Fadenscheinige Argumente für Bildschirmwerbung in der Stadt
psi. Die Werbebranche ist in die Offensive gegangen und Verlage nutzen ihre eigenen Publikationen für die Verbreitung einseitiger Narrative. Deshalb kontert hier Christian Hänggi mit einem Gastkommentar. Hänggi ist Präsident der IG Plakat Raum Gesellschaft. Der Verein setzt sich für weniger Aussenwerbung im öffentlichen Raum ein.
Seit der Zürcher Gemeinderat eine Motion überwiesen hat, die eine Reduktion der Aussenwerbung und einen Verzicht auf Werbebildschirme im öffentlichen Raum fordert, ist die Werbebranche in Aufruhr. Graumelierte Werber und konservative Politiker werden um Meinungen gebeten, es gibt eine Petition dagegen, und eine Werbekampagne obendrauf. Diesen Stimmen gemein sind, so mein Eindruck, fehlende Nüchternheit und Sachlichkeit.
Praktisch durchwegs weisen die Argumente logische oder inhaltliche Fehler auf, verzerren Sachverhalte (63 Prozent KMU-Werbung), schüren Angst («Pjöngjang»), lenken vom Thema ab (Tradition der Schweizer Plakatgrafik) oder sind zum Kulturkampf stilisierte Polemik: «Sobald rot-grün regiert, wird es irgendwann grau» (Werbelobbyist und Verleger Matthias Ackeret).
Die Lokalmedien befragen brav die Pro- und die Kontra-Seite. Sie unterlassen es aber, kritische Rückfragen zu stellen. So wird Sachpolitik zur blossen Meinungsäusserung. Als Aktivist, Bürger, Konsument, Akademiker und Texter befasse ich mich seit vielen Jahren mit den Argumenten, die die Werbeindustrie vorbringt. Ich möchte einige davon hier einordnen und kommentieren.
Demokratie – für wen?
Der Zugang zum öffentlichen Raum ist ein Grundpfeiler einer funktionierenden Demokratie. In dem Moment, in dem nur noch die Meinung verbreiten kann, wer ein privates Unternehmen dafür bezahlt, ist dies nicht mehr gewährleistet. Und dennoch wird von den Aussenwerbe-Apologeten stets auf die Demokratie referiert. Dies geschieht aber auf eine schwammige Art, die alles und nichts bedeutet.
Ein FDP-Gemeinderat sagte mir einmal, dass die kommerzielle Plakatwerbung per se demokratisch sei – weil sie sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewege. Derselbe Gemeinderat sagte mir nach der Abstimmung über die Motion, dass die Abstimmung gar nicht demokratisch gewesen sei.
Ähnlich der Werber Frank Bodin. Er sagte auf Tele Z, dass ein Werbeverbot undemokratisch sei. Zwei Sätze später enervierte er sich aber darüber, dass möglicherweise Politwerbung vom Werbeverbot ausgenommen werden könnte. Dazu, dass diese die Funktion der Debatte im öffentlichen Raum erfüllt, egal ob sie uns gefällt oder nicht, hat er nichts zu sagen.
Instrumentalisierte KMU
Der Werbeindustrie ist es gelungen, konservativen Politiker:innen und dem Gewerbe glauben zu machen, dass KMU unter Einschränkungen für Aussenwerbung zu leiden haben. Vor zwei Jahren schrieb Christoph Marty, CEO von Clear Channel, sämtliche Mitglieder des Zürcher Gemeinderats an. Er behauptete, dass lokale KMU-Werbung 50 Prozent der Werbung ausmache. Dass dies nicht stimmen konnte, musste allen klar sein, die sich durch den öffentlichen Raum bewegen.
Infosperber hat denn auch nachgewiesen, dass dies eine haltlose Behauptung war. Die von mir präsidierte Organisation IG Plakat | Raum | Gesellschaft hat nachgezählt: nur rund 3 Prozent der Werbeflächen in Zürich werden von KMU in Anspruch genommen (und lediglich 1 Prozent von lokalen KMU). Bei den Werbescreens ist es ungefähr 0 Prozent. Doch statt sich zu korrigieren, gab die Werbeindustrie nach diesem Debakel bei PwC eine Erhebung in Auftrag.
Darin steht: «KMUs machen insgesamt rund 63 Prozent des gesamten Kundenstamms aus.» Allerdings handelt es sich bei der erhobenen Kategorie nicht zwingend um KMU, sondern Auftraggebende, die weniger als 10’000 Franken für Aussenwerbung ausgeben. Diese Zahl wird jetzt stets in einem Zusammenhang genannt, der suggeriert, dass 63 Prozent der Plakate und Bildschirme für KMU werben, anstatt 0 bis 5 Prozent.
So sagte Alessandro Siviero, Marketingdozent an der Tessiner Fachhochschule SUPSI einem Beitrag auf Rete Uno, dass diese Motion sogar eine Chance für KMU sein könnte, die neben den grossen Werbeauftraggebenden (die etwa 87 Prozent des Volumens ausmachen) schlicht untergehen.
Kreativ interpretierte Geldflüsse
Wenn es ums Geld geht, hat die Werbeindustrie auch stets eine kreative Lesart zur Hand. Beispielsweise interpretiert die Lobbyorganisation «Aussenwerbung Schweiz» die oben genannte PwC-Erhebung folgendermassen: «Für jeden Franken Bruttoumsatz fliessen insgesamt rund 0.6 Franken direkt und indirekt als finanzielle Beiträge zurück an die Bevölkerung und die öffentliche Hand.» Insgesamt soll es sich dabei um 481 Millionen Franken handeln.
Doch in die «Bevölkerung» rechnet der Branchenverband auch die Löhne und Sozialabgaben ihrer Angestellten, wobei die Vergütungen für die Unternehmensleitung von APG|SGA allein bereits fast 4 Millionen Franken ausmachen.
Bei 182 Millionen Franken, die an die «Öffentlichkeit» zurückfliessen sollen, handelt es sich um Aufwand für den Erwerb und Einbau der Werbescreens und die Reinigung der Werbeflächen – also die Grundlage für das eigene Geschäft.
47 Millionen Franken sollen Spenden und Rabatte für gemeinwohlorientierte Organisationen sein. Dies ist doppelt zu relativieren. Erstens erhalten diese Organisationen für wenig oder kein Geld Werbeflächen, wenn gerade Leerstand ist. Das ist immer der Fall, weil es ein grosses Überangebot an Werbeflächen gibt. Zweitens wird hier wohl der Marktpreis für 1000 Kontakte angewendet. Diese Kontakte sind aber fiktiv und viel zu hoch ausgewiesen, wie ich in einer Untersuchung festgehalten habe.
Mit etwas Transparenz und Ehrlichkeit schwinden so die 481 Millionen Franken für Bevölkerung und öffentliche Hand auf 152 Millionen Franken schweizweit. Das ist immer noch viel Geld, aber weniger als ein Drittel dessen, was die Industrie uns glauben macht. Aus den 60 Rappen, die pro Franken zurückfliessen sollen, werden etwa 20 Rappen. Was an die Stadtzürcher Kasse zurückfliesst, ist vernachlässigbar angesichts des letztjährigen Überschusses von über einer halben Milliarde Franken.
Der wichtigste Punkt, der unterschlagen wird: Es gibt kein Geld aus dem Nichts. Es sind immer und ausschliesslich die Konsument:innen, die über ihren Konsum die Werbung finanzieren (rund 45 Franken pro Person und Jahr, nur Schaltkosten, ohne Kreation und Produktion). Und selbst, wenn der oben genannte Faktor 0.6 stimmen würde, dann bedeutete es immer noch, dass 40 Prozent des Umsatzes, der mit dem öffentlichen Raum gemacht wird, nicht zurück an die Allgemeinheit fliesst.
Die bösen Tech-Konzerne
Ein eher neues «Argument», das sich die Werbebranche und die konservativen Politiker:innen in Exekutive und Legislative zu eigen gemacht haben, lautet: Wenn das Geld nicht mehr in die Aussenwerbung – und damit in die Stadtkasse – fliesst, dann fliesst es automatisch zu den Silicon-Valley-Konzernen in Form von Internetwerbung. Zu dieser Spekulation ist zu sagen: Der Aufstieg der Online-Werbung hat zu einem massiven Einbruch der Werbeeinnahmen bei Medien mit journalistischen Inhalten geführt – nicht aber bei der Aussenwerbung.
Diejenigen, die jetzt poltern, haben sich damals nicht für die redaktionellen Medien starkgemacht, sondern haben oft selbst Verträge mit Online-Werbevermarktern abgeschlossen. Anstatt dem Defätismus zu verfallen, könnten die zahlreichen Lobby- und Branchenorganisationen der Werbeindustrie die befreundeten Werbeauftraggebenden dahingehend beeinflussen, dass sie nicht in Google, Meta und Apple investieren. Und von wegen Wertschöpfung: Die Techkonzerne, denen der Stadtrat den roten Teppich ausgerollt hat, beschäftigen rund 7500 Menschen in Zürich, die Plakatgesellschaften rund 150. Es ist wahrscheinlich, dass erstere allein deshalb eine deutlich höhere Wertschöpfung für den Standort Zürich erzielen.
Fakten oder Geschichten?
Nachdem sich herausgestellt hatte, dass ein in der NZZ zitierter FDP-Gemeinderat die Anzahl Werbeflächen in Zürich um den Faktor 8 unterschätzt hatte, sagte er mir beim Bier: «Du kommst immer mit deinen Fakten. Die Fakten interessieren mich nicht. Du musst mir eine gute Geschichte erzählen.»
Daraufhin habe ich aufgezeigt, dass Unternehmen wegen viel zu hoher Kontaktzahlen von den Plakatgesellschaften übervorteilt werden. Bis heute denke ich, dass es eine gute Geschichte ist, auch wenn sie von der Werbeindustrie totgeschwiegen wird.
Daraufhin kam aber die Antwort: «Plakatwerbung gehört für mich einfach dazu.» Und vielleicht ist das die Moral der Geschichte. Es geht nicht um Argumente, es geht nicht um Fakten. Es geht auch nicht um Dialog. Die Werbeindustrie will einfach die eigenen Privilegien verteidigen.
Sie weiss sehr wohl, dass ihr Geschäft eigentlich illegitim ist. Denn ohne unsere Einwilligung verkauft sie unsere Aufmerksamkeit. Und ohne, dass ihr der öffentliche Raum gehört, verkauft sie ihn an die Grosskonzerne.
Die Ungeheuerlichkeit ist, dass sich jemand erdreistet, dieses Geschäft in Frage zu stellen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Christian Hänggi ist Präsident der IG Plakat | Raum | Gesellschaft.
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