Kommentar
kontertext: Tante Erna, wie viel Erde braucht der Mensch?
«Was braucht man mehr», sagte Tante Erna gern, wenn sie sich im Schrebergarten auf ihren Plastikstuhl setzte, um geerntetes Gemüse zu rüsten. Manches Mal habe ich mich bei diesen wohlig hingeseufzten Worten umgeschaut – zwischen Stauden und Beeten, dem Holzhäuschen und der wackligen Freiluftdusche. Zugegeben, mir wären schon ein paar weitere Zutaten für ein erfülltes oder aufregendes Leben eingefallen, auch wenn es nett war, selbstgezogene Bohnen zu essen. Doch meine Tante ging ganz in ihrem Schrebergartenglück auf: Eine knappe Are Land bestellte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, solange er dazu noch in der Lage war; und später allein.
Gegen Neujahr begann sie vom Austrieb zu sprechen, von Stecklingen und der Grabgabel, vom kurzen Radeln hinaus zum Erdenfleck am Rand der Siedlung, wo die Gärten lagen. Und spätestens Ende Februar schien sie in ihrer Dachwohnung ein kleines Exil zu erdulden, bis es wieder Zeit war, Gazen von den Beeten zu ziehen, den Aussenhahn in Dienst zu nehmen und die Giesskannen zu füllen.
«Was braucht man mehr?»: Diese Frage fanden wir Jungen spiessig. Wir hörten darin das bürgerliche Behagen, im Kleinen ein Plätzchen für sich gefunden zu haben, einen Ort, um Wurzeln zu schlagen – ohne Träume, die mehr umfassten als ein Auskommen in Ruhe und Frieden, ein bescheidenes Glück, das hoffentlich erst der Herrgott einem nähme.
Wir dachten mehr ans Fort- als ans Aus- oder Ankommen; wir wollten weg vom Pflanzblätz unseres Lebens, fort von jener besten aller Welten, die unsere Eltern für uns ausersehen hatten, mit Einkaufsparadiesen und Ferienromanzen und dazwischen dem Kasernendienst des Berufslebens.
Bei den Baschkiren
Wenn ich heute, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, an Erna denke, kommen mir Zweifel an dem mitleidigen Lächeln, mit dem ich damals ihr Tun bedachte. Ich frage mich, ob ihr wohliger Garten-Refrain nicht einen Nerv getroffen hat, unwissentlich vielleicht. Dieser Nerv lag damals verborgen. Heute liegt er bloss.
Beim Nachdenken über ihren köstlichen Bohnensalat und die Freude, mit der sie Tomaten zog, fällt mir eine Erzählung aus dem Jahr 1886 ein: Wieviel Erde braucht der Mensch. Darin erzählt Leo Tolstoi von Pachom, der ein Grundstück kauft und Gutsbesitzer wird. Dies macht ihn glücklich, da er aus ärmlichen Verhältnissen stammt. Doch bald fühlt er sich beengt in seinem Tun. In dem Wunsch, die ideale Grösse für ein erspriessliches Wirtschaften zu erreichen, kauft er Landstück um Landstück zu. Doch das Dorf ist kein passender Rahmen für diese Expansion. Mit den Nachbarn überwirft er sich wegen kleinerer Flurschäden. Auch an der Obrigkeit reibt er sich. Als im näheren Umkreis die Landreserven zur Neige gehen und er an seiner Habe noch immer kein Genügen findet, obwohl sie tüchtig angewachsen ist, veräussert er sein gesamtes Gut und reist zu den Baschkiren in den südlichen Ural. Dort, so hat er vernommen, sei Steppenland günstig zu erwerben.
Die Baschkiren empfangen ihn freundlich. Für einen geringen Betrag darf er so viel Land kaufen, wie er von Sonnenauf- bis -untergang zu Fuss umrunden kann. Getrieben von der Gier, rennt Pachom gegen das Sinken der Sonne an und überschätzt seine Kräfte: Als er im schwindenden Licht doch noch den Ausgangspunkt erreicht, bricht er vor Erschöpfung zusammen. Die Erzählung endet mit den Worten: «Der Knecht nahm die Hacke, grub Pachom ein Grab, genau so lang wie das Stück Erde, das er mit seinem Körper, von den Füssen bis zum Kopf, bedeckte – sechs Ellen –, und scharrte ihn ein.»
Der Urschweizer, die Urschweizerin
Aufs Lebensende ging auch Tante Erna zu. Doch so alt, um nurmehr ihr Gärtchen zu bestellen, war sie noch nicht. Jenes Cultiver son jardin, das Voltaire für seinen Candide vorsah, war doch nur etwas für die Zeit kurz vor dem Tod! Frühere Resignationen kamen mir wie Spielformen eines kleinbürgerlichen Verzagens vor, nicht aber als Ausdruck von Weisheit. Das war wohl das Spiessige an Ernas Stosseufzern: jene Selbstgenügsamkeit, die Nietzsches Zarathustra «ein erbärmliches Behagen» nennt – der Rückzug vor den Problemen dieser Welt, das Ergötzen in der abgezirkelten Welt, und damit verbunden das Heimatgefühl in einem Kleinstaat, der sein Abseitsstehen zelebriert, als sei es ein Ritterschlag, von der Weltgeschichte ignoriert zu werden.
Erna und ihr Ehemann sahen im Urschweizer einen sehnigen Bebauer steiler Lagen, an wenig Schlaf, magere Böden und karge Mahlzeiten gewöhnt – karg, aber kernig. So legten sie sich den idealen Berglertypus zurecht. Obwohl sie im Flachland lebten, eiferten sie ihm nach, denn sie wollten gute Schweizer sein. Brachte man ihnen Geschenke, rissen sie beschämt die Verpackung auf, neugierig und aufgeregt. Sie staunten, was es in der Welt alles an Nützlichem gab, fanden aber, das wäre nicht nötig gewesen – man habe ja alles zum Leben hier.
«Hier», das war eine enge Dachwohnung. Jahrzehntelang nahmen sie mit ihr, einem Pflanzblätz und den Gängeleien der Verwaltung vorlieb. Und ihre Kinderlosigkeit ertrugen sie ohne ein Wort der Klage. Nur manchmal, wenn Erna mich etwas gar heftig drückte, fühlte ich ihren Schmerz.
Auf dem Erdenfleck
Wir wuchsen aus diesen Umarmungen heraus. Der bedürfnislose Schweizer aus den alpinen Randzonen war nicht unser Held. Wir wollten etwas erleben, etwas von der Welt sehen. Es musste nicht Las Vegas sein. Ein Kartäuserkloster im Burgund genügte, oder etwas etruskische Freskenmalerei, bloss kein Swiss Miniatur. Wir wollten fort von da, wo wir bestimmt waren zu bleiben. Nicht, dass wir fortschrittsgläubig gewesen wären – in der Denkschule, durch die wir gingen, war die Wachstumskritik ein Pflichtfach. Mit den Augen der amerikanischen Astronauten hatten wir erstmals auf die Begrenztheit der irdischen Ressourcen hinabgesehen – und belächelten nun alle, die den Fortschritt nach BIP-Kennzahlen massen und von «neuen Horizonten» sprachen, wo es doch nur um Konsum ging. Aber einfach auf jenem Erdenfleck zu verharren, dem man entstammte – am erlernten Handwerk festzuhalten bis ins Altenteil, ohne Drang, sich «neu zu erfinden» –, wäre uns dürftig vorgekommen.
Hand aufs Herz: Sind wir heute jenen Grenzen entkommen, die unsere Gene und unsere Erziehung, unsere Gaben und Mängel uns setzen? Haben wir es geschafft, anders zu leben als vorgesehen? – Schwer zu sagen. Doch gemessen an Ernas Bohnen und an Tolstois Pachom muten unsere Träume von der weiten Welt des Wissens und Könnens fragwürdig an – beim Anblick des Walzwerks etwa, das auf Ernas einstigem Pflanzblätz steht.
Die Entdeckerlust jener Zeit ist auf das Touristische zurückgeschrumpft. Jahr für Jahr tritt sie in Bildern von überfüllten Abflughallen und Stränden zutage. Sie hat uns Zwangslagen beschert, die an Pachoms Wettlauf mit der Sonne erinnern, Zwangslagen, deren Ausmass sich erst in Umrissen abzeichnet. Schreiten das Artensterben, die Erderwärmung und die Bodenerosion so fort wie bisher, wird vielleicht sogar der Grund für unsere Gräber knapp, und wir müssen uns in Luft- und Feuerbestattung üben. So oder so werden dann jene im Vorteil sein, die noch einen Schrebergarten besitzen und wissen, wie man stramme Bohnen züchtet.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
_____________________
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ihre Meinung
Lade Eingabefeld...