Kommentar

kontertext: Den Flüchtlingsfrauen eine Chance geben!

Anni Lanz © zvg

Anni Lanz /  Der Kampf um Verständnis für Flüchtlingsfrauen muss wieder aufgenommen werden. Die wichtigsten Forderungen.

Wäre damals auf unserer «Beratungsstelle für türkische und kurdische Frauen» nicht diese kurdische Mitarbeiterin gewesen, hätte ich das Problem von Betsy nicht verstanden. Das war Anfang der Neunziger-Jahre gewesen. Sie sagte, das Kind der Frau des Grossgrundbesitzers sei «ihr» Kind. Sie wollte es nicht hergeben. Was war der unausgesprochene Hintergrund ihrer Geschichte? 

Sie hatte anstelle der unfruchtbaren Ehefrau dem Aga (deutsch: Herr, Grossgrundbesitzer) Kinder gebären müssen, als Gebärsklavin. Der Asylbefrager verstand ihr Problem nicht, er wies sie und ihre Tochter weg. In den Achtziger- und Neunziger-Jahren herrschte blankes allseitiges Unverständnis gegenüber schutzsuchenden Frauen, nicht nur bei den Behörden sondern auch in der Asylbewegung. Kamen sie zusammen mit den Lebenspartnern, wurden ihre Fluchtgründe ohnehin ignoriert. Über mich, die von der Frauenbewegung zur Asylbewegung gestossen war, schüttelte man den Kopf und tat meine Einwände als zickigen Feminismus ab. Ich verlor umgehend meine Anstellung als Hilfswerksvertretung bei den amtlichen Anhörungen.

Fortschritte

Ich arbeitete damals intensiv mit geflüchteten und zugewanderten Frauen zusammen, ein Teil von ihnen war als Ehefrauen von Schweizern hergekommen. Gemeinsam kämpften wir für die Menschenrechte von immigrierten Frauen und konnten einiges erreichen. Zum Beispiel, dass geflüchtete Frauen eigenständig und durch Frauen befragt und von Frauen übersetzt wurden, um ihrer Scham über erlebte sexuelle Gewalt Rechnung zu tragen. Und schliesslich gelang es uns sogar, dank der Beschlüsse der 4. Weltfrauenkonferenz, die Berücksichtigung von frauenspezifischen Fluchtgründen ins Asylgesetz zu schreiben (in Art. 3 AsylG). Die Asylbehörde BFF, das heutige SEM, richtete eine spezielle Fachstelle mit einer versierten Frau ein. So konnten wir behördliches Miss- und Unverständnis von Frauenanliegen korrigieren. Kurz darauf erhielt ich von der damaligen Asylrekurskommission den ersten positiven Beschwerdeentscheid für eine vor sexueller Gewalt geflüchtete Frau. Sie war als junge Witwe gekidnappt und an Bordelle verkauft worden.

… und Rückschritte

Gewiss, als Frauenbewegung haben wir für die Schweizer Frauen einige Rechte erstritten, die heute als Selbstverständlichkeiten gelten. Bei den Rechten von Frauen auf der Flucht sieht es schlechter aus. Was wir gemeinsam erstritten, ist rasch wieder in Vergessenheit geraten. Die Frauen-Fachstelle zum Beispiel war plötzlich einfach nicht mehr da. Die Stimmen von Migrantinnen hatten kein politisches Gewicht, nicht bei ihren Vernehmlassungen im Gesetzgebungsprozess, nicht bei ihren öffentlichen Auftritten.

Ihre Selbstorganisation scheiterte an ausbleibender finanzieller Unterstützung. Zwar wurde für sie kurze Zeit später eine staatlich gestützte Organisation (FIM) eingerichtet, die aber nie die Kraft einer selbstbestimmten Frauenbewegung aufwies und auch bald darauf wieder verschwand. Migrantinnen stiessen bei ihren einheimischen Schwestern oft auf Ablehnung: Es gab für Frauen hierzulande Wichtigeres als immer dieses lästige Migrationsthema. 

Und so kommt es, v.a. im Dublinverfahren, immer wieder dazu, dass die Schweiz Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen ins Land ihrer Peiniger zurückschickt, oder dies zumindest beabsichtigt. Wie Halima, die nach Griechenland zurückgeschickt werden sollte, wo sie, obwohl sie anerkannter Flüchtling war, in Parks hatte übernachten müssen und dort vergewaltigt worden war. Wie Esther, die einem lybischen Bordell entflohen war und nach Italien, in die Reichweite der lybischen Menschenhändler, hätte ausreisen sollen. Wie Sahra, deren Schicksal noch unentschieden ist: Sie soll ihrem Peiniger in Zypern ausgeliefert werden. 

Mehr Menschlichkeit wäre möglich

Halima und Esther konnten schliesslich trotz Wegweisungsentscheid in der Schweiz bleiben, weil ein beherzter kantonaler Migrationsleiter vor rund 10 Jahren sich weigerte, sie dem SEM auszuliefern. Der Mann zeigte, dass die Behörden auch anders entscheiden könnten, wenn sie nur wollten. Im Normalfall ist es leider so, dass männliche Angestellte der Asylbehörde den Frauen auf der Flucht auch die schlimmsten Gefährdungen zumuten und sich dabei auf die angebliche Schutzfähigkeit der betreffenden Vertragsstaaten berufen. In Wirklichkeit aber gibt es für Frauen, die vor sexueller Gewalt geflohen sind, in keinem ihrer Herkunftsstaaten Sicherheit. Sie sind auf entfernt liegende Rechtsstaaten angewiesen. 

Forderungen

Es ist höchste Zeit, dass wir uns wieder für Frauenflüchtlinge stark machen und auf folgenden Anliegen beharren: Das SEM soll wieder eine weiblich besetzte Fachstelle für geflüchtete Frauen einrichten und ihnen die Gewährung humanitärer Visa in den Schweizer Botschaften erheblich erleichtern. Ähnlich wie es letztes Jahr Amnesty International in einer Petition für Afghaninnen gefordert hat. Wir lassen uns auch nicht entmutigen, wenn unsere Anliegen ignorant oder besserwisserisch vom Tisch gewischt werden!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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3 Meinungen

  • am 6.02.2025 um 12:14 Uhr
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    Das Engagement für Frauen auf der Flucht ist wichtig und der Einsatz von Einzelpersonen und Organisationen für die Gefährdeten verdient höchsten Respekt. Allerdings verweist der Artikel zugleich auf einen dunklen Fleck, den auch der Journalismus kaum im Blick hat: Es gibt auch ein spezifisches Männerflüchtlingselend, das aber kaum je als solches in den Blick gerät und für das es, soweit ich weiß, keine Organisationen oder Fachstellen gibt. Dieses Elend ist eingebettet in ein Selbstverständnis sowohl in der Flucht- als auch in den Zufluchtsländern, dass Männern Migration eher zugemutet werden darf als Frauen. Dieses gesellschaftliche Framing macht, dass die Scham von Männern, über Folterung oder Vergewaltigung zu sprechen, vielleicht noch größer ist als die von Frauen und dass viele Untersuchungen von Opfern, die ihnen zu Asyl verhelfen würden, unterbleiben.
    Thomas Staubli, ehem. Asylseelsorger

    • am 7.02.2025 um 09:45 Uhr
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      Danke für diesen eindrücklichen, engagierten und wichtigen Bericht.

  • am 7.02.2025 um 17:23 Uhr
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    Anni Lanz erinnert daran, dass auch die von ihr erwähnte Leihmutterschaft ein Fluchtgrund ist, dito Abtreibungsverbot.
    Eine mögliche Abhilfe könnte sein, wenn die gefährdeten «she/her» Personen ermuntert werden würden, bei uns Schutz zu suchen und sich bei der Schweizer Botschaft melden könnten, wo ihnen bei der Einreise in die Schweiz geholfen wird. Man müsste dies vielleicht in den lokalen Medien publizieren.

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