«Der Kanton kann den Bildungsauftrag nicht erfüllen»
Eine kürzlich publizierte Erhebung des Bundesamts für Statistik (BfS) förderte es zutage: Der Kanton Aargau ist der einzige Deutschschweizer Kanton, welcher keine Zahlen zum Ausbildungsstand seines Lehrpersonals liefert (Infosperber berichtete).
Die Zahlen könnten zeigen, wie stark der Kanton vom Lehrkräftemangel betroffen ist – und damit auch, ob er seinen Bildungsauftrag erfüllen kann.
«Aargau hält Bildungsqualität nicht ein»
Denn dies stellt die oberste Aargauer Lehrerin in Frage. Gegenüber Infosperber sagt Kathrin Scholl, Präsidentin von Bildung Aargau: «Wir sind der Meinung, dass im Kanton Aargau die Bildungsqualität, wie sie die Bundesverfassung fordert, nicht genügend eingehalten wird.»
Dass der Aargau als einziger Deutschschweizer Kanton nicht in der BfS-Statistik auftaucht, findet Scholl schlicht «skandalös». «Es bräuchte eine Umfrage, um die genauen Zahlen zu erheben. Der Kanton muss wissen, welche Personen nicht genügend ausgebildet sind. Nur dann kann er gezielt agieren. Die Bildung im Aargau braucht mehr Ressourcen, aber nicht überall und nicht überall dasselbe. Die Giesskanne bringt auch nichts.»
Das Bundesamt für Statistik wollte zuerst «aus Datenschutzgründen» nicht sagen, weshalb die Daten fehlen. Dann hiess es, dass es nur beschränkt Auskunft gebe, um «die guten Verhältnisse mit unseren Partnern zu pflegen». Tatsächlich haben sowohl der Kanton Tessin als auch der Kanton Aargau Daten geliefert – allerdings nicht in der geforderten Qualität.
Das Aargauer Bildungsdepartement bestätigt auf Infosperber-Anfrage: «Wir sind zurzeit nicht in der Lage, die Daten in der gewünschten Form zu liefern.» Dies habe damit zu tun, dass die Gemeinden Anstellungsbehörden seien, der Kanton aber die Lohnadministration vollziehe. Momentan laufe ein entsprechendes Projekt, um die Daten zum Qualifikationsgrad aus dem Lohnadministrationssystem ziehen zu können. Im Frühling sollte dies erstmals der Fall sein.
Nach fünf Jahren gibts den vollen Lohn – auch ohne Ausbildung
Im Kanton Aargau wären präzise Daten besonders wichtig, weil im Vergleich zu anderen Kantonen eine Einstiegshürde für ungenügend ausgebildete Lehrpersonen fehlt: die Berufsausübungsbewilligung. Wer nicht vollständig ausgebildet ist für den Beruf, müsste nach Lohndekret jedoch mit einer Lohneinbusse von fünf bis zehn Prozent leben. Dies allerdings nur für fünf Jahre. Nach fünf Jahren auf derselben Position müssen die Gemeinden die Person unbefristet anstellen und voll entlöhnen.
Kathrin Scholl fragt: «Weshalb soll jemand dann noch die Ausbildung nachholen?» Derzeit laufen im Kantonsparlament verschiedene politische Geschäfte zur Änderung des Lohndekrets – schon seit mehreren Jahren.
Nach Scholls Einschätzung akzentuiert sich auch im Kanton Aargau der Lehrkräftemangel. Und zwar besonders auf der untersten Stufe, in der Vorschule oder Kindergarten. Viele für diese Stufe ausgebildete Personen würden lieber auf der höheren Primarstufe unterrichten, weil da der Lohn höher sei und die Arbeitsbedingungen teilweise besser.
Auch deshalb könne der Kanton gerade auf der untersten Stufe Kinder mit besonderen Bedürfnissen nicht angemessen auf die Schulzeit vorbereiten. Denn diese Stufe habe eine wichtige Sozialisierungsfunktion und sei bei vielen Kindern wichtig beim Spracherwerb. «Wir müssten auf dieser Stufe, oder gar noch früher, mehr investieren und genauer hinschauen: Wo sind die Sozialisierungsdefizite? Je früher man hinschaut, desto günstiger ist es, unterstützend zu korrigieren. Die schwach sozialisierten Kinder bringen später das System an die Grenzen.»
Für Scholl fehlen in der nationalen Statistik des BfS auch Angaben zu Lehrpersonen für Sonder- und Heilpädagogik (SHP), Deutsch als Zweitsprache oder Klassenassistenzen. «Gerade bei der Schulischen Heilpädagogik ist der Mangel eklatant.»
Eine manuelle Auswertung und ein fast abgeschlossenes Projekt
Infosperber wollte deshalb auch vom Kanton Aargau wissen: Ist dem Bildungsdepartement bekannt, wie viele Personen im Kanton Aargau ohne adäquate Qualifikation unterrichten? In seiner Antwort beruft sich das Bildungsdepartement auf eine «manuelle Auswertung der Lohndaten».
Diese habe vor Beginn des Schuljahrs 2024/25 ergeben, dass damals auf 111 von insgesamt 15’988 Verträgen ein Lohnabzug von 10 Prozent erfolgte. 2’401 Verträge enthielten einen fünfprozentigen Abzug. Insgesamt waren 2’162 Lehrpersonen von 12’252 von einem Abzug betroffen. Darin enthalten waren auch Lehrpersonen in Ausbildung, die ihren Studiengang berufsbegleitend absolvierten.
Was der Kanton aber verschweigt: Nicht enthalten in diesen Zahlen waren Lehrpersonen, die ohne vollständige Qualifikation schon länger als fünf Jahre angestellt sind.
Was sagt der Kanton also zum Vorwurf, dass er den Bildungsauftrag nicht erfüllen kann? Dazu listet das Bildungsdepartement verschiedene Massnahmen für nicht vollständig ausgebildete Lehrpersonen auf. Etwa dass diese auch Weiterbildungsangebote der pädagogischen Fachhochschule besuchen dürfen und dass Schulen Coaching-Lektionen beantragen können.
Einige Massnahmen sind auch in einem Projekt zusammengefasst, das dem Lehrkräftemangel gezielt entgegenwirken soll. Bloss: das Projekt begann 2021 und ist praktisch abgeschlossen.
Auch Kathrin Scholl und ihr Verband blieben nicht untätig. Sie haben eine Volksinitiative eingereicht, die mehr ausgebildetes Personal fordert. Sie dürfte bald an die Urne kommen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie wichtig einem bürgerlich regierten Kanton die Bildung ist. Lieber rote Teppiche für Milliardäre mit dem Argument, die seien Mehrwert generierend. Und trotzdem kein Geld für angemessene Bildung auch für die Kleinen.