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Erfolg vor Bundesgericht: Anwältin Anouck Zehntner erstritt für ihre Klientin eine Unfallrente. Diese war 2004 von einem Auto angefahren worden und leidet noch heute an den Folgen. © zvg

Auch dank Infosperber kommt Unfallopfer wieder zur Rente

Andres Eberhard /  Die «Allianz» hatte mit perfiden Tricks viele Opfer um eine Rente geprellt. Jetzt vollzog das Bundesgericht eine Kehrtwende.

Die Allianz Suisse ist Opfer ihrer eigenen Unverschämtheit geworden. Sieben Jahre lang hat die Versicherung systematisch kleine Unfallrenten aufgehoben, wie Infosperber vor zwei Jahren aufdeckte. Sie argumentierte dabei mit angeblichen Formfehlern beim 10 oder 20 Jahre zurückliegenden Rentenentscheid – Fehler wohlweislich, die sie selbst verschuldet hat. Stossend war das Vorgehen der Versicherung auch darum, weil die Allianz für einen Grossteil der geschuldeten Renten vorgängig entschädigt wurde. Von der Haftpflichtversicherung erhielt sie teilweise mehrere Hunderttausende Franken pro Fall. Die Versicherung machte also potenziell Gewinn zulasten von Unfallopfern.

Nun aber ist die Allianz offenbar zu weit gegangen. Denn das Bundesgericht hat eine für seine Verhältnisse äusserst ungewöhnliche Kehrtwende vollzogen und die Praxis gestoppt. Es hiess die Beschwerde einer 68-jährigen Frau gut, die vor 20 Jahren von einem Auto angefahren wurde und noch heute daran leidet. In seinem Urteil verweist das höchste Gericht auch auf die Recherchen des Infosperbers.

«Sündenfall» des Bundesgerichts

Vor dem neusten Urteil hatten etliche andere Unfallopfer gegen die Allianz geklagt. Bis dato erfolglos, weil das höchste Gericht selbst die Tricksereien der Versicherung möglich gemacht hatte. Im Jahr 2017 hatte es einen Leitentscheid gefällt, den der Gerichtspräsident selber Jahre später reumütig als «Sündenfall» bezeichnen sollte. In dem Entscheid befand das Bundesgericht, dass die Allianz Renten zu Recht aufhebt, wenn nicht nachweislich geprüft wurde, ob ein «adäquater» kausaler Zusammenhang zwischen Unfall und Beschwerden besteht.

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Die Allianz Suisse nahm keine Stellung zu den Vorwürfen.

Für geprellte Unfallopfer bedeutete der damalige Entscheid des höchsten Gerichts: Wer sich gegen die Aufhebung seiner Rente wehren möchte, muss beweisen können, dass die Versicherung vor 10 oder 20 Jahren korrekt gearbeitet hat. Wie grotesk das ist, zeigte sich auch im aktuellen Fall vor Bundesgericht. «Wir mussten anhand der Akten der Unfallversicherung, auf deren Vollständigkeit die Versicherten keinen Einfluss haben, beweisen, dass die Versicherung eine Prüfung gemacht hat, die sie ohnehin hätte machen müssen», sagt Rechtsanwältin Anouck Zehntner vom Advokaturbüro indemnis Basel auf Anfrage. Zehntner vertrat im aktuellen Fall die Frau vor Bundesgericht (siehe auch Kasten am Ende des Artikels).

Versichertenanwälte sind erleichtert…

Nun kehrt das Bundesgericht zu seiner ursprünglichen Rechtssprechung zurück. Es geht davon aus, dass die erforderliche «Adäquanzprüfung» erfolgt ist – ob nun mündlich oder schriftlich. Es betritt damit wieder den Pfad des gesunden Menschenverstandes: «Es darf nämlich davon ausgegangen werden, dass die Unfallversicherung die Leistungsanforderungen kennt und diese prüft, bevor sie eine Rente oder Integritätsentschädigung zuspricht», schreibt das Gericht im Urteil lapidar. Dazu muss man wissen: Dass nicht alles 20 Jahre in Aktenschränken überdauert, hat auch damit zu tun, dass sich die Parteien in der Praxis oft auf mündlich getroffene Vergleiche einigten.

Nach dem Urteil atmen Anwälte von Versicherten auf. «Endlich schiebt das Bundesgericht der Praxis der Allianz, langjährige Rentenleistungen mit scheinheiliger Begründung zu streichen, einen Riegel», kommentiert Rainer Deecke vom Verband Versicherte Schweiz. Der Luzerner Anwalt Christian Haag betreute selbst mehrere ähnliche Fälle. Er schätzt die Zahl Betroffener auf mehrere Hundert. Haag sagt, dass viele in die Abhängigkeit von Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe abgedrängt wurden. «Nachdem sie beruflich komplett desintegriert waren, strich die Versicherung die jahrzehntelange Berentung aus heiterem Himmel.» Für sie kommt die Einsicht des Bundesgerichtes zu spät: Die Chancen, in Revision gehen zu können, sind klein.

…den höchsten Richtern ist es peinlich

Für die pensionierte Sachbearbeiterin, deren Beschwerde das Bundesgericht gutgeheissen hat, nimmt der jahrelange Rechtsstreit ein gutes Ende. Sie erhält rückwirkend und auch in Zukunft die Leistungen für die 30%-Rente, welche ihr die Allianz im Jahr 2015 gestrichen hatte. Trotz jahrelanger Therapie leidet sie nach wie vor an Schmerzen im Kopf, Nacken, Gesicht und Knie.

Dem Bundesgericht wiederum scheint der Fall peinlich zu sein. Erst vor zwei Jahren hatte die Mehrheit der Bundesrichter das Vorgehen der Allianz vor Publikum vehement als rechtens verteidigt. Nun wurde das angeblich einstimmig gefällte Urteil den Parteien auf dem Postweg eröffnet. Publiziert werden soll es nicht.

Die Allianz wollte zu den im Artikel erhobenen Vorwürfen keine Stellung nehmen.

Versicherungen halten häufig Akten zurück

Anouck Zehntner ist die Anwältin der Frau, deren Fall kürzlich vor Bundesgericht verhandelt wurde. Sie sagt, sie habe während des Verfahrens anhand von Hinweisen festgestellt, dass Akten fehlten, und deswegen mehrfach intervenieren müssen. Da die Akten nicht digitalisiert waren, musste sie teils wochenlang auf die Zustellung warten. Vor Gericht habe die Versicherung dann plötzlich 19 weitere Aktenstücke präsentiert, welche sich in den zuvor zugestellten Akten nicht befanden. Trotzdem fehlte am Ende nachweislich eine möglicherweise entscheidende Aktennotiz eines Telefongesprächs. Diese Tatsachen erlaubten es der Anwältin, dem Bundesgericht aufzuzeigen, zu welch stossender Beweisproblematik dessen Rechtssprechung führte.

Zehntner, die auf Unfälle und Versicherungsfragen spezialisiert ist, stellt allgemein fest, dass bestimmte Unfallversicherungen immer wieder Akten zurückhalten. Auch vor Gericht wollen sie diese nicht herausgeben. «Begründet wird das sogar mit dem Datenschutz», sagt Zehntner. «Doch es ist nicht die Aufgabe der Versicherung zu beurteilen, welche Akten für das Verfahren massgeblich sind. Vielmehr ist sie verpflichtet, vor Gericht die gesamten Akten zu editieren.»

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