Wissenschaftler warnen vor Tragödie schlimmer als «Contergan»
Wenn die synthetische Biologie ihr ultimatives Forschungsziel verwirkliche, im Labor «Spiegel-Bakterien» zu erschaffen, drohe der Welt eine Katastrophe. Spiegel-Bakterien sind künstliche Bakterien. Alles an ihnen wäre spiegelverkehrt aufgebaut, von der DNA im Innern bis zu den Rezeptoren auf ihrer Oberfläche.
Solche Bakterien könnten vielleicht dazu dienen, neuartige und langwirksame Medikamente herzustellen. Sie könnten aber auch grosses Unheil bringen, befürchten mehrere Dutzend Wissenschaftler.
Um verständlich zu machen, weshalb sie so besorgt sind, erinnern sie in ihrem fast 300-seitigen «Technologie-Bericht zu Spiegel-Bakterien: Machbarkeit und Risiken» eingangs an die «Contergan»-Tragödie.
Ein folgenschwerer Irrtum
Am 1. Oktober 1957 wurde in Deutschland das rezeptfrei erhältliche Medikament «Contergan» zugelassen. Sein Wirkstoff Thalidomid sollte gegen Nervosität, Wechseljahrs-Beschwerden, «verstärkte sexuelle Erregbarkeit der Frau», Schlafstörungen, Angst sowie Kontaktschwäche helfen. «Auch Schmerzmitteln wurde es zugesetzt», berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». «Innerhalb kurzer Zeit wurde Thalidomid ein wirtschaftlicher Erfolg, es wurde zunehmend häufiger verordnet und spielte in der Selbstmedikation eine bedeutende Rolle.»
Ausserdem wurde Thalidomid Frauen gegen Übelkeit in der Schwangerschaft gegeben. Damals gingen die Ärzte davon aus, dass Medikamente nicht durch die Placenta dringen können.
Zunächst Atombombentests als Ursache vermutet
Am 10. Mai 1958 warnte ein Kinderarzt in Franken, dass sich die Zahl der Kinder mit angeborenen Fehlbildungen verdreifacht habe. Die Ursache dafür vermutete er in Atombombentests.
Die Behörden prüften seine Behauptungen anhand der Geburtenstatistiken ab 1935 und kamen zum Schluss, dass es sich um «übertriebene Angst vor Missbildungen» handle, wie der «Münchner Merkur» im Oktober 1958 titelte – obwohl die Anzahl der Kinder mit schweren Fehlbildungen stark zunahm: In Westdeutschland wurden 1958 nur 24 solche Kinder registriert, 1961 dagegen 1515.
«Die Experten erhoben ihre Daten exakt bis zum Beginn der Katastrophe. Danach sahen sie den ‹Wald vor lauter Bäumen› nicht. Sie vertrauten ausschliesslich auf die ‹harten Fakten› der Epidemiologie und die langjährige wissenschaftliche Statistik. Die nicht dazu passenden Einzelfälle wurden als Bestätigung der Regel interpretiert», fasste ein Medizinprofessor den Ablauf im «Deutsche Ärzteblatt» zusammen.
Ein Kinderarzt fand den wahren Grund
Dass in Wahrheit ein Medikament hinter der Tragödie steckte, fand schliesslich ein deutscher Kinderarzt heraus. Nachdem er über 20 Neugeborene mit Fehlbildungen gesehen hatte, führte er stundenlange Interviews mit den Müttern der Kinder und befragte sie nach allem Möglichen. Dabei kristallisierte sich heraus, dass vermutlich die Einnahme von «Contergan» mit den Fehlbildungen im Zusammenhang stand. Etwa zeitgleich kam ein Frauenarzt in Australien zum gleichen Schluss.
Im November 1961 – vier Jahre nach der Zulassung von «Contergan» – berichtete der Kinderarzt seinen Kollegen auf einer Fachtagung von seinen Erkenntnissen. Acht Tage später wurde «Contergan» nicht mehr verkauft. Allein in Deutschland sollen etwa 5000 «Contergan»-geschädigte Kinder zur Welt gekommen sein, weltweit über 10’000. Diese Zahl wurde vermutlich noch übertroffen durch die Anzahl an Fehlgeburten. «Wir werden vielleicht nie genau erfahren, wie viele Menschen von Thalidomid betroffen waren, aber konservative Zahlen deuten darauf hin, dass es weltweit etwa 147’000 von Thalidomid betroffene Schwangerschaften gab, von denen nur 24’600 zu Lebendgeburten führten», steht in einem Artikel der «Wellcome»-Sammlung.
Die USA blieben von dieser Tragödie weitgehend verschont. Denn die zuständige Mitarbeiterin der US-Arzneimittelbehörde verweigerte dem Medikament die Zulassung. Ihre Begründung: Fehlende Daten zur Sicherheit. Ein Fachartikel in «Therapeutic Advances in Hematology» erzählte den Hergang– auch mit Fotos – nach.
Die linksdrehende Variante des Wirkstoffs führte zu den Fehlbildungen
Den genauen Grund für die Fehlbildungen und Aborte fand man erst später heraus. Es war der Wirkstoff Thalidomid, der in zwei Formen vorkommt: Linksdrehend und rechtsdrehend nennen Chemiker das. Die Bestandteile des Moleküls sind chemisch absolut identisch, aber sie sind spiegelverkehrt angeordnet, vergleichbar einem linken und einem rechten Handschuh.
Die rechtsdrehende Form des Wirkstoffs macht schläfrig. Die linksdrehende Form dagegen schädigt Zellen, die sich teilen. Deshalb kam es zu den verheerenden Wirkungen bei Föten. Besonders tückisch war, dass sich das «rechtsdrehende» Thalidomid im Körper in seine gefährliche, «linksdrehende» Form umwandeln konnte.
Wissenschaftler fordern eine breite Diskussion
In ihrem «Technologie-Bericht zu Spiegel-Bakterien: Machbarkeit und Risiken» warnen die 44 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun vor einer anderen, viel grösseren Katastrophe, die ebenfalls von der «Drehung» (siehe Kasten unten) ausgehen könnte – allerdings nicht mehr der von Molekülen, sondern von im Labor hergestellten Spiegel-Bakterien.
«Aufgrund unserer ersten Ergebnisse halten wir es für wichtig, darüber zu diskutieren, wie man die Risiken reduzieren kann.» Wissenschaftler, Regierungen, Geldgeber und andere involvierte Gruppen sollten zusammen überlegen, wie weiter vorgegangen werden solle, riet eine Arbeitsgruppe in einem Artikel im Wissenschaftsmagazin «Science» und lud die Öffentlichkeit ein, sich an den Diskussionen zu beteiligen.
«Den Risiken vorbeugen, bevor sie sich verwirklichen»
Die Wissenschaftler halten es für möglich, in etwa einem Jahrzehnt solches «Spiegel-Leben» im Labor zu kreieren. Dies erfordere grosse Investitionen und technische Fortschritte, die aber bei den entscheidenden Techniken durchaus erkennbar seien.
«Wir haben Gelegenheit, den Risiken vorzubeugen, bevor sie sich verwirklichen», schreibt die Arbeitsgruppe in «Science». Diese Risiken schätzt sie als erheblich ein. Doch bisher gebe es keine gründliche Risikobewertung.
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➞ Lesen Sie demnächst Teil 2: Warum Fachleute die Spiegel-Bakterien als schwere Bedrohung einstufen.
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Links- und rechtsdrehende Moleküle
Viele Bausteine der Natur sind entweder links- oder rechtsdrehend. Schneckenhäuschen etwa drehen sich meist nach rechts. Auch viele Moleküle werden als rechts- oder linksdrehend bezeichnet.
Der französische Chemiker Louis Pasteur entdeckte 1848 als Erster, dass Weinsäure-Kristalle bestimmte Lichtwellen mal in eine Richtung und mal in eine andere ablenken können – obwohl sich diese Weinsäure-Kristalle chemisch gleich verhielten. Pasteur schlussfolgerte, dass es zwei Arten von Weinsäure-Kristallen geben müsse, die wie Spiegelbilder aufgebaut seien.
Spätere Wissenschaftler fanden heraus, dass manche Moleküle bestimmtes Licht im Uhrzeigersinn (also nach rechts) «drehen», während andere Moleküle – aus den exakt gleichen Bausteinen – es nach links «drehen».
Geschmacks- oder Geruchsrezeptoren nehmen solche rechts- und linksdrehenden Substanzen manchmal sogar unterschiedlich wahr: 1886 bemerkte der italienische Chemiker Arnaldo Piutti, dass die Aminosäure Asparagin sehr süss schmeckt, wenn sie rechtsdrehend ist. Ihre linksdrehende Variante dagegen ist geschmacksneutral. Ein anderes Beispiel ist das in Kümmel und Dill vorkommende Öl Carvon: Es riecht im einen Fall nach Minze und im anderen nach Kümmel.
Beim Traubenzucker dagegen schmeckt sowohl die links- als auch die rechtsdrehende Form süss. Aber nur die rechtsdrehende hat für den Menschen auch einen Nährwert. Die in der Natur nicht vorkommende, linksdrehende Form der Glucose hingegen kann der menschliche Körper nicht verwerten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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