Kommentar

«Dieses Mal irrt sich Rudolf Strahm»

Walter Langenegger © zvg

Walter Langenegger /  Unser Autor wundert sich, warum der Wirtschaftsexperte ausgerechnet mit der Mehrwertsteuer die 13. AHV-Rente finanzieren will.

Red. Der Autor dieses Gastkommentars war Inlandchef des «St.Galler Tagblatts» und Kommunikationschef der Stadt Bern. Er ist Delegierter der SP Schweiz.

Rudolf Strahm bringt Teile seiner Partei ins Grübeln. Hatte die SP vor der Abstimmung über die 13. AHV-Rente stets betont, dass eine Zusatzfinanzierung über die Mehrwertsteuer (MWST) nicht in Frage kommt, so wirbt der SP-Wirtschaftsexperte nun unter anderem in einer Kolumne für die Konsumsteuer und verleiht ihr das Prädikat «sozial».

Abstrakter Vergleich

Strahm versucht dies damit zu belegen, dass die einkommensschwächsten 20 Prozent der Haushalte nur auf einen Drittel ihrer Konsumausgaben Mehrwertsteuer zahlen, während es beim reichsten Fünftel zwei Drittel sind (siehe Kasten unten). Darum belaste – so sein Argument – der vom Bundesrat vorgeschlagene AHV-Zuschlag von 0,7 Prozent die untersten Einkommensschichten monatlich «nur» mit 7 Franken, die obersten 20 Prozent hingegen mit 28 Franken.

Doch was gut daherkommt, steht bei näherer Betrachtung auf wackligen Beinen. Denn Strahm kaschiert mit diesem abstrakten, nur schwer auf die realen Lebensverhältnisse übertragbaren Beispiel die Tatsache, dass ein Aufschlag von 28 Franken für hohe Einkommen weniger als ein Trinkgeld ist.

Soziale Lohnprozente

Das zeigt sich vor allem, wenn man die gleiche Rechnung mit den AHV-Lohnprozenten macht: Bei deren Erhöhung um beispielsweise 0,4 Prozent – also um 0,2 Prozent für die Arbeitnehmenden – steigen die Kosten für einen Kleinverdiener mit 4000 Franken Lohn etwa gleich stark, nämlich um 8 Franken, während jemand mit einem Monatslohn von 30‘000 Franken 60 Franken mehr bezahlt. Das ist das Siebeneinhalbfache dessen, was der Tieflohnbezüger zahlt, und fast das Doppelte im Vergleich zur Mehrwertsteuer. Auch das spüren die hohen Einkommen kaum; aber die solidarische Umverteilung ist bedeutend effektiver.

Noch deutlicher zeigt sich die soziale Wirkung der AHV-Lohnprozente, wenn man die Beiträge der Arbeitgeber mit einrechnet: Dadurch verdoppeln sich die Erträge für die AHV-Kasse nochmals. Mit dem um 8 Franken höheren AHV-Beitrag «erkauft» sich der Kleinverdiener also ein Vielfaches an AHV-Mehreinnahmen – weit mehr, als er dies jemals mit den 7 Franken über die Mehrwertsteuer erreichen könnte.

Die Masse zahlt, nicht die Reichen

Darüber hinaus blendet Strahm aus, dass die hohen Einkommen mit lediglich einigen hunderttausend Haushalten nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen. Auch wenn sie noch so viel konsumieren, so bleibt ihr Anteil am Mehrwertsteuer-Ertrag insgesamt begrenzt. Zahlen tun vor allem andere: die breite Masse der 3,5 Millionen Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen. Sie sind es, die die Mehrwertsteuer zur Hauptsache alimentieren. Anders gesagt: Wird die AHV über die Mehrwertsteuer finanziert, zahlen Kleinverdiener und Mittelklasse viel mehr in den Topf, als wenn die gleiche Summe über Lohnprozente beschafft würde.

MWST ist ein Nullsummen-Spiel

Fazit: Die Finanzierung der AHV über die Konsumsteuer bedeutet, auf eine echte solidarische Umverteilung von oben nach unten zu verzichten. Es ist ein Nullsummenspiel, das hohen Einkommen erlaubt, sich aus ihrer sozialpolitischen Verantwortung zu stehlen und die breite Bevölkerung zwingt, fast die ganze Rechnung selbst zu bezahlen.

Auch Rentner zahlen

Dies gilt umso mehr, als auch andere Argumente Strahms wenig stichhaltig sind. So moniert er, dass fast zwei Millionen Rentnerinnen und Rentner keine Lohnprozente zahlen und suggeriert, dass sie sich nicht an der AHV-Finanzierung beteiligen. Das ist falsch. Rentnerinnen und Rentner haben ein Berufsleben lang Beiträge eingezahlt und sich damit ein Recht auf AHV erworben. Es ist unfair, ihnen dies jetzt streitig zu machen.

Zudem entrichten Rentnerinnen und Rentner Einkommens- und Bundessteuern auf ihre Renten, mit denen unter anderem die AHV-Ergänzungsleistungen sowie der AHV-Bundesbeitrag und damit ein Teil der AHV-Renten mitfinanziert werden. Dank der Progression wird sichergestellt, dass insbesondere wohlhabende Rentnerinnen und Rentner ihren gerechten Teil zur Altersvorsorge beitragen. Und dass jene mit bescheidenen Renten steuerlich eher geschont werden, ist nur recht und billig.

Nicht überzeugend ist auch Strahms Argument, Kapitalertragsbezüger ohne Erwerbseinkommen könnten mit der Mehrwertsteuer zur AHV-Finanzierung herangezogen werden. Erstens haben Personen, die keine Beiträge gezahlt haben, ohnehin keinen Anspruch auf AHV. Und zweitens dürfte ihre Zahl so gering sein, dass sie für die AHV-Finanzierung kaum relevant sind. Darum: So berechtigt Strahms Kritik an der geringen Besteuerung von Kapitalerträgen ist: Das ist ein Problem unseres Steuersystems, nicht der AHV.

Falsche Steuerpolitik

Dass die Mehrwertsteuer kaum als sozial gelten kann, belegt auch die Steuerpolitik der bürgerlichen Mehrheit: Seit 40 Jahren betreibt sie einen Umbau weg von den sozialen Einkommenssteuern und Lohnprozenten hin zu unsozialen Kopfsteuern wie Krankenkassenprämien und Mehrwertsteuer. Das zeigt sich auch jetzt wieder bei der Budgetberatung: Wenn Steuererhöhung, dann nur bei der Mehrwertsteuer, so das bürgerliche Credo.

Die Folge dieser Politik ist, dass hohe Einkommen und Vermögende entlastet werden, während die Steuerlast für die breite Bevölkerung die gleiche bleibt. Eine über die Mehrwertsteuer finanzierte AHV verschärft diese Entwicklung. Genau deshalb sollten wir diesmal Rudolf Strahm kein Gehör schenken.


Strahm: Warum die Mehrwertsteuer sozial ist

upg. Im Oktober in der «Handelszeitung» und am 3. Dezember in den Tamedia-Zeitungen bezeichnete es der frühere Preisüberwacher Rudolf Strahm als einen «Mythos», dass die Mehrwertsteuer unsozialer sei als Lohnabzüge.

Seine Argumente in Kürze:

  • Personen mit unterdurchschnittlichem Einkommen zahlen nur auf einem Drittel ihrer Konsumausgaben überhaupt die Mehrwertsteuer. Denn die Mietkosten, Krankenkassenprämien und andere Versicherungsbeiträge sind von der Mehrwertsteuer befreit. Diese von der Mehrwertsteuer befreiten Ausgaben machen bei den 20 Prozent einkommensschwächsten Haushalten zwei Drittel der Haushaltausgaben aus.
  • Den restlichen Drittel ihres Geldes geben diese Haushalte vor allem für Nahrungsmittel, Medikamente, Telecom oder Kultur aus. Diese Ausgaben profitieren vom tiefen Mehrwertsteuersatz von 2,6 Prozent.
  • Die 20 Prozent Einwohner mit den höchsten Einkommen dagegen geben den grösseren Teil ihres Geldes für Waren und Dienstleistungen aus, bei denen die Mehrwertsteuer 8,1 Prozent beträgt.
  • Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer belastet deshalb das reichste Fünftel der Bevölkerung in absoluten Franken (nicht in Prozent des Einkommens) viermal stärker als das einkommensschwächste Fünftel.

________

upg. Am sozialsten ist eine Erhöhung der progressiven Bundessteuer, weil über eine Million Steuerpflichtige mit niedrigen Einkommen keine Bundessteuer zahlen müssen. Siehe Beitrag von Werner Vontobel.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Walter Langenegger ist Delegierter der SP. Er war Inlandchef des «St.Galler Tagblatts» und später Kommunikationschef der Stadt Bern. Er veröffentlicht seine Beiträge im Blog «Meinung».
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Senioren Paar.monkeybusiness.Depositphotos

Die Zukunft der AHV und IV

Die Bundesverfassung schreibt vor, dass die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf angemessen decken müssen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

6 Meinungen

  • am 11.12.2024 um 11:14 Uhr
    Permalink

    Unerklärlich, warum ein altgedienter SPler die unsoziale MWSt bevorzugt und warum die Linke nicht die gem. Umfragen breit akzeptierte Transaktionssteuer vehement fordert.

  • am 11.12.2024 um 12:20 Uhr
    Permalink

    Es wäre doch endlich an der Zeit über andere Finanzierungsansätze zu diskutieren, nämlich einen MWST-Satz ‹Luxus›, wie beispielsweise der Kauf von Privat-Jets, SUV…….

    • Langenegger
      am 11.12.2024 um 13:56 Uhr
      Permalink

      Danke. Was Sie fordern, geht in Richtung Lenkungsabgaben. Diese sind aber nicht unproblematisch. Damit schafft man sozusagen privilegierte Güter und Dienstleistungen, die sich letztlich nur die obersten 10 bis 20 Prozent leisten können. Plakativer gesagt: Die Reichen können sich freikaufen und Luxusgüter geniessen, alle anderen indes sind davon ausgeschlossen. Das entspricht nicht meinem Ideal einer modernen Gesellschaft. Ich bevorzuge bei bestimmten Gütern und Dienstleistungen staatliche Verbote für alle bzw. für arm und reich sowie – wie Werner Vontobel – höhere Bundessteuern und eine steilere Progression bei den kantonalen Steuern für die hohen Einkommen.

  • am 11.12.2024 um 13:35 Uhr
    Permalink

    Da gehe ich mit Hr. Langenegger völlig einig. Hier ist die Mehrwertsteuer so sozial wie etwa die Kopfsteuer bei der Krankenkasse.

  • am 11.12.2024 um 14:03 Uhr
    Permalink

    Rudolf Strahm irrt sich nicht. Walter Langenegger irrt sich. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer (MWST) zur Finanzierung der AHV wäre kein Nullsummenspiel. Von der Erhöhung der AHV-Rente profitieren die Pensionierten zu Lasten der Berufstätigen. Bei einer Erhöhung der MWST bezahlen auch die Pensionierten einen Teil ihrer erhöhten Einkommen. Bei einer alternativen Erhöhung der AHV-Beiträge würden nur die Berufstätigen belastet, die Umverteilung zu Gunsten der Alten wäre noch ausgeprägter.

    • Langenegger
      am 11.12.2024 um 14:15 Uhr
      Permalink

      Danke für den Kommentar. Aber es stimmt nicht, dass sich die Rentnerinnen und Rentner nicht an der Finanzierung der Altersvorsorge beteiligen. Erstens haben Sie ein Berufsleben lang AHV-Beiträge eingezahlt und sich damit ein Recht auf eine Rente erworben. Ihnen dies jetzt streitig machen zu wollen, erachte ich als unfair. Zweitens zahlen Rentnerinnen und Rentner so wie alle auch Einkommenssteuern. Ein Teil der Erträge daraus fliesst in die Finanzierung der AHV-Ergänungsleistungen. Und wer auch noch Bundessteuern zahlt, der alimentiert damit den AHV-Bundesbeitrag, woraus ebenfalls ein Teil der AHV-Renten mitfinanziert werden. Und was fair ist daran: Je reicher Rentner sind und desto höhere Rentenbezüge sie haben, desto mehr tragen sie dank Progression zur Mitfinanzierung des AHV-Bundesbeitrags bei. Übrigens zeigt gerade dieser Mechanismus, wie sozial die AHV-Finanzierung heute ist. Mit einer weiteren MWST-Finanzierung hingegen mindern wir diese solidarische Umverteilung.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...