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«Politiker nehmen ihre Verantwortung nicht wahr»: Das sagte der Zürcher Rechtsprofessor Thomas Gächter vor einem halben Jahr im Schweizer Fernsehen. © Screenshot SRF

IV: Politiker verfolgen Ärzte, statt Probleme zu lösen

Andres Eberhard /  Ein Rechtsprofessor sprach aus, was bei der Invalidenversicherung schiefläuft. Interessiert hat es niemanden.

Deutlicher kann man nicht sagen, warum bei der Invalidenversicherung seit zwei Jahrzehnten ein Skandal dem nächsten folgt. In einer Dokumentation des Schweizer Fernsehens kritisierte Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich:

«Das Parlament nimmt seine Verantwortung nicht wahr. Wenn sie diese Versicherung wollen, dann müssen sie sie richtig finanzieren, und sonst müssen sie Leistungen rausnehmen, damit das Geld wieder reicht. So versprechen wir Leistungen, die nicht alle erbracht werden. Das ist politisch unredlich. So ist es.»

Der SRF-Film, in dem Gächter diese Aussage machte, folgte dem Schicksal von Betroffenen. Besonders tragisch bleibt die Geschichte der Bankangestellten Stefanie Basler in Erinnerung. Diese musste nach zwei Snowboardunfällen ihre Arbeit aufgeben, wurde von der IV aber zu 100 Prozent arbeitsfähig geschrieben. Mit 37 Jahren beging sie, auch aus Verzweiflung, Suizid.

Die Dokumentation sorgte im vergangenen Herbst für einiges an Aufregung in Fachkreisen und Politik. Gleich fünf Parlamentarier reichten in der Herbstsession Anfragen beim Bundesrat ein. Sie nahmen explizit auf den Film Bezug.

Doch die überraschend scharfe Analyse des renommierten Rechtsprofessors war bis heute kein Thema. Statt um Finanzierung, Leistungen und die grundlegenden Probleme der Versicherung ging es den Politikern einzig und alleine um die Gutachterfirma PMEDA, die ebenfalls Teil der Dokumentation war. Die Ärztefirma aus Zürich hatte über viele Jahre hinweg Kranke gesundgeschrieben und dabei zahlreiche Vorschriften missachtet.

40 Anfragen zu einer Firma

Dass die PMEDA nicht die einzige Gutachterfirma war, die unsorgfältig arbeitete, darüber herrscht unter Fachleuten und Politikern weitgehend Einigkeit. «Die Begutachtungen werden dazu missbraucht, um die Leute mittels Gesundschreibung in die Sozialhilfe abzuschieben. Am Schluss zahlt es der Steuerzahler», sagt SVP-Nationalrat Rémy Wyssmann.

Das heisst: Der Fehler ist im System angelegt und nicht bei der Zürcher Ärztefirma PMEDA, auch wenn diese besonders skrupellos vorging. Zu diesem Schluss kamen auch die SRF-Journalistinnen. Ihrem sorgfältig recherchierten Beitrag gaben sie den Titel «Das System IV – Die unheimliche Macht der Gutachter».

Wenn das Problem im System liegt, dann müsste auch die Lösung da zu finden sein. Womit wir wieder bei der Kritik von Rechtsprofessor Gächter sind: Eine Versicherung muss für die Menschen, die einbezahlt haben, jene Leistungen erbringen, die im Gesetz festgeschrieben sind – unabhängig davon, wie viel Geld in der Kasse ist. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie zahlen jahrelang in eine Autoversicherung ein. Dann haben Sie einen Unfall. Ihre Versicherung zahlt aber nicht. Denn sie ist gerade knapp bei Kasse und muss bei manchen Versicherten etwas strenger sein – bei Ihnen.

Undenkbar? Genau das ist die Situation bei der IV, die seit zwei Jahrzehnten Schulden in Milliardenhöhe hat (siehe Kasten am Ende des Artikels). Aber eben, dafür interessieren sich Politiker herzlich wenig. Dafür verfolgen sie die PMEDA. Sage und schreibe 40 Fragen oder Motionen lancierten Parlamentarier seit 2020 zu dieser Ärztefirma. In der laufenden Session diskutiert der Nationalrat nun über eine umständlich formulierte Motion. Diese könnte einige reelle Verbesserungen für Menschen bringen, denen nachweislich falsche Gutachten ausgestellt wurden. Das Problem an der Wurzel packt sie aber nicht.

Linke ohne Mut

Infosperber wollte von den im Fall PMEDA umtriebigsten Politikern wissen, warum sie nicht dem unzweideutigen Rat des Rechtsprofessors folgen und die Finanzierung der IV endlich zum Thema machen.

Katharina Prelicz-Huber (Grüne; 9 Anfragen zur PMEDA): «Bei einer Erhöhung des Beitragssatzes von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wäre ich sofort dabei. Das müsste aber aus der politischen Mitte kommen.» Nachfrage: Warum nicht von Ihnen? «Das Schlimmste, was passieren kann, wäre, dass ein solcher Vorstoss abgelehnt wird und dann über Jahre hinweg vom Tisch ist.» Prelicz-Huber plädiert dafür, die IV über das allgemeine Bundesbudget zu finanzieren. «Dieses Kässeliwesen ist ein Unding der Schweizer Politik. So wird die Kasse der IV ständig künstlich leer gehalten.» Laufen denn Bestrebungen in diese Richtung, in den Wandelhallen oder zumindest innerhalb der Partei? «So viel ich gehört habe, leider nein.»

Sarah Wyss und Islam Alijaj (beide SP, 4 bzw. 3 Anfragen zu PMEDA) antworten mit einer jeweils gleich lautenden schriftlichen Nachricht. «Um die notwendige Weiterentwicklung der IV zu ermöglichen, ist auch ein finanzieller Spielraum erforderlich. Dieser ist aktuell nicht gegeben und muss geschaffen werden.» Die Passivkonstruktion ist entlarvend: Wer schafft diesen finanziellen Spielraum und wie? Und warum haben sie diese Forderung nicht längst im Parlament gestellt? Das sagen sie nicht.

Keine Antwort kommt von Christian Lohr (Die Mitte; 9 Anfragen zu PMEDA).

Eingliederung wird nicht reichen

Mit Anwalt Rémy Wyssmann setzt sich auch ein Bürgerlicher für die Anliegen von Betroffenen ein. Er lancierte fünf Anfragen zur PMEDA. Der SVP-Nationalrat schreibt auf Anfrage: «Die IV hat kein Finanzierungsproblem, sondern ein Führungsproblem. Die Mittel werden falsch, ineffizient und nicht flexibel eingesetzt.» Seiner Meinung nach wird der Eingliederungsauftrag nicht umgesetzt. Wyssmann ist dafür, die berufliche Eingliederung der IV zu privatisieren.

Nur funktioniert die Eingliederung der IV seit zwei Jahrzehnten nicht so gut wie erhofft. Was sicherlich nicht nur an den Behörden, sondern auch am Arbeitsmarkt liegt, der in vielen Bereichen härter geworden ist und der sich mit Inklusion nach wie vor schwertut.

IV-Reformen: Sozialhilfe statt Eingliederung

Die IV hatte Anfang des Jahrtausends ein Defizit in Milliardenhöhe angehäuft. Darauf verordneten ihr bürgerliche Politiker einen Sparkurs. In mehreren Reformen wurde sie von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung umgebaut. Wenn mehr Menschen eingegliedert werden, braucht es weniger Renten, so der Plan. Nur zeigte sich, dass die Eingliederung nicht so gut funktioniert wie erhofft. Menschen, die von den Gutachtern der IV gesundgeschrieben wurden, landeten häufig nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern in der Sozialhilfe. Die strengere Gangart der IV führte aber dazu, dass sich die Anzahl IV-Renten stabilisierte – bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum von über einer Million. Die Schulden bei der AHV belaufen sich heute noch immer auf etwa 10 Milliarden Franken.


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Die Zukunft der AHV und IV

Die Bundesverfassung schreibt vor, dass die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf angemessen decken müssen.

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Eine Meinung zu

  • am 14.03.2025 um 12:28 Uhr
    Permalink

    Nichts neues. Rechtsbürgerliche akzeptieren ExpertInnen- Aussagen solange es in das eigene Politcredo passt. Aber eben nur dann.

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