Carolabrücke Dresden

Carola-Brücke in Dresden: Nur weil sie letzten September mitten in der Nacht einstürzte, gab es keine Toten. © ARD

Das Brückendesaster in Deutschland

Günther Moewes /  Die Ursache für marode Brücken ist nicht fehlende Instandhaltung – es sind fundamentale Planungsfehler. Das gilt weltweit.

Red. Günther Moewes war Professor für die Industrialisierung des Bauens in Dortmund. Bekannt wurde er vor allem durch sein grundlegendes Buch über ökologische Bauen «Weder Hütten noch Paläste» von 1995, das 2021 als Wiederauflage erschien (Nomen-Verlag).

Der marode Zustand vieler deutscher Brücken wird heute gern der versäumten Instandhaltung in der Ära Merkel angelastet. Das ist völlig falsch. Meist beruht er auf einem ganz bestimmten Konstruktionsfehler bei Spannbetonbrücken der 60er- und 70er-Jahre. Das gilt für die Carola-Brücke in Dresden ebenso wie für die A45, die Sauerlandlinie. Letztere war die erste völlig neu geplante deutsche Autobahn nach dem Krieg. Davor beruhten alle Baumassnahmen noch auf Planungen aus der Nazizeit. Allein bei der A45 müssen 60 grosse Talbrücken gesprengt und abgerissen werden. Wie kommt das?

Spannbetonbrücken seit über 100 Jahren

Spannbetonbrücken und deren Vorläufer gibt es seit 1909. Fast alle stehen weltweit noch. Bei Spannbeton wird der Bewehrungsstahl in Trägerrichtung wie eine Geigensaite vor- oder nachgespannt. Dadurch können Spannweite und Tragfähigkeit erhöht oder Trägerhöhe und Materialaufwand verringert werden. Dabei gibt es mehrere Varianten, je nach Lage oder Spannzeitpunkt der Stähle: extern, intern, mit Verbund oder ohne.

Rahmede-Talbrücke Lüdenscheid
Die Rahmede-Talbrücke in Lüdenscheid war derart marode, dass sie gesprengt werden musste.

Nur eine einzige dieser Varianten aus den 60er-Jahren erwies sich als katastrophal: Die Spannstähle wurden dabei in flexible Rohre verlegt. Vielleicht, damit das unterschiedliche Schwingungsverhalten des Stahls beim späteren dauernden Wechsel der Verkehrslasten nicht auf den Beton übertragen wird. Um die spätere Korrosion des Stahls zu vermeiden, presste man die Rohre dann unter hohem Druck mit Fett, Mörtel oder hochflüssigem Beton aus.

Niemand kann kontrollieren

Genau das war der Fehler: Niemand kann je kontrollieren, ob sich in den Rohren nicht doch Luftblasen gebildet haben. Man kann ja keine 30 Meter langen Betonträger röntgen. Man klopft sie zwar mit Hämmern ab, um Hohlräume zu hören. Hört man sie, und sie liegen zu weit innen, sind solche Brücken dennoch meist nie wieder reparabel. Denn eine Luftblase genügt, und der Stahl rostet langsam vor sich hin. Schliesslich bleiben nur Abriss oder Sprengung.

Diese nur interne Auspressvariante ist deshalb seit 1990 verboten. Warum man die Stähle durch Röhren zog und wer der Unglücksrabe war, der als Erster auf diese Idee kam, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Die Verursacher sind längst alle tot.

Korrosion auch in Genua

Genau wie der Konstrukteur des folgenden Beispiels: Das ist die berühmte, nach ihrem Erbauer benannte Morandi-Brücke in Genua. Keine Spannbeton-, sondern eine Stahlhängebrücke. Wie die berühmte rote Brücke in San Francisco oder die Brooklyn-Bridge in New York. Dennoch war auch in Genua die Ursache die gleiche: vermeidbare, aber kaum je wieder reparable Korrosion.

Crollo Ponte Morandi - Foto Vigili del Fuoco
43 Tote: Das ist die traurige Bilanz des Einsturzes der Morandi-Brücke in Genua im Jahr 2018.

Die Gründe, die hier die Korrosion verursachten, waren jedoch völlig andere: Sie waren nicht technischer, sondern modischer Natur: 1960 herrschte im Bauwesen die Mode des Brutalismus. Morandi hatte die Stahlseile deshalb mit Beton ummantelt, um sie optisch brutaler zu gestalten und überdies die aufwendige Stahlpflege zu sparen. Der Beton um die Tragseile hatte keinerlei tragende Funktion, sondern nur eine dekorative. Ein Fehler, der nicht einmal im zweiten Semester vorkommen darf.

Risse und Rostsuppe

Fuhren Lastwagen über die Brücke, schwang der Stahl. Die Folgen: Risse im Beton. Wasser drang ein. Der Stahl korrodierte. Risse und Rostsuppe waren schon 1993 vom Auto aus zu sehen. Zahlreiche Fachleute hatten damals bereits die Autobahngesellschaft gewarnt. Bei einem Pylon hatte man später auch mit halbherzigen Sanierungsarbeiten begonnen. Beim Einsturz 2018 gab es 43 Tote. Bei der Carola-Brücke in Dresden, die aus der DDR-Zeit stammte, gab es nur deshalb keine Toten, weil sie nachts um drei Uhr einstürzte.

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In privaten TV-Sendern gibt es oft Sendungen über weltweite «grosse Katastrophen». Auch speziell über Brücken-Einstürze. Sieht man von Schiffskollisionen mit Brückenpfeilern ab, beruhen auch hier fast alle auf Planungs- und nicht auf Instandhaltungsfehlern. Der Unterschied zu den oben beschriebenen Beispielen in Deutschland: Die meisten Fehler hätten auch noch nach der Fertigstellung jederzeit mühelos beseitigt werden können.

Irre Filmaufnahmen

Es hätten zum Beispiel nur kleine, planwidrig zu schwache Verbindungsbleche durch stärkere ersetzt werden müssen. Oder: Bei einer Hängebrücke im Osten der USA hatte man vergessen, die horizotalen Unterkonstruktionen der Fahrbahnen mit horizotalen Diagonalstäben gegen Windkräfte auszusteifen. Auch so ein Zweitsemesterfehler. Der uns allerdings irre Filmaufnahmen bescherte: Bis zum Einsturz schwankte die gesamte Brückenplatte minutenlang um mehrere Meter nach beiden Seiten hin und her und verdrehte sich grotesk. Hier gab es wegen der sich langsam steigernden Schwingungen ausnahmsweise keine Toten.

Die meisten weltweiten Planungs- oder Baufehler hat kein Mensch je bemerkt, und die Bauten stehen erfreulicherweise heute noch. Manche Baufehler wurden von Zeitzeugen im letzten Moment korrigiert. Auch dem Autor ist ein solcher Fehler als ganz jungem Studenten und Architekten einmal passiert. Beim Bau eines von ihm geplanten Wohnhauses hatten die Arbeiter Schwierigkeiten beim Verlegen der Baustahlmatten in einer Decke. Anstatt ihn anzurufen, schnitten sie die Matten einach in der Mitte durch. Hätte er das nicht bei einem Zufallsbesuch bemerkt, wäre die Decke eingestürzt und sein Leben vermutlich anders verlaufen.

Knapper Stahl

Es gab auf Grossbauten sogar Fehler, die erkannt oder sogar beabsichtigt und nicht behoben wurden. Beispiel: In der Wiederaufbauzeit nach dem Krieg war Stahl knapp. Es kam allzu häufig vor, dass nach der Abnahme und vor dem Betonieren Bewehrungseisen zum Teil wieder herausgezogen und gestohlen wurden.

Auch diese Bauten stehen heute noch. Wie das kommt? In Deutschland ist bei allen Baustatiken bis zu vierfache Sicherheit vorgeschrieben. Es gibt eigentlich nur ein Phänomen, bei dem grundsätzlich auch keine vierfache Sicherheit mehr hilft: Unvorhergesehene und nicht mehr erreichbare Luftblasen am Betonstahl.


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