Viele IV-Gutachten nicht von Hand unterschrieben
Selten hat ein Unternehmen das Bundesparlament so häufig beschäftigt wie die IV-Gutachterstelle PMEDA: 39 Vorstösse und Fragen stellten Politiker seit 2020 zur Ärztefirma aus Zürich. Zudem hält diese auch die Strafbehörden auf Trab: Die deutsche Steuerfahndung transportierte Lastwagen voll mit Akten der Firma in der deutschen Kleinstadt Wolfenbüttel ab. Der Verdacht: Steuerhinterziehung. Die Schweizer Behörden haben sich bisher nicht dazu geäussert, ob und warum PMEDA vertrauliche Patientenakten aus der Schweiz im Ausland wahrscheinlich bearbeitete, sicher aber aufbewahrte.
Gutachten für 27 Millionen Franken
Doch von vorne. Die Geschichte der PMEDA begann im Jahr 2013. Gründer ist der deutsche Neurologe Henning Mast, Sohn des ehemaligen Jägermeister-Chefs Günter Mast. Die Ärztefirma mit offiziellem Sitz in Zürich erstellte sodann reihenweise medizinische Gutachten für die Invalidenversicherung. Solche brauchten die kantonalen IV-Stellen häufig, um aufgrund dieser Gutachten über Anträge für IV-Renten zu entscheiden. Im Zeitraum von 2013 bis 2022 zahlte die IV der PMEDA für Gutachten insgesamt 27 Millionen Franken.
Es dauerte nicht lange, bis PMEDA die Gerichte beschäftigte. Denn in den schriftlich verfassten Gutachten tauchten Unregelmässigkeiten auf. So wurden etwa Tests erwähnt, von denen Betroffene sagten, sie hätten gar nie stattgefunden. Von Versicherten gemachte Aussagen wurden ins Gegenteil verkehrt. Beispielsweise wurde aus «Ich schlafe nur mit Stilnox und Redormin» im Gutachten der Hinweis «schläft aktuell meist durch.» Und statt knapp 40 Minuten dauerte ein Untersuchungsgespräch in den Akten plötzlich 90 Minuten.
Pixelgenau identisch
Nun zeigen Dokumente, die Infosperber vorliegen, dass einige der Gutachten auch grundlegenden formalen Anforderungen nicht genügten. So waren sie nicht einmal handschriftlich unterzeichnet. Infosperber hat die Unterschriften des PMEDA-Gründers Henning Mast aus mehreren Gutachten der Jahre 2013 bis 2016 miteinander verglichen. Diese sind pixelgenau identisch. Selbst mit sehr viel Mühe dürfte das von Hand nicht zu bewerkstelligen sein. Kommt dazu, dass sich die Signatur von Mast aus nachweislich handschriftlicher Unterschrift sichtbar unterscheidet (siehe Bild).
![Unterschriften_Henning_Mast](https://www.infosperber.ch/wp-content/uploads/2025/02/Unterschriften_Henning_Mast.png)
Daraus kann man schliessen, dass die PMEDA manche Unterschriften in den Gutachten eingescannt hat. Es war jedoch der PMEDA erst ab Oktober 2016 erlaubt und möglich, Gutachten elektronisch zu unterschreiben.
Die Erkenntnisse passen zu den Recherchen des deutschen Recherchekollektivs correctiv. Dieses zitierte eine Quelle aus dem nahen Umfeld des PMEDA-Gründers Henning Mast mit den Worten, eine Sekretärin der Firma habe die Gutachten aufgrund der Untersuchungen der Ärzte «zusammengeschrieben».
Ob dieser schwerwiegende Vorwurf, über den auch SRF berichtete, zutrifft, darüber könnten dereinst Gerichte befinden. Verschiedene Strafverfahren laufen. PMEDA-Gründer Henning Mast reagierte nicht auf eine Kontaktaufnahme des Infosperbers. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Tausende Versicherte betroffen
Die Geschäftstätigkeit der PMEDA ist nach zwölf turbulenten Jahren zu Ende. Die Firma befindet sich derzeit in Liquidation. Doch nun läuft die Aufarbeitung auf Hochtouren. Zahlreiche Versicherte, die von Ärzten der PMEDA gesund geschrieben wurden und deshalb keine IV-Rente erhielten, verlangen eine Neubeurteilung. Insgesamt hat die Firma seit 2013 schätzungsweise 8000 Personen begutachtet.
Der Bundesrat stellt sich gegen eine konsequente Aufarbeitung. Er sieht eine Neubeurteilung nur für jene Versicherte vor, die 2022 oder 2023 von der PMEDA begutachtet wurden. In diesem Zeitraum sind schwere Qualitätsmängel belegt. Die mutmasslich eingescannten Unterschriften sind nun aber ein weiteres Indiz dafür, dass es schon früher zu Verfehlungen kam.
Das Bundesamt tat lange nichts
Eine unrühmliche Rolle im PMEDA-Skandal spielt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV). Das Amt, das für die Aufsicht der Gutachterstellen verantwortlich ist, hatte den Vertrag mit der PMEDA erst Ende 2023 gekündigt – als Folge einer Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB). Diese war von der Politik 2022 ins Leben gerufen worden, um zu verhindern, dass Ärzte «Gefälligkeitsgutachten» für die finanziell angeschlagene Invalidenversicherung abliefern.
Dabei sind die Verfehlungen der PMEDA spätestens seit 2018 bekannt. Damals berichtete der Kassensturz. Trotzdem hielt das BSV lange zur PMEDA und verlängerte die Verträge zwischenzeitlich erneut.
Auf die Frage nach den eingescannten Unterschriften gibt das BSV die Verantwortung weiter: «Die Kontrolle, ob die eingereichten Gutachten korrekt unterzeichnet sind, obliegt den IV-Stellen, welche die einzelnen Gutachten in Auftrag geben», schreibt das Amt auf Anfrage. Bis zur Einführung der elektronischen Signatur habe es keine Kenntnis gehabt über Gutachten mit nicht zulässigen eingescannten Unterschriften. Der Bundesrat hatte das Amt reingewaschen und im Parlament ebenfalls gesagt, es seien ihm keine Fälle von eingescannten Unterschriften bekannt.
Neue Motion
Für die Betroffenen könnte sich die Sache zum Guten wenden. Denn das Bundesgericht hat angekündigt, dass aufgrund der Vorgeschichte bereits relativ geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit eines PMEDA-Gutachtens genügen, um eine neue Begutachtung anzuordnen. Eingescannte Unterschriften müssten dafür eigentlich reichen.
Ausserdem ist die Politik aktiv geworden. Eine neue Motion der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats verlangt, dass Versicherte ein Gesuch auf Revision stellen können, wenn die zuständige Kommission schwere Qualitätsmängel feststellt und das Amt die Verträge daraufhin kündigt. Die Motion gilt also nicht nur für PMEDA, sondern für alle Gutachterstellen, die nachweislich fehlerhaft arbeiten. Das öffnet Tür und Tor, denn bekannt ist seit längerem, dass fehlerhafte Gutachten nicht nur bei PMEDA vorkamen, sondern im System angelegt sind.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die Fragen werden immer lauter und dringender – speziell in einer ‹direkten Demokratie› wie der Schweiz:
Was ist im 21. Jahrhundert tatsächlich von Staatsbürgern unter Staat sowie unter ‹Demokratie & Rechtsstaat› zu verstehen? Ist dies im Sinne der Menschen?
Ist das Staatsvolk tatsächlich der Souverän? Wer ist es de facto & legitimerweise?
Welche Aufgaben haben die Staatsgewalten FÜR den Souverän zu erfüllen?
Wenn sie dabei ‹rote Linien› überschreiten (= gegen die Interessen des Staatsvolkes handeln oder diese ungenügend wahrnehmen)… welche unmittelbar wirksamen & konkreten Mittel haben die Staatsbürger – ohne dafür eigene weitere Geldmittel (nebst den Steuergeldern) – meist für Rechtsanwälte – in die Hand nehmen zu müssen?
Wieviel Staat braucht es, damit Menschen in Frieden, Freiheit & Rechtsgleichheit miteinander Zusammenleben können? Was kann & muss getan werden, dass wir alle gemeinsam diese Balance herstellen und dafür einstehen? Wie heilen wir das Geldfieber?
Mich würde ein Artikel über die Praktiken der Firma Correctiv sehr interessieren. Denke diese Firma hat politische Schlagseite und es wäre spannend zu lesen, welche Leichen sie im Keller verstecken. Nach der Potsdam Affäre traue ich denen jedenfalls nicht mehr über den Weg und bin durchaus leicht irritiert, kommt jetzt schon wieder ein Artikel, der sich auf ihre «Recherche» stützt. Zuckerberg hatte vollkommen recht, als er sagte, dass die «Faktenchecker» mehr Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen zerstörten, als aufzubauen, denn sie behaupten zwar, neutral und objektiv zu sein, was aber ganz schnell verpufft, wenn man sieht, wer gecheckt wird jeweils. Läuft grundsätzlich nur in eine Richtung. Oder hat Correctiv irgendeine Falschaussage zu Corona, von verantwortlichen Politikern je korrigiert? Denke nicht,würde mich aber gern vom Gegenteil überzeugen lassen. Ansonsten höre ich jeweils auf mit lesen, sobald als Quelle diese Organisation angegeben wird.