Rohingya in Bangladesch: Gefangen zwischen Armut und Gewalt
Theateraufführung in Camp 3 in der Region Ukhia, nahe der Grenze zu Myanmar: Ein Mann schlägt eine Frau, es wird geschrien – aus dem Publikum noch lauter als von den Schauspielenden. Dutzende Mädchen und Jungs verfolgen die Vorstellung im Rohingya-Flüchtlingslager. Das Thema heute ist häusliche Gewalt, aufgeführt wird es von einer Gruppe Freiwilliger, die hier leben.
Solche Aufführungen sind zentral für die Aufklärung und Sensibilisierung der Bewohnenden der Flüchtlingslager in Bangladesch. Vor allem für die Minderjährigen, die mittlerweile die Hälfte ausmachen. Sehr viele von ihnen kennen nichts anderes. Eine formelle Schulbildung gibt es für sie in den 33 Rohingya-Flüchtlingslagern nicht, die in der Grenzregion südlich der Touristenstadt Cox’s Bazar verstreut sind.
Was in den Theateraufführungen ebenfalls zur Sprache kommt: Kinderehen, die in den Flüchtlingslagern weit verbreitet sind. Es sind vor allem die Mädchen, die früh verheiratet werden. Einerseits ist es ein Schutzmechanismus: Sind sie mal im gebärfähigen Alter, steigt die Angst vor Übergriffen.
Die Sicherheitssituation in den Flüchtlingslagern hat sich zugespitzt, kriminelle Banden treiben ihr Unwesen, Drogenmissbrauch ist ein ernstes Problem. Mit einer Heirat hoffen manche Eltern, dass ihre Mädchen besser geschützt sind. Andererseits haben die Familien immer mehr Probleme, ihren Kindern das Minimum zu garantieren – sprich, sie zu ernähren. Die Rohingya sind komplett von humanitärer Hilfe abhängig und müssen mit immer weniger durchkommen.
Die Mittel, die den Hilfsorganisationen zur Verfügung stehen, werden immer knapper. Dazu kommt, dass im letzten Jahr nochmals geschätzt 40’000 Menschen aufgrund der Kriegshandlungen von Myanmar über die Grenze geflohen sind. Die Regierung in Dhaka registriert sie nicht mehr. Die Menschen im Flüchtlingslager teilen ihr Essen nun mit den Neuangekommenen.
Die Flucht nach der Vertreibung
Die meisten Rohingya, die als muslimische Minderheit in der Region Rakhaing im buddhistischen Land lebten, flüchteten 2017 aus Myanmar, nachdem die Armee mit extremer Gewalt gegen die Rohingya vorging. Die UNO sprach von ethnischen Säuberungen und Genozid. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Karim Ahmad Khan hat kürzlich einen ersten Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Deportation und Verfolgung beantragt.
Zu Beginn gab es Konflikte mit den Einheimischen im muslimischen Bangladesch: Die grösstenteils mittellosen Rohingya drängten in den Arbeitsmarkt, die Löhne in der ohnehin strukturschwachen Region Ukhia sanken stark. Zudem holzten Flüchtlinge grosse Flächen ab, um Hütten zu bauen.
Der Einsatz der internationalen Gemeinschaft zeigte danach auf, dass sich solche Krisen nur in gemeinsamem Handeln entschärfen lassen: Bangladesch stellte Land zur Verfügung, die grossen UNO-Organisationen bauten die Flüchtlingslager auf, kleinere Organisationen kümmern sich um den Betrieb. Die Einheimischen können den Flüchtlingslagern mittlerweile ihre landwirtschaftlichen Produkte verkaufen und finden manchmal Gelegenheitsjobs.
Durch die internationale Präsenz wurde die Gesundheitsversorgung verbessert, diese steht sowohl den Menschen im Flüchtlingslager wie auch jenen ausserhalb zur Verfügung. Und auch Einheimische nehmen teil an Aufklärungskampagnen gegen Kinderehen.
Die Situation für die Lagerbewohnenden indes hat sich nicht gebessert – im Gegenteil. Sie dürfen die Lager nicht verlassen, keine Arbeit aufnehmen und keine Ausbildung absolvieren. Die Banden, die als sogenannte «Nachtregierung» nach Sonnenuntergang den Ton angeben, sorgen zudem für Angst und Schrecken in den Flüchtlingslagern. Ein Geschäftsmodell von ihnen sind Entführungen.
Jamila hat uns in ihre bescheidene Behausung eingeladen, die sich neun Menschen teilen. Ausser Kochutensilien und ein paar Matten vom UNHCR besitzt ihre Familie praktisch nichts. «Nachdem mein Ehemann und ein Sohn von der Armee getötet worden waren, floh ich mit den übrigen Kindern im August 2017 über die Grenze», sagt sie.
Im Lager wurde ihr ältester Sohn Alungi von einer Bande entführt, die 50’000 Taka (370 Franken) Lösegeld verlangte – ungefähr vier Monatslöhne. Die Gemeinschaft legte für die völlig mittellose Frau zusammen, um ihn freizukaufen. «Die Lebensbedingungen sind sehr schlecht, das Essen reicht nicht aus und wir leben in konstanter Unsicherheit», sagt Jamila resigniert.
Ihr Sohn Alungi engagiert sich mittlerweile als Freiwilliger in der Jugendgruppe der Organisation, die hinter den Aufklärungstheatern steht. So habe er wenigstens etwas zu tun, sagt er. Klärt man die Kinder auf, so erreicht die Botschaft der Bühnenstücke auch die Eltern, so die Hoffnung. Vor allem die Mütter, die ihre Behausungen kaum verlassen, will man über die Kinder erreichen.
Angesichts der desolaten Lage eine Herkulesaufgabe: In den letzten Monaten gibt es immer mehr Berichte von arrangierten Rohingya-Kinderehen. Manche werden bis nach Malaysia gebracht, das Problem hat sich längst auf weitere Staaten ausgeweitet. Zudem gibt es eine Zunahme von Menschenhandel von Frauen – in die sexuelle Sklaverei in Bordelle in ganz Südostasien.
Wie soll es weitergehen?
Die Regierung von Bangladesch will die Rohingya loswerden. Zurück nach Myanmar sollen sie gehen, doch in den verworrenen Bürgerkrieg wollen die staatenlosen Rohingya nicht zurück – und die bangladeschische Regierung kann sie dazu auch nicht zwingen. Die Übergangsregierung unter dem Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus hat die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, Kontingente von Rohingya-Flüchtlingen aus den Lagern zu übernehmen.
Bangladesch ist eines der ärmsten Länder in Asien, das Land erlebte im Sommer einen politischen Umsturz und die Wirtschaft befindet sich in einer ernsthaft angespannten Lage – die Rohingya haben für die Regierung des Landes mit 170 Millionen Einwohner:innen keine Priorität.
In den Flüchtlingslagern bahnt sich unterdessen weiteres Unheil an: Hinter vorgehaltener Hand sagen Experten, dass «die Lager zu Soldatenreservoirs für den Bürgerkrieg in Myanmar mutieren». Desillusionierte junge Männer, die keine Perspektive haben, gibt es hier viele.
Schlagzeilen produziert die Flüchtlingssituation in Bangladesch aber kaum mehr. Das Leiden der Rohingya geht unvermindert weiter.
Kinderehen in Bangladesch
Bangladesch gehört zu den Ländern mit den höchsten Zahlen an Kinderehen, wobei vor allem Mädchen betroffen sind. Mehr als die Hälfte werden vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, davon ein Drittel sogar unter 15.
Es gibt eine klare Relation zu Einkommen und Bildungsstatus: Je ärmer und tiefer das Bildungsniveau, desto eher werden sie früh verheiratet. Das Ganze ist ein Teufelskreis, denn jung verheiratete Mädchen haben höhere Schulabbruchquoten, höhere Gesundheitsrisiken und sind in jeder Hinsicht vulnerabler.
Bangladesch hat in den letzten zwei Jahrzehnten grosse Fortschritte bei den Frauenrechten gemacht. So haben grossangelegte Programme die Armutsreduktion und Einschulung vorangetrieben, die Müttersterblichkeitsrate reduziert, die Gesundheitsversorgung (inklusive Familienplanung und Empfängnisverhütung) weitflächig zugänglich gemacht – und die Fertilitätsrate auf rund 2 Kinder pro Frau gesenkt. In den 1970er-Jahren hatte eine Frau in Bangladesch im Schnitt noch 7 Kinder.
Die Rohingya profitieren kaum davon. Die Bevölkerung in den Lagern gilt als konservativer als die Einheimischen, die Fertilitätsrate beträgt nach Schätzungen ein Vielfaches. Der gesellschaftliche Druck, Mädchen früh zu verheiraten, findet in der Perspektivlosigkeit des Lagerlebens einen fruchtbaren Boden.
Dieser Beitrag ist zuerst auf swissinfo.ch erschienen.
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