Sprachlupe: Im Land der schiesswütigen alten Männer
«Tötungsdelikte mit Schusswaffen im häuslichen Bereich» – so lautet der Titel einer Studie aus der Uni St. Gallen, die das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann kürzlich veröffentlicht hat. Die Medienmitteilung dazu hiess «Schusswaffen spielen zentrale Rolle bei Tötungsdelikten im häuslichen Bereich». Die Agentur Keystone-SDA griff im Titel einen anderen Aspekt heraus: «Schusswaffen-Tötungen zu Hause: Täter sind oft über 60-jährig». Die Medien, die von der Datenbank SMD erfasst werden, begnügten sich alle mit dem SDA-Bericht in unterschiedlicher Länge. Soweit sie eigene Titel setzten, schärften sie das Täterprofil weiter: «Der Schütze ist meist ein älterer Schweizer» (Bündner Tagblatt). «Der Täter ist meist Schweizer und Ü-60» (Tamedia-Blätter). «Schweizer, männlich, 60: So sieht der typische Täter aus, der mit Schusswaffen tötet» (Watson).
Der SDA-Titel entspricht dem Befund der Studie: Von den 41 erfassten «Tatpersonen» waren 40 männlich, das Durchschnittsalter betrug 63 Jahre und die Schweizer Staatsangehörigen machten 85 Prozent aus. Detailangaben in der Studie bestätigen, dass die meisten Täter über 60 waren. Unter den 50 Opfern waren 36 Frauen, 10 Männer und 4 Kinder. Im SDA-Bericht über die amtliche Mitteilung steht – obwohl es nur eine einzige Täterin gab – wortgetreu: «Auffällig sei weiter, dass der Anteil der Täter und Täterinnen mit Schweizer Staatsangehörigkeit bei häuslichen Schusswaffentötungen doppelt so hoch sei wie bei häuslichen Tötungen ohne Schusswaffeneinsatz.» Diesen Aspekt griff in den gesichteten Texten nur Tamedia auf, ohne «und Täterinnen».
Armeewaffen unter Verdacht
An Armeewaffen zu denken, liegt beim Unterschied nach Bürgerrecht und Geschlecht auf der Hand: «Die Studie sieht einen möglichen Faktor darin, dass Schweizer Männer aufgrund des Militärdienstes häufiger eine Schusswaffe besitzen als Männer ohne Schweizer Staatsangehörigkeit. Welche Waffen für Tötungen im häuslichen Bereich effektiv eingesetzt wurden, lässt sich jedoch nicht abschliessend feststellen.» Auch den hohen Anteil älterer Täter stellt die Studie in einen Zusammenhang mit der Armee, da früher «mehr Männer Militärdienst geleistet und auch häufiger die Dienstwaffe nach dem Aktivdienst erworben haben».
Die Medienmitteilung übernahm zum Glück nur den Hinweis auf Dienstwaffen, nicht aber den auf Aktivdienst. Den letzten Aktivdienst zur Landesverteidigung, während des Zweiten Weltkriegs, meinte die Studie wohl nicht. Seither gab es etliche Aktivdienste in Form von Ordnungsdiensten zur Abwendung innerer Gefahren, aber mit jeweils weit weniger Aufgebotenen. Auf die Möglichkeit, nach Ende der ganzen Dienstpflicht die Waffe zu behalten, haben solche Einsätze keinen Einfluss.
Nachfühlbares Hauptmotiv übersehen
Die 41 Taten sind 2015 bis 2022 geschehen, also durchschnittlich fünf pro Jahr; nach Abschluss aller Verfahren dürften noch einige wenige dazukommen. Der Zeitraum ist in den Presseberichten erwähnt. Obwohl jeder dieser Schüsse einer zu viel war, sollte die relative Seltenheit der Taten zur Vorsicht bei der Ernennung eines «typischen Täters» mahnen. Das gilt erst recht, weil «Konstellationen häufig sind, in denen ältere Männer ihre Partnerinnen und dann sich selbst töten – entweder als ‹gemeinsamer Suizid› oder aus Mitleid wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit der Partnerin». Das erwähnt die Studie, nicht aber die amtliche Mitteilung und ihr mediales Gefolge. Diese «Konstellationen» betrafen 17 Männer; die Studie schränkt jedoch ein, «dass solche Delikte in der Datenbank wohl tendenziell übervertreten sind, da diese Verfahren schnell erledigt werden können». Nicht erwogen wird, ob für manche dieser Täter und vor allem ihrer Opfer auch ein assistierter Suizid möglich gewesen wäre – ich vermute, für die meisten.
Erfasste Tötungsdelikte mit Schusswaffen im häuslichen Bereich (CH 2015–2022) | ||||
insgesamt | männlich | schweizerisch | 65 und älter | |
Täter(-in) | 41 | 40 | 35 | 22 |
mit Suizid | 25 | 25 | 22 | 15 |
in ‹Konstellation› (gemäss Text) | 17 | 17 | k. A. | k. A. |
In allen Altersgruppen zusammen brachten sich 25 Täter auch selbst um. In Prozent aller Fälle: 61 – und damit deutlich mehr als «knapp die Hälfte», wie es die Tamedia-Redaktion angab und damit die SDA-Meldung leicht ergänzte. Möglicherweise hatte sie die Studie immerhin konsultiert, sich aber davon verwirren lassen, dass dort die 17 genannten «Konstellationen» als «fast die Hälfte (41 %)» aller Fälle bezeichnet sind. Unbesehen des Motivs waren 15 jener Täter, die sich auch selbst töteten, über 65 Jahre alt, dazu kamen in dieser Altersgruppe 7 ohne Suizid, also insgesamt knapp mehr als die Hälfte aller 41 Fälle. Die Staatsangehörigkeit ist da nicht separat ausgewiesen, aber fast sicher gehörte unter den medial «typischen» älteren Schweizer Tätern eine deutliche Mehrheit der Gruppe «‹gemeinsamer Suizid› oder aus Mitleid» an.
Fazit: Das Original aufmerksam beizuziehen, lohnt sich nicht nur für Redaktionen, sondern auch für deren Kundschaft.
Weiterführende Informationen
- Bericht des Bundesrats über «Tötungsdelikte an Frauen im häuslichen Umfeld», u. a. gestützt auf die Studie.
- Indexeinträge «Medien» und «Zahlen» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im heruntergeladenen PDF.
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