E-Health: Luzern und Bern gingen voran – folgt jetzt Zürich?
Wer sich im Luzerner Kantonsspital oder im Berner Universitätsspital Insel behandeln lassen musste, kann alle seine medizinischen Daten vom Eintritt bis zum Austritt systematisch geordnet in einer kostenlosen App konsultieren. Auch die Haus- und Praxisärzte können sich über das Zuweiserportal «InselLink» kostenlos anschliessen und ihre Diagnosen, Verschreibungen und Behandlungen direkt eingeben.
Für Lizenz- und Einführungskosten zahlte die Inselgruppe rund 90 Millionen Franken. Kleinere Spitäler in den Kantonen Luzern und Bern können sich dem elektronischen Datensystem Epic der grossen Spitäler ebenfalls anschliessen, ohne die teure Software selber zu kaufen.
«Falls sich alle Spitäler und Arztpraxen an Epic beteiligen würden, könnte dies nicht nur das klassische elektronische Patientendossier (EPD) überflüssig machen, sondern auch den Weg für eine visionäre Plattform ebnen, die Patientenversorgung, Forschung und Innovation in einem vollständig vernetzten digitalen Gesundheitsraum vereint», sagt Martin Fiedler, ärztlicher Direktor des Berner Universitätsspitals Insel, gegenüber Infosperber.
Das elektronische Patientendossier ist eine 15-jährige Leidensgeschichte
«Falls» ist der Pferdefuss. Die Geschichte eines EPD in der Schweiz ist eine 15-jährige Leidensgeschichte. Im Jahr 2009 hatte «eHealthSuisse» – ein «Koordinationsorgan Bund-Kantone» – für die Einführung der EPD verhängnisvolle «Leitlinien» erlassen. Eine Leitlinie war mit «realistische Schritte und Wettbewerb» überschrieben: «Die Umsetzung nimmt Rücksicht auf die politischen, kulturellen und organisatorischen Besonderheiten der Gesundheitsversorgung in der Schweiz.» Im Klartext: Alle sollen dreinreden dürfen. Zudem sei ein «Standortwettbewerb erwünscht», allerdings «nicht auf Kosten der Interoperabilität».
Seither haben viele Spitäler und Ärztenetzwerke mit viel Geld ihre eigenen elektronischen Datenerfassungen eingeführt. Doch «interoperabel» sind sie bis heute nicht, obwohl die Dossiers bisher meistens aus nichts anderem bestehen als kaum auswertbaren Sammlungen von (PDF-)Dokumenten.
In der Folge hatten die Patienten- und Konsumentenorganisationen der ganzen Schweiz im Jahr 2012 an den damaligen Gesundheitsminister Bundesrat Alain Berset gemeinsam sechs Forderungen für ein rasches EPD gestellt. Vergeblich.
Das strukturierte Erfassen und Auswerten der Patientendaten soll insbesondere auch die Qualität der Behandlungen verbessern. Beispielsweise würden Medikamente, die sich mit anderen nicht vertragen, schneller erkannt. Oder eine ungenügende Qualität eines Hüft- oder Kniegelenks würde rascher aufgedeckt. Auch würde es möglich, unterschiedliche Behandlungen der angeschlossenen Spitäler miteinander zu vergleichen.
«Ob der Bundesrat handelt oder nicht, wird mitentscheiden, wie viele weitere Patientinnen und Patienten in den kommenden zehn und zwanzig Jahren vermeidbare gesundheitliche Konsequenzen erleiden müssen oder sogar an vermeidbaren Todesursachen sterben», meinte Erika Ziltener, damals Präsidentin des Dachverbands der Patientenstellen.
Doch 15 Jahre nach den «Leitlinien» sind die Patientendossiers noch immer unbrauchbar. Der angestrebte «Standortwettbewerb» ist endgültig gescheitert. Im September 2024 titelte die NZZ: «Bern pocht auf eine zentrale Lösung». Spitäler, Ärzte, Apotheker und Physiotherapeuten sollen verpflichtet werden, sich dem EPD anzuschliessen.
Spitäler auf Überholkurs
Trotz viel Werbung für das neue, wenig auswertbare EPD des Bundes haben sich erst wenige Leute angeschlossen – bisher viel weniger Personen als allein an der Berner Inselspital-Gruppe beim deren Patienten-Portal. Dieses Portal ist bedeutend nutzerfreundlicher und umfassender als das EPD des Bundes. Dieses besteht heute vor allem in einer Sammlung von PDF-Dokumenten. In dieser kann man zwar nach Stichworten suchen, aber nicht viel mehr.
Die Qualität der Behandlungen war ein wichtiges Motiv, weshalb zuerst das Luzerner Kantonsspital und dann Anfang 2024 auch das Berner Universitätsspital Insel die amerikanische Software Epic einführten.
Die Dateneingabe ist allerdings anspruchsvoll und benötigt für das ganze Personal vom Laborangestellten über das Pflegepersonal bis zu den Chirurgen eine gründliche Einführung. Auch in der Berner Inselgruppe war es für Viele eine Herausforderung.
Professor Martin Fiedler vom Inselspital sieht trotzdem grosse Vorteile:
«Epic wird bereits an über 2000 international renommierten Spitälern eingesetzt, darunter führende Einrichtungen wie das Boston Medical Center, das Cambridge University Hospital, die Mayo Clinic, das Memorial Sloan-Kettering Cancer Center und das University College London. Als Nutzer von Epic wird man Teil dieser globalen Gemeinschaft, die sich für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung einsetzt.»
Fiedler nannte weitere Gründe, weshalb sich die Inselgruppe für Epic entschied:
- Der gesamte Patientenpfad wird vollständig digitalisiert: Alle Daten der Patientenreise werden in einem zentralen System gebündelt und sind für alle Beteiligten jederzeit einsehbar, sowohl für die Patientinnen und Patienten über die App «myInsel» als auch für die behandelnden Fachpersonen im Spital sowie die Hausärztinnen und Hausärzten über «InselLink». Dies steigert erheblich die Transparenz, die Behandlungsqualität und die Patientensicherheit.
- Epic ist als monolithisches System konzipiert, das sämtliche Bereiche eines Krankenhauses integriert. Im Gegensatz dazu sind viele andere Systeme modular aufgebaut und bestehen aus verschiedenen Subsystemen, etwa für Labor, Bildgebung oder Intensivstation. Dieser modulare Aufbau führt oft zu Schnittstellenproblemen. Mit Epic konnten wir in der Inselgruppe 55 Subsysteme erfolgreich abschaffen und so eine nahtlose Integration erreichen.
- Epic ermöglicht die Eingabe strukturierter Daten, was eine essenzielle Voraussetzung für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und für translationale Forschungsprojekte schafft.
Das Luzerner Kantonspital ergänzt gegenüber Infosperber:
- Epic ist die einzige Software, die ausschliesslich für den Gesundheitsbereich entwickelt wurde.
- Für den Service haben wir es mit einem einzigen Anbieter zu tun.
- Epic ist für US-Verhältnisse codiert. Es ist aber für eigene Bedürfnisse konfigurierbar. Dank Open Source kann man fremde Konfigurationen übernehmen.
Andere Spitäler sind am Evaluieren
Laut «Inside Paradeplatz» erwägen auch das Universitätsspital Zürich und das Universitäts-Kinderspital Zürich den Kauf der Epic-Software. Das USZ hält sich in der Evaluationsphase noch bedeckt und schrieb Infosperber:
«Ziel des USZ ist ein am Patientenpfad orientiertes Klinikinformationssystem mit möglichst geringen System- und Prozessunterbrüchen, welches unsere Mitarbeitenden bestmöglich unterstützt. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Systeme, Schnittstellen und Funktionalitäten durchgängig neu konzipiert werden. Aktuell läuft das Submissionsverfahren. Eine Entscheidung ist im ersten Quartal 2025 vorgesehen.»
Offensichtlich hat sich das Universitäts-Kinderspital Zürich nach einer Ausschreibung bereits für Epic entschieden. Die Medienstelle teilte Infosperber mit:
«Epic hat die Submission für sich entschieden. Es laufen Verhandlungen mit Epic […] und der detaillierte Projektumfang und die Gesamtkosten werden ermittelt und der Beschaffungsantrag wird gestellt.»
Anders sieht es in der Westschweiz aus, wo Spitäler ein eigenes System entwickeln wollen. L’Hôpital du Valais teilte mit:
«Wir verwenden nicht das Epic-System und haben beschlossen, gemeinsam mit den Universitätsspitälern Genf (HUG) eine IT-Plattform – die erweiterte integrierte Patientenakte (DPI+) – zu entwickeln. Dies ist eine strategische Entscheidung, die es den Einrichtungen ermöglicht, unabhängig von Softwareherstellern zu bleiben und die notwendige Agilität bietet, um auf die Bedürfnisse der medizinischen und pflegerischen Berufe zu reagieren.»
Wie hiess es doch in den Leitlinien von «eHealthSuisse» von 2009: «Die Umsetzung nimmt Rücksicht auf die politischen, kulturellen und organisatorischen Besonderheiten der Gesundheitsversorgung in der Schweiz.»
Frau und Mann in der Schweiz warten weiter darauf, dass sie ihre Gesundheitsdaten genau so einsehen und prüfen können wie ihre Steuerdaten oder Bankdaten. Einigermassen vollständig können die Daten nur sein, wenn mit dem «Standortwettbewerb» Schluss ist.
Beispiel Dänemark
Die Däninnen und Dänen können ihre vollständigen Gesundheitsdaten schon seit 2003 elektronisch konsultieren. In jenem Jahr wurde das nationale Gesundheitsportal sundhed.dk offiziell gestartet, nachdem es 2001 lanciert worden war.
Das Portal ermöglicht es den dänischen Bürgerinnen und Bürgern, auf ihre persönlichen Gesundheitsdaten zuzugreifen, die bis ins Jahr 1977 zurückreichen. Mit ihrer bei der Geburt erhaltenen Identifikationsnummer können sich die Däninnen und Dänen rund um die Uhr am Portal anmelden und ihre individuelle Krankengeschichte, Untersuchungsergebnisse und Medikamente einsehen.
Sundhed.dk fungiert als zentraler Zugangspunkt, der Daten aus mehr als hundert verschiedenen Quellen bündelt und für Patienten sowie medizinisches Fachpersonal zugänglich macht.
Das System hat sich über die Jahre stetig weiterentwickelt und umfasst heute eine Vielzahl von Funktionen, darunter die Einsicht in Diagnosen, Behandlungsverläufe, Operationen, Entlassungsbriefe, Medikationspläne, Röntgenbefunde, Überweisungen, Impfdaten und Laborwerte.
Trotz der funktionierenden Patienten-Dossiers nutzen drei Viertel aller Spitäler seit 2017 die Software Epic. Nach der Einführung gab es Kritik des Personals wegen mangelhafter Instruktion und wegen des Zeitaufwands. Probleme machten auch die Übersetzungen aus dem Englischen ins Dänische.
Ein weiteres Problem waren unterschiedliche gesetzliche Vorgaben. In Dänemark dürfen beispielsweise Pflegefachfrauen in dringenden Fällen Medikamente verschreiben, in den USA nicht. Deshalb führte bei Epic jeder Versuch einer Pflegefachfrau, eine «unzulässige» Rolle zu übernehmen, also ein Medikament zu verschreiben, zu einer Blockade.
Epic sorgt bei den angeschlossenen Spitälern vor allem für Transparenz, erlaubt Vergleiche zwischen den Spitälern und macht medizinischer Entscheidungen nachvollziehbar.
Arztpraxen und Apotheken sind in Dänemark bei Epic nicht angeschlossen. Die vollständigen Patienten-Dossiers bleiben im Gesundheitsportal sundhed.dk.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das wäre in der Tat sehr praktisch. Wahrscheinlich werden aber ins Dossier nur schulmedizinische Massnahmen aufgenommen. Ob damit Menschen besser behandelt und gesünder werden, möchte ich bezweifeln. Und wollen wir, dass Staat, Private und Kriminelle einen einfachen Zugriff auf unsere gesammelten Gesundheitsdaten haben? Die Übergriffigkeit des Staates haben wir mit Covid bestens erfahren, die Privatwirtschaft ist ohnehin nur am eigenen kurzfristigen Profit interessiert und die Sicherheit dürfte kaum gewährleistet werden können, gerade auch bei Grenzübertritten ins Ausland. Sollte nicht besser der Einzelne Verantwortung für seine Krankheitsgeschichte übernehmen statt sie einer undurchsichtigen Institution überlassen? Orwell lässt grüssen.
Sehr geehrter Herr Gasche
ich habe einen Wikipedia-Artikel gefunden, der die Lobhudeleien über das EPIC-System etwas kritischer sieht: Schwierigkeiten bei der Implementierung, Uebersetzungsschwierigkeiten bei einer US-Software, Probleme beim Datenschutz etc
Was meinen Sie dazu? Das Rennen scheint gelaufen!
Gruss S.Raimann
Über die Implementierung und aufwändige Einführung habe ich informiert. Eine Anpassung auf europäsische Verhältnisse ist auch nie einfach. Aber in Sachen Qualitätskontrolle der medizinischen Leistungen sind die mit Epic arbeitenden US-Spitäler der Schweiz und Deutschland weit voraus. Jetzt können sich das Luzerner Kantonsspital und die Inselgruppe mit diesen Spitälern vergleichen. Es wäre von öffentichem Interesse, wenn diese Vergleiche veröffentlicht werden.
Man darf auch nicht vergessen, dass es bei dieser Software um ein grosses Geschäft geht. Da wird manchmal mit harter Bandage gekämpft. Schweizer Spitäler können davon profitieren, dass die Software in den letzten Jahren laufend verbessert wurde.
Für die Patientinnen und Patienten stehen die Übersicht und die Kontrolle ihrer medizinischen Daten und Dokumente im Vordergrund.
Sehr geehrter Herr Gasche
Was heisst «weit voraus»? Voraus bei was? Wurde das breit diskutiert?
Sehr viele Ärzte sind klar dagegen.
Jede Form von ePatientendossier hat ein unlösbares Problem: Die Datensicherheit!
Es gab einmal ein geschütztes Arzt-Patienten-Verhältnis und Geheimnis.
Wollen wir dies wirklich preisgeben und eintauschen gegen Datenverfügbarkeit und Geschwindigkeit?
Dient es den Menschen oder nicht doch eher Konzernen und denjenigen, die diese Daten absaugen und für ihre (auch ganz anderen) Zwecke auswerten und einsetzen können?
Klar, es gibt auch positive Seiten, wie bei allen menschlichen Entwicklungen, aber leider viele negative Seiten und diese negativen Seiten überwiegen für mich als Arzt eindeutig. Nicht zuletzt ist es auch die Anfälligkeit der IT-Systeme und die Abhängigkeiten von Strom, Internet, IT-Spezialisten, teuren Updates, Zeitverlust, schlechterer menschlicher Kontakt, Speicherung in irgendeiner Cloud. Wir sollten die Diskussion darüber vertieft führen!
Weniger die Hausärzte als viele der mehr verdienenden Spezial- und Spitalärzte widersetzen sich schon lange einer zentralen Erfassung der medizinischen Daten. Das Argument Datenschutz war häufig unglaubwürdig, weil die gleichen Ärzte in ihrem E-Mail-Verkehr mit PatientInnen und anderen Leistungserbringern sowie mit der Datensicherung in ihren eigenen Praxen die gebotenen Sicherheitsmassnahmen nicht einhielten.
Ärzten geht es nach meinem Eindruck in erster Linie darum, dass niemand die Qualität ihrer Diagnosen und die Qualität ihrer Behandlungen kontrollieren kann. Anonymisierte Behandlungsvergleiche würden dies in wichtigen Bereichen ermöglichen. Die Qualitätsunterschiede sind von Arzt zu Arzt erheblich – wie bei allen Berufen. An mehr Transparenz haben Patientinnen und Patienten ein grosses Interesse.
Ich hatte früher einmal beim Verband der Frauenärzte, beim Kantonsarzt und bei Gesundeitsbehörden eine Umfrage gemacht, nach welchen Kriterien eine Frau ihre Gynökologin oder ihren Gynäkologen auswählen soll. Sie gaben als einziges Kriterium an, Frauen könnten ja andere Frauen zu ihren Erfahrungen fragen. In der Praxis heisst das, dass die Freundlichkeit der Ärztin oder des Arztes, die Ausstattung des Wartezimmers und die Wartezeit die wichtigsten Qualiätskriterien sein sollen.
was mir fehlt, ist die problematik im datenschutz! wie gut resp. wie schlecht sind die programme? und wer hat jeweils zugriff zu welchen daten?
die beiden anderen kommentare haben diese problematik auch angesprochen. ich finde nebst all den vorteilen, sollte auch der umgang mit den risiken besprochen werden.
gruss aus der ostschweiz
e. haller
Bei einer Software, zu der viele Stellen Zugang haben, besteht immer das Risiko eines Datenlecks – abgesehen von Hackerangriffen. Es gab sie auch in einzelnen Spitälern der USA, welche Epic nutzen. Solche Ereignisse führen stets zu hohen Kosten und zu einem Reputationsschäden, der Gift für die Spitäler ist. Diese haben deshalb ein enormes Eigeninteresse, die Software so sicher wie möglich zu betreiben.
Auch unsere Bank- und Steuerdaten im Internet könnten gehackt werden. Dem Risiko eines Datenlecks muss man die Vorteile von Epic gegenüberstellen. Epic erlaubt es, die Qualität der Behandlungen zu kontrollieren und viele vermeidbare Gesundheitschäden und Todesfällen in Spitälern zu vermeiden.
Der Föderalismus hat wieder einmal zugeschlagen. Zuerst wurden Lösungen entwickelt, die als einzigen gemeinsamen Nenner PDF erkoren. Und das unter dem Titel «Digitalisierung».
Dabei gibt es für den Datenaustausch im Gesundheitsweisen Normen: HL7 (Health Level 7) ist am weitesten verbreitet. in der Version VHIR wird besonders Wert auf Interoperabilität gelegt.
Das muss die Zukunft sein!