Kommentar

kontertext: Warum Lars die Chipspackung misshandelt

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Heimlich ballt er immer öfter die Faust, Ämter und Fachstellen sähe er am liebsten abgefackelt. Werdegang eines Wutbürgers. Teil 3.

Post vom Arbeitgeber, sowas fischt man an einem Zwölften ungern aus dem Kasten. Kann ja eigentlich nur die Kündigung sein. Stattdessen liest Lars, dass er ab sofort keinen ausgedruckten Lohnausweis mehr bekommt. Auf einem neu geschaffenen Portal soll er sich einloggen, um alles herunterzuladen, was er für die Steuererklärung braucht.

Wieder einmal soll er den Job jener Bürofritzen tun, von denen man sich ohnehin fragt, wozu sie eigentlich gut sind. Etwa, um einen Werktätigen wie Lars mit solchem Kram zu belasten?

Im Treppenhaus stampft er auf. Das schmerzt – die Fussentzündung ist noch nicht verheilt. Um die Prämien zu zügeln, hat er seine Franchise derart hochgeschraubt, dass er bald nicht mehr weiss, wie eine Arztpraxis von innen aussieht. Letzten Mai liess er seinen Fuss erst röntgen, als bereits der Knochen befallen war. Und der Doktor hat ein Gesicht gemacht, als sei Lars selber schuld, wenn ein bekiffter Azubi ihm über den Fuss fährt.

«Dafür lassen andere sich die Hamsterbacken liften, um etwas fürs Sozialprodukt zu tun – auf Kosten der Allgemeinheit», so ungefähr hat er geantwortet, und der Doktor hat ziemlich betreten aus seinem weissen Kittel geguckt.

Zum Beispiel diese Kunstturn-Familie von der dritten Etage: Die Kids sind dauerverletzt, und auch die Mutter fährt fast wöchentlich mit ihrem SUV zur Quartierpraxis, obwohl sie für den Stufenbarren wohl zu fett ist. Kein Wunder, explodieren die Prämien, wenn die Leute für jeden Mückenschiss eine Zweitmeinung einholen.

Zürcher Preise

Lars knallt den Wisch mit dem Login-Kram auf den Küchentisch. Service um Service wird eingestellt, und auf Merkblättern wird erklärt, warum das zum Vorteil des Endkunden sein soll. Ja, Endkunde, das könnte er sich mal auf den Grabstein ritzen lassen: So wie der unbekannte Soldat, der seinen Namen auf dem Schlachtfeld liess, gibt er den seinen ab im Umgang mit der Bürokratie.

Lars öffnet ein Fenster, er braucht frische Luft. Vor den Fenstern pfeifen frohgemut die paar Vögel, die noch übrig sind, seit die Verwaltung ohne Vorwarnung die beiden Birken fällen liess. Der Frühling, die schönste Jahreszeit. Bald Mai, der Wonnemonat. Kann ja heiter werden, etwa, wenn man ein Benutzerkonto eröffnen soll. Anmeldenamen, Passwörter und Zugangscodes verfilzen sich in Lars’ Kopf zu einem Gespinst, das ihn bis in die Träume verfolgt. Die neue Krankenkasse, zu der er nur übergelaufen ist, um ein paar Zerquetschte zu sparen, hofft offenbar, dass er von vornherein auf seine Ansprüche verzichtet, nur weil ihm dieser Computerkram über den Kopf wächst. So zumindest versteht er diese Seite, wo man Kosten rückfordern kann. Ständig stürzt sie ab oder gibt Fehlermeldungen aus.

Nein, er wird keine weitere App laden, auch nach der tausendsten Aufforderung nicht. Egal was die Erschwernisse sind, die man ihm aufbürdet, Gebühren für die Papierrechnung, die Stunden in der Hotline und den Aufpreis fürs Schaltergeschäft. Lieber lässt er sich weiter abzocken, als diesen Online-Wahn mitzumachen.

Hinaus an den Rand

Lars’ Idee, die Digitalisierung sei ein Werk Goliaths, um die Davide dieser Welt über den Tisch zu ziehen, hält Stine für ein Hirngespinst. Sie findet, er sei ein wenig paranoid. Ist er nicht. Lars ist ohne Dachschaden aus der Pandemie hervorgegangen. Trotzdem glaubt er, dass Menschen wie Stine und er abgedrängt werden sollen, irgendwo hinaus an den Rand, wo die Mundfäule herrscht, wo man Dauerwerbesendungen schaut, seine Kinder prügelt und aus dem Pappteller isst.

Uruguay, Lappland oder Patagonien wären Länder für ihn. Aber was müsste er als Auswanderungswilliger tun? Formulare einreichen. Und die gibt’s nur im Internet – die musst du erst mal finden, ausfüllen, ausdrucken, einscannen und im richtigen Dateiformat einsenden. Vertippst du dich nur ein einziges Mal, beginnt der Tanz von vorn. Lars sieht die Dialogzeilen vor sich: Ungültige Eingabe oder: Fehler 734-1. Bitte versuchen Sie es erneut. Er sieht sich am Laptop sitzen, auf Links klicken, rechnergenerierte Passwörter kopieren, Dateiformate umwandeln und hoffen, dass am Ende das ersehnte Dialogfeld erscheint: Vorgang abgeschlossen. Wenn er auch nur kurz an diesen Mist denkt, begräbt er alle Träume von einem Blockhaus in Ontario und ist froh, wirft man ihn hier in Wil nicht aus seiner Altbauwohnung.

Nur wer nicht bei Trost ist, lebt aus freien Stücken in Wil. Auch Lars lebt nur hier, weil er sich die städtischen Preise nicht leisten kann. Zwar sagt Stine, in Zürich gäbe es in seinem Job auch mehr Lohn, aber wo liesse sich das überprüfen? Auf irgendeiner Statistikseite des Bundes wohl. Auch da: Datendickicht, so weit der Clickfinger reicht. Lars ist kein Zahlenmensch. Er googelt oft, hat aber nicht den Eindruck, davon schlauer zu werden. Eher gibt er da Daten preis, damit man ihn noch akkurater mit Spam zumüllen kann.

«Man», sagt Stine, «wen meinst du damit? Es gibt keinen Kerl, der irgendwo im Hochhaus des Datenriesen sitzt und dich be-spammt. Du bist als Person nicht gemeint.»

Angry_Schneider

In einer durchgepreisten Welt

Genau das ist auch Lars’ Eindruck. Er ist ein Rädchen im System. Dieses System wird aus Bürogebäuden bewirtschaftet, Türmen, die ihre Schatten auf die Altbauten werfen, in denen einer wie er wohnt. Schon im Frühherbst fühlt sich das manchmal winterlich an: Die teureren Blöcke mit Fernsicht und mehr Sonne werfen schon ab drei ihre Schatten über seinen Zwergbalkon, und bald wird es drinnen so düster, dass man Licht anmachen muss. Nein, niemand hat ihm mit Absicht das Feierabendbier verbaut, aber das Tarifsystem dieser durchgepreisten Welt sorgt genau dafür: dass Leute mit mehr Kleingeld ihm in der Sonne stehen.

Lars’ Lebensgefühl ist nicht: Gemeinsam mit anderen bin ich Teil jener Mehrheit, die das Leben in diesem Land bestimmt, sondern: Ich stehe einer Grossmacht gegenüber, einem System der Verwaltung, komplex, blutleer, meinem Zugriff entzogen. Es ist schwer durchschaubar, es kommt auf mich zu, wenn es etwas von mir braucht – brauche ich etwas von ihm, erklärt es sich für unzuständig oder baut technische Hürden auf.

Lars kann es nicht genau benennen, er hat nur so ein Gefühl, dass es auf diesen Hauptsitzen, Ämtern und Fachstellen eben doch ein «Team Verarsche» gibt, das die grossflächige Gängelung des Fussvolks betreibt. Einer wie er soll zur Tränke geführt und dann abgemelkt werden wie ein Stück Vieh im Stall der Wertschöpfung.

Aber bestimmt hat Stine recht: Das bildet er sich nur ein. Er bereitet sich wohl auf die Klapse vor, sieht Zusammenhänge, wo’s keine gibt. Er, der Abgehängte, der bildungsschwache Provinzler, Verschwörungstheoretiker und Ultra in der Südkurve. Einer, der Globuli schluckt, Genozide leugnet und eines Tages mit dem SUV in eine Menschenmenge rast.

Der Seuchenzug der Unzufriedenen

Nein, so wie gewisse Edelfedern in der Presse den Wutbürger beschreiben, ist er nicht. Und doch ist er zornig und weiss nicht wohin mit diesem Ohnmachtsgefühl. Er beneidet nicht die Reichen, ihre Lebensweise interessiert ihn wenig, er ist kein Leser der Regenbogengazetten – aber der Eindruck, missachtet zu werden und auf keinen grünen Zweig zu kommen, nagt an ihm. Er macht ihn ungeniessbar als Sohn, als Nachbarn, als Geliebten. Und so ist er irgendwann eben doch geworden, was er nie sein wollte: ein schäumender Zwerg, der im Treppenhaus grimassiert, unsichtbaren Instanzen den Finger zeigt, nachts von blutigen Ritualen und Feuersbrünsten träumt und sich insgeheim freut, wenn ein paar Kinder im Quartier die Nobelkarosse des Grundstückspekulanten zerkratzen.

Das Freiheitsversprechen, das Wohlfahrtsversprechen, das Gesundheitsversprechen, das Vorsorgeversprechen, das Sicherheitsversprechen: Jedes dieser Bündnisse zwischen ihm und dem Staat kommt Lars wie ein Hohn vor, wenn er seinen Alltag betrachtet. Wenn er, so wie heute Morgen, gegen den defekten Fahrscheinautomaten kickt. Wenn er als Atheist Gott verwünscht, weil ausgerechnet zu Feierabend die S-Bahn ausfällt. Wenn er auf die Chipspackung einprügelt, weil seine Mannschaft vom Nobelverein gnadenlos ausgekontert wird. Wenn er seinen Zorn am tamilischen Hausmeister auslässt, der kaum Deutsch versteht und den er eigentlich mag – ist er dann schon Teil jenes dunklen Seuchenzugs der Unzufriedenen, von denen überall zu lesen ist, sie würden «die Demokratie» zersetzen? Ist er eine menschliche Zeitbombe, ein Restrisiko der offenen Gesellschaft, jener Gefährder, vor dem die Neunmalklugen warnen wie vor einem Neophyten, der im Gärtchen des Mittelstands schützenswerte Pflanzen bedroht?

Nein, nein, nein. Noch ist sein Zorn ein makelloses Ei in seinem Innern. Noch ist kein Schnabel durch die dünne, unschuldsweisse Schale gebrochen. Aber vielleicht wäre Lars’ Atem wieder befreiter, wenn das bald geschähe.

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Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 15.04.2025 um 20:07 Uhr
    Permalink

    Ich konnte nicht anders, den Artikel reingesogen wie eine Droge; mich selber immer im Spiegel gesehen und gedacht … bin ich auch schon so schlimm. Kurz und bündig liest sich die Story wie ein Repertoire aus meinen Träumen, Alp- oder Panikmässig .hatte ich das irgendwie doch auch schon mal in meinem Gehirn oder hatte ich das schon erlebt. Jedenfalls freue ich mich jetzt schon auf den nächsten Teil es geht ja dabei nicht um mich ? Oder doch !

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