Kommentar

kontertext: Unerzählt, falsch erzählt

Andreas Mauz © zvg

Andreas Mauz /  Geschichte ist nicht, sie wird gemacht, auch erzählend. Überlegungen zum ambivalenten Genre der «Gegenerzählung».

Zur Vergangenheit gehört nicht zuletzt, dass es so viel und zunehmend mehr von ihr gibt. Diese Fülle weckt das Bedürfnis nach Orientierung: Das Vergangene muss in Vorher-Nachher-Reihen sortiert werden; es muss – kurz gesagt – Geschichte werden. Zur Geschichte geformt wird die Fülle des Vergangenen handhabbar. Man kann auf sie verweisen, um sich selbst oder anderen verständlich zu machen, warum das, was ist, so ist und nicht anders; man kann sich auf sie berufen – affirmativ oder auch kritisch –, um eine bestimmte Gegenwart zugunsten einer bestimmten anderen Zukunft zu überwinden. Insofern ist Geschichtsschreibung nie blosser Selbstzweck, sie ist immer auch handlungsleitend.

Geschichte erzählen

Diese Verwandlung amorpher Vergangenheit in geformte Geschichte geschieht wesentlich erzählend. Die Entscheidung für ein Subjekt – das Universum, die Frau des Metzgers, der Sparschäler – erlaubt es, die relevanten Quellen aus dem Tohuwabohu des Vergangenen auszuwählen und Veränderungen festzustellen, namentlich Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen. So entstehen vielfältig verstrickte Geschichten. So ergeben sich markante Wendepunkte (Revolutionen), Ungleichzeitigkeiten (Avantgarden) oder stereotype Verlaufslogiken (rise and fall, ewige Wiederkehr des Gleichen). Ohne das weiche Medium des Erzählens, ohne narrative Integration, ist eine harte, das heisst identitätstragende Geschichte nicht zu haben.

Das alles hat sich weit über die Geschichtstheorie, die sich professionell mit Fragen der «historischen Sinnbildung» (Jörn Rüsen) beschäftigt, herumgesprochen. Der deutlichste Hinweis auf eine verstärkte Sensibilität für die Zentralstellung erzählender Geschichtsbildung ist seit einigen Jahren zweifellos die Omnipräsenz des Narrativ-Begriffs. Er signalisiert über den blossen Stellenwert des Erzählens hinaus die interessegeleitende Darstellung dieses oder jenes Geschichtsverlaufs. Der Begriff hat insofern meist einen kritischen Zug: Man könnte oder sollte die Geschichte anders erzählen.

Gegenerzählungen als Genre

Mit der Konjunktur des Narrativ-Begriffs geht die von Gegenerzählungen Hand in Hand. Otto Englishs Fake History. Ten Great Lies and How They Shaped the World (2021), Vera Weidenbachs Die unerzählte Geschichte. Wie Frauen die moderne Welt erschufen – und warum wir sie nicht kennen (2022) oder Loel Zweckers Die Macht der Machtlosen. Eine Geschichte von unten (2024) sind nur einige monographische Beispiele aus einem weit grösseren Korpus. Das Korrekturversprechen der Gegenerzählungen sorgt für Aufmerksamkeit; sie haben, wie etwa Katy Hessels The Story of Art without Men (2022) zeigt, auch das Potential zum Sachbuchbestseller. Aber gerade wenn man das Erzählen für die individuelle wie kollektive Identitätsbildung für entscheidend hält und die Herausforderung dominanter Erzählroutinen für unverzichtbar, bleibt das Genre ambivalent. Wem an Kontertexten liegt, wird also nach der Machart und möglichen Eigendynamiken des Genres fragen. Dazu einige Hinweise.

Anschluss im Widerspruch

Gegenerzählungen, die sich – siehe Beispiele – oft schon im Titel entsprechend ausweisen, haben zunächst die grundsätzliche Hypothek, dass sie unselbständig sind. Sie sind, was sie sind, durch die Abgrenzung gegen eine andere Geschichte, in der Forschung etwa als «primary» oder «background narrative» bezeichnet. Gegenerzählungen leben vom Zusammenspiel von Anschluss und Widerspruch, von Anschluss im Widerspruch.

Dieses Zusammenspiel wird im Einzelnen sehr verschieden ausgestaltet. Das kritische Moment erscheint besonders markant im Format des frontalen Angriffs. Die Gegen-Positionierung zielt in diesem Fall auf eine grundsätzliche Infragestellung: Wo eine Geschichtsschreibung etwa als eine «von oben» gesehen wird, soll sie durch eine «von unten» wahlweise ergänzt oder gleich ersetzt werden. Wer der Überzeugung ist, «dass die Gewinner:innen die Geschichte schreiben» – und dabei ausschliesslich ihre eigene –, wird folgerichtig nach der Geschichte der Verlierer:innen fahnden: den doppelten Verlierer:innen, nämlich der Geschichte wie der Geschichtsschreibung.

Denk- und Darstellungsmuster dieses frontalen Typs ziehen allerdings leicht den Verdacht auf sich, blosse Gegenbesetzungen zu sein. In ihrer programmatischen Umwertung scheinen sie ihrerseits too good to be true. Das gilt auch für Loel Zweckers ausgesprochen lesenswerte Geschichte von unten. Einleitend formuliert er seine nicht gerade kleine Hauptthese:
«Die meisten, ja fast alle positiven gesellschaftlichen Entwicklungen von übergreifender Bedeutung wurden nicht von Leuten mit Amtsgewalt oder Wirtschaftskraft wie Fürsten, Präsidenten, Militärs, Magnaten oder CEOs angeschoben; aber es waren auch nicht Revolutionsführer oder ‹große Denker›, sondern scheinbar Machtlose, ‹die da unten›, einfache Leute.» (S. 13)

Die relativierenden Formeln «die meisten» und «fast alle» dienen, scheint es, dazu, das ansonsten reine Gegenbild präventiv gegen Einsprüche abzusichern. Diese Absicherung – dass einige positive Entwicklungen vielleicht doch auch «von oben» ausgingen (und sei es nur vom richtigen «oben» der Revolutionsführer:innen und grossen Denker:innen) – kann aber über die eigentliche und unvermeidliche Crux seiner Gegenerzählung nicht hinwegtäuschen: Was als «positive gesellschaftliche Entwicklung von übergreifender Bedeutung» gelten kann, liegt alles andere als auf der Hand. So gerne man gewisse Entwicklungen nicht bloss feststellen, sondern «eindeutig» als «Fortschritt» feiern wollte: Immer sind da andere, die den Fortschritt als «nur scheinbaren» diffamieren, wenn nicht als fatalen «Rückschritt». So legitim also das Anliegen Zweckers ist, «diesen Menschen» und «ihren Errungenschaften einen angemessenen Platz in der Geschichte zu verschaffen»: Die Prominenz dieses Platzes hängt ganz am Mass, das die jeweilige Darstellung für richtig hält und sie leitet (S. 14). Die Gegenerzählung kann nicht nur aus der Dominanz einer negativ gewerteten und insofern reduktiven «Mainstream»-Geschichte der Herrschenden legitimiert werden. Die «Geschichte von unten» wird in dem Grad plausibel und schlagkräftig, in dem ihre Programmatik und die mit ihr gegebenen Wertsetzungen nicht für selbstverständlich gehalten, sondern als solche offengelegt und begründet werden (was Zwecker, to be fair, ein Stück weit auch tut).

Anonyme Gegner

Dass Gegenerzählungen gegen Hintergrunderzählungen anschreiben, macht leicht vergessen: Diese bestrittenen Darstellungen sind oft nicht in gleicher Weise greifbar. Hat man die Gegenerzählung etwa in Gestalt der genannten Bücher faktisch vor Augen, bleibt das, was sie befeuert, oft nur eine virtuelle Grösse. Gegenerzählungen mögen unselbständig sein: Um sich zu positionieren, müssen sie sich nicht zwingend auf konkrete Belege für jene Hintergrunderzählung beziehen. Der Gegner bleibt anonym. Für ihre starke Agenda ist es, im Gegenteil, eher ein Vorzug, sich nicht ausführlicher auf einzelne Zeugnisse für die abzuräumende Geschichte einzulassen. Sie könnten den erwünschten einheitlichen Hintergrund auch sabotieren. Werden absichernde Formeln à la «die meisten» und «fast alle» zu dominant, drohen sie das eigene Gegen-Projekt ja auszuhöhlen. Der Frontalangriff wird unmöglich, allenfalls auch der kleinere über eine Flanke. Anders gesagt: Die Gegenerzählung erzählt die Hintergrunderzählung nicht nur mit, diese wird durch die Gegenerzählung allererst als homogene konstituiert. Für die publikumswirksame Klarheit sorgt darüber hinaus eine eindeutig negative Bezeichnung der Hintergrunderzählung, im Fall Englishs etwa der Titel Fake History. Wegen des Bezugs auf das von facts entlastete fiktionale Erzählen sind aber auch Titel wie Der Mythos des … oder Das Märchen vom … einschlägig.

Vollständigkeitssuggestion?

Schliesslich haben Gegenerzählungen durch ihre jeweilige Agenda auch einen erfrischend deutlichen Wahrheitsanspruch. Sie zeigen die Vergangenheit nicht als Spielwiese eines freien und hochindividualisierten Konstruktivismus, der immer zum Eingeständnis bereit ist, dass man es natürlich auch anders sehen kann. Der starke Geltungsanspruch der Gegenerzählung erlaubt es aber auch, sie klar zurückzuweisen. Vielleicht ist die Hintergrunderzählung, die sie plausibilieren soll, eben nichts als ein hastig installierter «Strohmann».

Der antikonstruktivistische Zug von Gegenerzählungen kann allerdings auch zu einem Positivismus alter Schule einladen. Die verbreitete Rhetorik der «unerzählten Geschichten» oder der «blossen Mythen» lässt sich ja auch so missverstehen, dass die Geschichte nach Ergänzung der bislang unerzählten Anteile und der Entlarvung der Mythen endlich ‹vollständig› und auch ‹richtig› sei. Aber das wäre reichlich naiv angesichts der Notwendigkeit und den immer pluralen Möglichkeiten, die Vergangenheit im Fluss der Zeit als Geschichte zu vergegenwärtigen. Das Genre der Gegenerzählung zeigt besonders deutlich: Diese Geschichte ist nie abgeschlossen.

Quellen:
Otto English: Fake History: Ten Great Lies and How They Shaped the World. London: Welbeck 2021.
Katy Hessel: The Story of Art without Men. London: Penguin 2022.
Vera Weidenbach: Die unerzählte Geschichte. Wie Frauen die moderne Welt erschufen – und warum wir sie nicht kennen. Hamburg: Rowohlt 2022.
Loel Zwecker: Die Macht der Machtlosen. Eine Geschichte von unten. Stuttgart: Tropen 2024.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Andreas Mauz ist Literaturwissenschaftler und evangelischer Theologe. Er lebt mit seiner Familie in Basel, lehrt an verschiedenen Universitäten, betätigt sich in der Erwachsenenbildung und in der Redaktion der Zeitschrift «Neue Wege». Derzeit arbeitet er am Aufbau einer Agentur für Critical Thinking.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

GegenStrom_2_ProDirectFinance_XX_heller

kontertext: Alle Beiträge

kontertext widerspricht Beiträgen anderer Medien aus politischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Eine Meinung zu

  • am 8.03.2025 um 09:42 Uhr
    Permalink

    Ein Monstertext! Beim ersten Lesen kam in mir ein ungutes Gefühl auf und ich musste mich ein zweites Mal durchwühlen um herauszufinden warum. Ich hoffe, ich bekomme das Resultat meiner Überlegungen im hier sehr begrenzten Format zusammen.

    Was mir fehlt, ist neben dem «Narrativ» der «Fakt». Man kann sich über Vergangenes ja irgend eine Geschichte zusammenreimen. Da mögen dann auch Elben, Orks oder ein Wilhelm Tell drin vorkommen. Das nennt sich dann wohl Mythos und ist durchaus berechtigt und wichtig. Es ist aber auch gefährlich, weil da so Geschichten auftauchen können wie die der «Weisen von Zion», weshalb man alle Juden umbringen müsse. Geschichte als WISSENSCHAFT habe ich immer verstanden als die Suche nach den Fakten mit wissenschaftlichen Methoden, wie z.B. eine Antwort auf die Frage, wer 2014 auf dem Maidan geschossen hat. Man mag Fakten so oder anders interpretieren und verknüpfen. Aber aktuell scheint mir vor allem sehr viel GELOGEN zu werden.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...