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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Wenn der Pöstler linguistische Knacknüsse bringt

Daniel Goldstein /  Ein gratis erhältliches Handbuch ermöglicht wissenschaftlich begleitete Grenzgänge in den «Sprachenräumen der Schweiz».

So, wie Kleider Leute machen, machen Klänge Wörter: Sie bestimmen den Rang in der gesellschaftlichen oder eben sprachlichen Ordnung. Hört ein Deutschschweizer Ohr «dea P-⁠höstla», mit hörbarem Luftstoss am Anfang und a statt r am Schluss, so denkt das Gehirn hinter dem Ohr wohl: aha, richtiges Hochdeutsch! Kommt das Wort aber in schweizerischer Aussprache oder schriftlich daher, so fragt sich dasselbe Gehirn eher, ob Pöstler nur in der Mundart zuhause sei oder auch im Hochdeutschen seinen Platz habe. Bei Zweifeln hilft der Duden: Das Wort ist als schweizerisch verzeichnet, also als Helvetismus. Und es ist nicht als mundartnah gekennzeichnet (oder als mundartlich bei älteren Einträgen) – es gilt demnach als standardsprachlich, also hochdeutsch – vollauf und nicht nur grenzwertig. Indes: mehr dazu am Schluss.

Die Unterscheidung hat durchaus mit Wertschätzung zu tun, wie das kürzlich erschienene wissenschaftliche Handbuch «Sprachenräume der Schweiz»* festhält: «Die Standardsprache wird beispielsweise mit Arbeit, Leistung und hohen Normerwartungen assoziiert. Dies führt dazu, dass die Standardsprache als gebildet und elegant, kühl und schnell, aber unvertraut und eher unsympathisch wahrgenommen wird, dies im Gegensatz zu den Dialekten, die als sympathisch und warm, dafür aber als wenig gebildet gelten.»

Je nördlicher, desto hochdeutscher?


Die Untersuchung mit dem oben angeführten Beispiel Pöstler wurde schon 2005 publiziert. Sie dient im neuen Handbuch als Beleg dafür, «dass (…) Helvetismen viel eher akzeptiert werden, wenn sie den Befragten in deutschländisch geprägter Lautung präsentiert werden». Umgekehrt erscheint hierzulande der in Deutschland übliche Ausdruck «Würste grillen» (Schweiz: grillieren) eher dann als schlechtes Hochdeutsch, wenn er mit hiesigem Akzent daherkommt. Sogar im schriftlichen Gebrauch gilt für unterschiedliche Wortformen: «Insbesondere die nord- und mitteldeutschen Varianten werden dabei, vor dem Hintergrund der Dominanz des deutschen Sprachmarkts durch Deutschland, auf einer höheren Hierarchiestufe der Standardsprachlichkeit angesetzt, also z.B. Schnürsenkel als standardsprachlicher eingeschätzt als Schuhbändel. In eine ähnliche Richtung weisen Studien zur Korrekturpraxis von Texten durch Lehrpersonen.» Aus Süddeutschland gibt es ähnliche Beobachtungen.

Die Autorinnen des hier zitierten Handbuch-Kapitels «Deutsch» (Helen Christen und Regula Schmidlin, Universität Freiburg/Schweiz) stellen zum Schluss des Abschnitts «Einstellungen zur Standardsprache» fest: «Dass die Art und Weise, wie Deutschschweizer/innen die Standardsprache sprechen, in der Wahrnehmung von Sprecher/innen aus Norddeutschland oder Österreich als dialektnah und zuweilen drollig empfunden wird, scheint jedoch die Mehrheit der Deutschschweizer/innen nicht dazu zu bringen, ihre Lautierungspraxis zu ändern.» Das hätte ja gerade noch gefehlt: dass wir uns mit Imitationsversuchen noch mehr Gelächter aussetzen. Ich halte mich jedenfalls lieber an Dürrenmatt, der einem Zwischenruf «Hochdeutsch!» entgegengehalten haben soll: «Ich kann nicht höcher». Sein gesprochenes Hochdeutsch war übrigens gar nicht so arg rustikal.

Freundeidgenössischer Akzent

Es kommt hinzu, oder in anerkannter helvetischer Grammatik ohne es gesagt: Kommt hinzu, dass die hiesige Sprechweise eine geradezu staatspolitische Funktion hat: «Die oft kritisierte langsame und bisweilen holprige Art der AlemannInnen, die Standardsprache zu sprechen, ist oft für die nicht-deutschsprachigen GesprächspartnerInnen leichter zu verstehen als das, was die geschliffen formulierenden SchnellsprecherInnen aus dem Norden produzieren.» Das schrieb – ebenfalls schon 2005 – die damalige Nationalrätin Martine Brunschwig Graf (im Handbuch fälschlicherweise mit einem Bindestrich versehen, vgl. Originaltext).

Solche freundeidgenössische Verständlichkeit setzt natürlich voraus, dass man sich überhaupt zu Hochdeutsch bequemt. «Dass es kommunikativ problematisch und oft auch unanständig ist, in der mündlichen Kommunikation mit unbekannten Nicht-AlemannInnen auf dem Schweizerdeutschen zu beharren, scheint sich inzwischen auch herumgesprochen zu haben, zumindest zeigen die wenigen empirischen Studien zum Thema, dass in der Deutschschweiz bereitwillig auf Hochdeutsch umgeschaltet wird.» So lautet das Fazit des Abschnitts «Dialekte als Schul(fremd)sprachen» im Kapitel «Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz» (Raphael Berthele, Université de Fribourg).

Auch Mundartnahes, wenn verständlich

Die Mehrsprachigkeit umfasst für das Handbuch nicht nur vier Landessprachen und ihre Dialekte: Es enthält auch Kapitel zu Gebärdensprachen, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Bosnisch–Kroatisch–Montenegrinisch–Serbisch, Albanisch, Jiddisch. Angesichts dieser Vielfalt wird es umso wichtiger, jede Scheu vor dem Hochdeutschen als Umgangssprache zu überwinden – aber auch die Scheu vor Helvetismen, denn ohne diese standardtauglichen Eigengewächse würde Hochdeutsch wirklich «fremd». Gegenüber Anderssprachigen muss man lediglich darauf achten, ob die Helvetismen verständlich sind.

Da ist gerade Pöstler ein interessantes Beispiel: Vermeintlich selbsterklärend, kann es dennoch missverständlich sein – sogar und erst recht, wenn man den Duden zu Rate zieht. Denn dort bedeutet es «so viel wie Postler», und das ist «umgangssprachlich für bei der Post Beschäftigter». Als Pöstler(in) aber muss man draussen arbeiten, wie der Spezialduden «Schweizerhochdeutsch» festhält: «Briefträger(in), Postbote bzw. Postbotin». Ausserdem steht hier, anders als im Duden «Rechtschreibung»: mundartnah. Also ist das Wort nur dann angebracht, wenn es keinen Anlass zum Missverständnis bietet oder das Gegenüber auch Schweizerdeutsch versteht.

(Allzu) wissenschaftliche Sprache

Der wissenschaftliche Charakter des Handbuchs «Sprachenräume der Schweiz» überbordet sprachlich zuweilen: «Einstellungen gegenüber der Standardsprache sind in der Deutschschweiz, bedingt durch die diglossische Situation, weitgehend dadurch zu erklären, dass zahlreiche kommunikative Funktionen der Varietäten, trotz einer gewissen Flexibilisierung der situa­tionsspezifischen Varietätenwahl in den letzten Jahrzehnten, funktional komplementär sind. Daher wird die eine Varietät jeweils in ihrer Gegensätzlichkeit zur anderen konzeptualisiert.» (Christen/Schmidlin)

Im zweiten oben zitierten Kapitel liest sich derselbe Sachverhalt schon leichter: «Mundart und Standardsprache wurden (und werden) nicht für dieselben kommunikativen Zwecke und nicht in denselben Kontexten und Kanälen verwendet. Wie in jeder zweisprachigen Situation ergeben sich dadurch unterschiedliche Wertigkeiten und Einstellungen gegenüber den beiden Sprachen/Varietäten.» (Berthele) An mindestens einer Stelle vereinfacht Berthele aber zu stark: «Auch in der deutschsprachigen Schweiz versuchten deutschnational orientierte Kreise in der Zeit des ersten Weltkriegs, den Einfluss des Französischen zu beschränken und ‹das geschichtliche Recht der deutschen Sprache› sogar in der französischen Schweiz zu verteidigen.» Als Beleg dient die Zeitschrift «Sprachspiegel» von 1951, wo aber in einem Rückblick das «geschichtliche Recht» nur auf den bernischen Jura bezogen war (Hintergrund dazu: badem-schweiz.ch).

Weiterführende Informationen

  • * Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser (Hrsg.): Sprachenräume der Schweiz, Band 1: Sprachen. Narr, Tübingen 2024, 498 S., ab ca. Fr. 80.–; E-Buch kostenlos (Open Access). Band 2 zu Forschungsperspektiven soll Mitte 2025 erscheinen.
  • Helvetismen für den Duden vorschlagen: duden@sprachverein.ch. Den Zusatz mundartnah bei Pöstler hat die «Sprachlupe» bereits beantragt.
  • Indexeintrag «Helvetismen/Hochdeutsch» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwort­suche und Links nur im herun­tergeladenen PDF.
  • Quelldatei für RSS-Gratisabo «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Daniel Goldstein redigierte von 2012 bis 2019 den «Sprachspiegel».
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