Syrien: Entwicklungen wie auf Treibsand
«Es ist an der Zeit, das Land wieder zu vereinen und wieder aufzubauen», forderte der türkische Aussenminister Hakan Fidan am vergangenen Sonntag vor Journalisten am Rande des Doha-Forums in Katar. Die syrischen Oppositionsgruppen sollten sich jetzt zusammenschliessen. In der Nacht auf Sonntag war Damaskus, wie zuvor auch Aleppo und Homs, kampflos an die islamistischen Rebellen gefallen. Der unerwartet rasante Umbruch hat den Einfluss alter Akteure im Land, wie des Irans und Russlands, empfindlich reduziert; neue treten an ihrer Stelle auf die Kriegsschaubühne.
Das Gebot Ankaras
Die Türkei wähnt sich in Syrien als «grosser Sieger». Ohne das grüne Licht aus Ankara hätten die islamistischen Rebellen ihren Vormarsch auf Aleppo und Damaskus vermutlich nie begonnen. Dies ist sich Aussenminister Fidan Hakan bewusst. Als Gegenleistung für den unverhofften Sturz Assads möchte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan aber dem «neuen Damaskus» seine Syrien-Politik mitdiktieren können.
Das Gesicht des Siegs ist jedoch Abu Mohammed al-Jolani. Er ist der populärste Führer der sunnitischen Opposition in Syrien und mächtiger als je zuvor. Wird er sich den Wünschen Ankaras etwa im Konflikt mit den Kurden im Nordsyrien beugen?
In Ankara werden bereits Zweifel laut, ob sich die Türkei auf Abu Mohammed al-Jolani verlassen kann. Im Sotschi-Abkommen, das 2016 von Russland, dem Iran und der Türkei unterzeichnet wurde, hatte sich Ankara verpflichtet, in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens die Macht al-Jolanis und seiner islamistischen Bewegung Hayat Tahrir al-Sham (HTS) einzuschränken. Dies ist Ankara nie gelungen. Die HTS hat ihre Wurzeln in der arabischen al Qaida; ihr Führer Al-Jolani agierte meist unabhängig.
Der türkische Aussenminister Fidan war vor seinem jetzigen Amt Leiter des türkischen Geheimdienstes (MIT). Während seiner langen Amtszeit baute er den MIT zu einer mächtigen Institution aus, die sich nun auf einer Stufe mit der amerikanischen CIA oder etwa dem israelischen Mossad sieht. Zuvor verfügte der MIT eher über begrenzte Kompetenzen und konzentrierte sich vor allem auf «innere Feinde».
Die Gründung der sogenannten «Syrischen Nationalarmee» (SNA) fiel mit Fidans Vorsitz des MIT zusammen. Die SNA wurde nach 2016 von Ankara in der Hoffnung ausgebildet und bewaffnet, einen Regierungswechsel in Damaskus herbeiführen zu können. Entgegen allen Erwartungen blieb die SNA jedoch bis zuletzt ein loser Zusammenschluss korrupter Warlords.
Al-Jolanis HTS und die SNA bilden heute den wichtigsten bewaffneten Arm der syrischen sunnitischen Opposition. Die Sunniten stellen mit 75 Prozent die überwältigende Mehrheit der syrischen Bevölkerung. Der türkische Aussenminister rief in Doha eindringlich zur Vereinigung aller syrischen Oppositionsgruppen auf. «Das Prinzip der Inklusion aller darf niemals in Frage gestellt werden», sagte Hakan Fidan. Mehr als ein Appell sollten seine Worte eine unmissverständliche Warnung an al-Jolani sein, nicht die Alleinherrschaft in Damaskus anzustreben.
Syrischer Kulturkampf
Der Einmarsch der Rebellen in Damaskus zwang Präsident Baschar al-Assad zur Flucht. Die russische Nachrichtenagentur TASS bestätigte, dass ihm und seiner Familie in Moskau politisches Asyl gewährt wurde. Damit ging die ein halbes Jahrhundert währende Herrschaft der Familie al-Assad endgültig zu Ende.
Diese begann mit Hafis al-Assad, dem Vater des jetzt gestürzten Präsidenten. Hafis strebte in Syrien einen arabisch-nationalistischen Staat nach dem Vorbild des Irak und Ägyptens an und verordnete seinem Volk einen strikten Säkularismus. Da die Bevölkerung mehrheitlich sunnitisch und in den Provinzen teils noch tiefreligiös war, kam es zu Aufständen. Und weil die al-Assads der religiösen Minderheit der Alawiten angehörten, nahmen die sozialen Unruhen oft den Charakter eines Kulturkampfes an. Hafis griff zu immer brutaleren Mitteln der Repression.
Bezeichnend ist, dass am Ende seiner Herrschaft sechs mächtige, miteinander konkurrierende Geheimdienste jeden Winkel des Landes zu überwachen und jede Opposition im Keim zu ersticken hatten. Als 1982 in der mittelsyrischen Stadt Hama ein Aufstand der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit gegen das Regime ausbrach, ließ Hafis die historische Altstadt Hamas in Schutt und Asche bomben; über Zehntausend Menschen kamen ums Leben.
Synonym für Folter
Nach Hafis’ Tod kam der junge Baschar zunächst als Hoffnungsträger einer politischen Liberalisierung an die Macht. Doch schon bald erwies er sich als schlechter Abklatsch seines tyrannischen Vaters: Im Lauf des Bürgerkriegs nach 2011 kamen schätzungsweise bis zu einer halben Million Menschen ums Leben. Mehr als 13 Millionen Syrerinnen und Syrer, mehr also als die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung des Landes, wurden vertrieben. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben heute über 6 Millionen von ihnen als Flüchtlinge ausserhalb ihres kriegszerrütteten Landes.
Das Militärgefängnis Saydnaya wurde zum Symbol der Assad-Herrschaft und zum Synonym für unvorstellbare Folter, systematische Erniedrigung und Massenhinrichtungen. Der private Kanal Al-Jazeera aus Doha zeigte als erster Nachrichtensender Bilder von Häftlingen, die noch völlig verwirrt, völlig erschöpft die Tore ihres Martyriums hinter sich liessen. «Ich stand auf der Liste der Hinrichtungen. Heute Morgen sollte der letzte Morgen meines Lebens sein», erzählte ein Mann, unfähig, seine Freude über den überraschenden Umbruch in Damaskus in Worte zu fassen.
Geordneter Rückzug? Russischer Deal?
Über ein halbes Jahrhundert stellten die Alawiten die politische und wirtschaftliche Elite des Landes. Während ihrer Herrschaft konnten sie dabei auf die zumindest stille Unterstützung auch der christlichen Minderheiten zählen. Die beiden religiösen Minderheiten machen ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus (15 Prozent Alawiten und 10 Prozent verschiedene christliche Kirchen).
Der neue starke Mann in Damaskus, Al-Jolani, hat zwar zur Respektierung aller Minderheiten aufgerufen. Dennoch geht unter Alawiten und Christen Angst vor Racheakten und offenen Abrechnungen um. Es ist ein Modell, das sich im Nahen Osten beinah monoton wiederholt: Auf säkuläre Diktaturen, welche die Religionsfreiheit für die Minderheiten garantieren, folgen religiös-fundamentalistische Regierungen, die keinen Freiraum für Andersdenkende lassen. So war es bislang im Iran und in Afghanistan, in Ägypten sowie in Libyen.
Aus diesem Grund will die Mehrheit der Alawiten und Christen den Zusicherungen der neuen Machthaber in Damaskus nicht trauen. Noch unter dem Schock der unglaublichen Implosion ihrer Armee sind sie dabei bereit, zu glauben, dass es sich in Wirklichkeit um einen geordneten Rückzug der syrischen Armee handle. Und dass dieser auf einer Vereinbarung zwischen den globalen Akteuren beruhe.
Und so machen Gerüchte und Karten in Damaskus die Runde, wonach die alawitische Minderheit in den syrischen Mittelmeerprovinzen Latakia und Tarsus künftig eine Autonomie gewährleistet werde. Diese Provinzen sind ohnehin das traditionelle Siedlungsgebiet der Alawiten. Hat Moskau also den Sturz al-Assads gegen die Sicherheit seiner Militärbasen in Tarsus und Latakia getauscht?
Tatsache ist, dass der Kreml den raschen Vorstoss der Islamisten zumindest hätte abbremsen können, hätte es in der Anfangszeit der Rebellion die wichtige Verbindungsstrasse M4 bombardiert. Die russische Luftwaffe tat dies aber nicht. Tatsache ist auch, dass Russland nicht bereit ist, auf die Militärbasen in Tarsus und Latakia zu verzichten. Denn sie sind die einzigen russischen Stützpunkte im Mittelmeer.
Demografische Umwälzungen
Mehr als 6 Millionen Syrer leben als Flüchtlinge ausserhalb ihres Landes, die meisten von ihnen direkt in den umliegenden Nachbarländern. Rund 3.2 Millionen sind allein in der Türkei beheimatet. Der Sturz des Regimes öffne den Weg für eine sichere Rückkehr dieser Flüchtlinge in ihre Heimat, sagte der türkische Vize-Präsident Devdet Yilmaz am Sonntag. Wird diesen Menschen die Wahl zu einer freiwilligen Rückkehr erlaubt? Oder werden sie vielmehr zurückgezwungen?
Eine Migrationswelle droht das instabile Land aber vor eine neue Zerreissprobe zu stellen und die Demografie ganzer Landstriche fundamental zu verändern. Angaben der Vereinten Nationen zufolge sind bereits über 150’000 Menschen auf der Flucht.
Die ersten Flüchtlinge nach Beginn des Kriegs waren Kurden. Sie kamen aus dem Gebiet Sehba um die Stadt Tell Rifat. Beide Städte fielen Ende November an die SNA.
Die meisten dieser Flüchtlinge stammten ursprünglich aus der Stadt Afrin. Die Geschehnisse um die Region Afrin sind eine vom Westen weitgehend ignorierte Tragödie: Die türkischen Truppen hatten unmittelbar nach ihrem ersten Einmarsch in Afrin 2018 die Kontrolle über diese Region an ihre Verbündeten SNA übergeben. Und die islamistischen Kriegsherren der SNA verwandelten das ehemalige Universitätszentrum der syrischen Kurden in eine Region, in der laut renommierten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch Plünderungen, Folter, Vergewaltigungen und Vertreibungen an der Tagesordnung sind.
Aus dem einst multikulturellen Aleppo nach Rojava
Aus Angst vor Repressalien fliehen seit dem Fall Aleppos auch Abertausende aus den kurdischen Vierteln der Grossstadt wie Sheikh Makqsood und Ashrafiyeh in Richtung Nordosten. Dem Flüchtlingstreck der Kurden schlossen sich nach und nach die Yeziden aus Aleppo an. Der 3. August 2014, als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in die nordirakische Stadt Sindschar einfiel, bis zu 10’000 Männer ermordete und fast 7.000 Frauen und Kinder versklavte, hat sich als das 74. grosse Massaker in die kollektive Erinnerung dieser kleinen religiösen Minderheit im Nahen Osten eingebrannt. Wie sollten sie unter Islamisten leben?
Im multikulturellen Aleppo lebten auch rund 80’000 Armenierinnen und Armenier, bis der syrische Bürgerkrieg 2011 diese lebensfrohe Minderheit auf heute 12’000 dezimierte. Die armenische Kirche hat nach dem Fall von Aleppo ihre Gläubigen zur Ruhe aufgerufen. Wer kann, versucht dennoch, ebenfalls in den Nordosten des Landes zu fliehen. Wie die armenisch-sprachige Zeitung «Kantasar» aus Aleppo berichtete, wurden zwei armenische Ärzte bei ihrem Fluchtversuch von Scharfschützen tödlich verletzt.
Kurden, Christen und Jeziden fliehen in die kurdisch kontrollierte Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES), bekannt auch als Rojava, weil die dort dominante, politische Bewegung, ideologisch vom Kurdenführer der Türkei Abdullah Öcalan beeinflusst, strikt säkulär ist. In der AANES gilt zudem die Geschlechtergleichheit, was für Minderheiten von besonderer Bedeutung ist. «All diese Menschen brauchen Zelte, Lebensmittel, Medikamente. Wir brauchen humanitäre Nothilfe, um Unterkünfte, Wasser und Nahrung zu sichern», warnte vor kurzem Sêxmûs Ehmed, der in Rojava für Camps und Migration zuständig ist.
Könnte Rojava der dritte Teil einer künftigen syrischen Föderation sein?
Stehen die Islamisten wieder vor Kobani?
Drei Hauptakteure haben drei unterschiedliche Antworten: Israel würde eine Teilung Syriens entlang konfessioneller Zugehörigkeiten begrüssen, schreibt aus Tel Aviv die im Nahen Osten gut informierte internet-Plattform «al monitor». Man spricht bereits von einer sogenannten «Kantonisierung». Diese könnte eine Region für Sunniten, eine für die Alawitisch-Schiiten, eine weitere für Drusen und schliesslich eine für Kurden beinhalten.
Allerdings wiederholte Recep Tayyip Erdogan: Die «Türkei wird eine neue Teilung Syriens niemals tolerieren». Ankara betrachtet Rojava schon aufgrund der ideologischen Nähe ihrer Führung zur PKK als ein «Nest von Terroristen», das von der Landkarte ausgelöscht gehört. Nach heftigen Kämpfen mit der von der Türkei unterstützten SNA mussten sich die Kurden letzten Dienstag aus der strategisch wichtigen Stadt Manjib westlich des Euphrats zurückziehen. Nun sollen die Kämpfer der islamistischen SNA in Richtung Kobani marschieren.
Kobani gilt den Kurden als «historische Stadt». Drei Monate lang belagerten im Jahr 2015 die Dschihadisten des IS das kleine Städtchen an der Grenze zur Türkei und konnten es nie einnehmen. Kurdische, meist schlecht bewaffnete Jugendliche bescherten bei Kobani dem damals übermächtigen ISIS seine erste empfindliche Niederlage. Damals beschloss US-Präsident Obama, eine Allianz mit den syrischen Kurden zu schliessen.
Washington ist heute in dieser Frage aber gespalten. Joe Biden erklärte zwar, die amerikanischen Truppen würden weiterhin im Gebiet bleiben. Die 900 US-Soldaten verkörpern für Rojava die Garantie ihrer Existenz. Der neue US-Präsident Donald Trump aber liess unlängst verlauten: «Die Lage in Syrien ist chaotisch. Die USA sollten sich nicht einmischen. Es ist nicht unser Kampf», schrieb er auf seiner Plattform Truth Social. «Mischt Euch nicht ein».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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