster und ein abendlicher Ausflug auf den Titlis. Auch ein öffentlicher Diskussionsabend mit Panelgespräch im Kursaal gehörte wieder dazu.

War immer ein guter Moderator und landete gelegentlich auch einen Scherz: Prof. Dr. Gerd Folkers (Foto Studhalter)

Nächstes Jahr wird die Tagung allerdings ausfallen. Wie Hans Groth, der Präsident der Stiftung Academia Engelberg, sagte, will man das Konzept in Ruhe überdenken. Zur Diskussion steht nicht der Kernpunkt der Tagung, die interdisziplinäre Betrachtung und Diskussion, wohl aber die heutige Beschränkung auf einen einmal im Jahr stattfindenden Event. Gute Referenten zu beschaffen und eine ganze Tagung zu organisieren, ist nicht einfach, da sollten aber mehr Leute profitieren können, als nur gerade die etwa hundert Teilnehmer, die angereist kommen. Auch auf die Medien ist ja kein Verlass mehr. Mit Ausnahme der Luzerner Zeitung und dem Bote der Urschweiz hat dieses Jahr keine Zeitung über den Anlass berichtet. Den Journalistinnen und Journalisten steht die Zeit, an einer Tagung einer längeren Diskussion zuzuhören und ausführlich darüber zu schreiben, nicht mehr zur Verfügung. Und nur mit der Copy-Paste-Taste lässt sich über so eine Tagung eben nicht berichten. In irgendeiner Form aber sollte die interdisziplinäre Diskussion sogar gestärkt und permanent geführt werden.

Grosser Aufwand und perfekte Organisation für eine beschränkte Anzahl Gäste: ein Blick in den Kursaal an der Tagung der Academia Engelberg (Foto Studhalter)

Aber eben, unterm Strich: drei gut investierte Tage, auch wenn sie in die Engelberger Tote-Hose-Zeit fielen, wo im 4-Sterne-Hotel um 20 Uhr die Küche schon geschlossen ist und im 3-Sterne-Hotel das Einerli Weisser Merlot aus dem Tessin trotzdem 8 Franken 50 kostet.

Es bleibt zu hoffen, dass die Öffentliche Hand, die Universitäten, aber auch die paar wenigen privatwirtschaftlichen Sponsoren (darunter etwa die Helvetia Versicherung), bei der Stange bleiben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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