Flucht übers Mittelmeer: Endstation Sizilien
Die markante Baumallee lässt schon erahnen, dass der Friedhof von Pozzallo stattlich ist. Zaghaft tritt man durch die Eingangspforte, über der ein grosses Kreuz schwebt, und begeht ein verworrenes System von geraden Wegen und vielen kleinen Nischen. Man begegnet reich geschmückten Gruften, die sich wohlhabende Familien bauen liessen. Dann zerschneiden Urnenwände, in denen quadratische, schlichte Betonplatten eingelassen sind, das Gelände in geraden Linien. Die Nischen mit den Urnen gehören jenen, die sich ein Familiengrab nicht leisten können. Aber auch diese werden liebevoll gepflegt, immer wieder stellen Angehörige frische Blumen hin.
Doch vor einigen Betonplatten bleiben die Blumentöpfe leer. Niemand legt ein Steinchen hin, eine Plastikblume oder ein anderes Zeichen zum Gedenken. Denn niemand kennt die Menschen, die auf der Überfahrt von Nordafrika nach Sizilien starben, von den Wellen an den Strand getragen wurden und auf dem Friedhof von Pozzallo bestattet sind. Auf einer Platte steht «3A» oder der Name des Schiffes, mit dem der Verstorbene wohl in Tunesien in See gestochen war, in der Hoffnung, in Europa etwas Schutz zu finden. Auf den Grabplatten steht gerade so viel, wie man über die Toten erfahren konnte – von einem Zettel, den man in der Hosentasche fand oder auf einem vom Salzwasser zerfressenen Dokument, das an einer Schnur um den Hals hing.
Ich bin im Spätherbst mit dem Fahrrad in Sizilien unterwegs und bleibe ein paar Tage in Pozzallo. Pozzallo ist jenes Städtchen ganz im Süden der autonomen Region, das knapp 20’000 Einwohner:innen zählt, kaum mit Attraktionen punkten kann, aber vor Jahren berühmt geworden ist, weil hier täglich hunderte Migrant:innen ankamen. Neben Lampedusa war es jener Ort in Italien, der am meisten belastet war, an dessen Küste lecke, mit Menschen überfüllte Schiffe strandeten. Viele Menschen starben bei der Überfahrt, so viele, dass die Gemeinde den Kühl-Anhänger eines Lastwagens zum Leichenhaus umfunktionieren musste, um die Situation zu meistern. Es kamen Journalist:innen aus der ganzen Welt, schrieben grosse Reportagen. TV-Crews standen sich am Hafen von Pozzallo auf die Füsse und trugen ihre Dokumente in die Welt hinaus.
Heute kommen keine Journalist:innen mehr. In Pozzallo ist es wieder ruhig und (fast) wie es einmal war.
Blockierte Seenotrettung: Salvini drohen sechs Jahre Haft
Während ich ergriffen durch den Friedhof schreite, schaukelt sich die mediale Aufregung auf der anderen Seite der Insel hoch – in der sizilianischen Hauptstadt Palermo. Vor dem Gerichtsgebäude warten gut zweihundert überspannte Journalist:innen auf die Ankunft von Matteo Salvini. Der rechtsnationale ehemalige Ministerpräsident Italiens und heutige Verkehrsminister will dem Plädoyer seiner Verteidigerin persönlich horchen. Die Verteidigerin, Giulia Bongiorno, Ex-Ministerin und Senatorin der radikal rechtspopulistischen Partei Lega, wird auf alle Vorwürfe der Anklage pfeifen und fordern, dass ihr Mandant freigesprochen wird. Salvini hatte zuvor in einem Video gehöhnt, dass er «schuldig» sei, «schuldig, Italien und die Italiener verteidigt zu haben». Giorgia Meloni, die rechtsextreme Ministerpräsidentin, versicherte ihm die «totale Solidarität». Viktor Orban, der rechtskonservative Ministerpräsident von Ungarn, rief ihm online zu: «Matteo, wir sind mit dir!». Und alle verkünden schon, die allfällige Verurteilung nicht zu akzeptieren. Ein Merkmal, das moderne, rechtsnationale Despot:innen eint: demokratische Prozesse zu untergraben und auszuhöhlen. Am Abend sehe ich auf allen italienischen News-Kanälen aufgeregte Reden und wie die Rechtsnationalen die Bühne in Palermo nutzen, um ihre Botschaften zu verbreiten.
Lia Sava leitete die Untersuchung der Staatanwaltschaft gegen Salvini und forderte am 21. September 2024 sechs Jahre Haft für den Lega-Chef. Danach wurde sie massiv bedroht und erhielt Polizeischutz wie jene, die gegen die Mafia ermitteln. Das Delikt, das Salvini zur Last gelegt wird: Freiheitsberaubung und Amtsanmassung in 147 Fällen. Er soll in seiner Zeit als Innenminister im August 2019 das Schiff der spanischen Hilfsorganisation «Open Arms» 19 Tage am Einlaufen in einen Hafen gehindert haben. An Bord befanden sich 147 Migrant:innen, unter anderem Geflüchtete aus Eritrea, die am 1. und 2. August unweit der libyschen Küste gerettet worden waren. Auf Anweisung von Salvinis Ministerium wurde dem Schiff untersagt, die nächstgelegenen Häfen, etwa Lampedusa oder Pozzallo, anzulaufen und weit entfernte Häfen zugewiesen, Algeciras in Südspanien oder auf den Balearen. Das kam aus Sicht der Crew nicht in Frage. Als einige Flüchtlinge über Bord sprangen und versuchten, an Land zu schwimmen, griff die Staatsanwaltschaft von Palermo ein. Am 20. August 2019 konnte das Schiff mit 83 noch an Bord befindlichen Geflüchteten in Lampedusa landen.
Für touristische Massen zu wenig interessant
Der Friedhof von Pozzallo liegt erhöht, nordöstlich ausserhalb der Stadt. Von hier hat man einen guten Überblick. Pozzallo zieht sich ein paar Kilometer entlang dem Küstenstrand. Homer soll hier schon an Land gegangen sein. Der Torre Cabrera wurde im 15. Jahrhundert erbaut, um Angriffe von Schiffen abzuwehren. Seither ist die Stadt auf Schiffskarten aufgeführt und hat sich um diesen dicken Festungsturm ins Land hinein entwickelt. Handelsschiffe ankerten, um frisches Wasser an Bord zu holen, was dem Ort wohl den Namen gab: Pozzallo, «Brunnen am Meer». Der Corso Vittorio Veneto könnte allenfalls ein bisschen mondän erscheinen, würde er vom Autoverkehr nicht fast erdrückt. Auch der barocke Palazzo comunale «Giorgio La Pira» gibt etwas her, und von dort schweift der Blick direkt zur schönen Chiesa Madre Madonna hoch, in der zahlreiche Trauerfeiern für verstorbene Migrant:innen stattfanden. Doch in den parallel angelegten Strassenzeilen hangaufwärts sieht es eher ärmlich aus, in den schmalen Gassen zerfallen Häuser, etliche sind zum Verkauf ausgeschrieben. Für touristische Massen ist das definitiv zu wenig interessant. Sie zieht es eher zum spätbarocken Prunk in Ragusa, Noto oder Modica. Nur der Sand am Küstenstreifen ist einzigartig, viel feiner als anderswo. Elf Strände dürfen sich derzeit in Sizilien mit der Blauen Flagge schmücken, dem internationalen Gütezeichen für Badestrände. Vier davon sind hier oder in unmittelbarer Nachbarschaft.
Nach den letzten Häuserzeilen Richtung Westen beginnt der Hafen, von dem Fährschiffe nach Malta fahren, in dem Waren gelöscht oder Migrant:innen «abgefertigt» werden. Während ich von hier zum Hafen laufe, steigt ein Helikopter der Marine hoch. Er sucht auf dem Wasser Flüchtlingsboote. In der Bar Scordapene, was übersetzt etwa «vergiss den Kummer» heisst, treffen sich die Fischer. Es ist ein schlichtes Lokal, an dem vorbeigeht, wer am Strand entlang zum Hafen läuft. Die Männer trinken Bier, spielen Karten, einer sitzt auf einem weissen Stuhl vor der Bar und schaut aufs Meer. In seiner Sichtweite hat die Gemeindeverwaltung im Jahr 2000 ein Denkmal hingestellt, das sie «allen Gefallenen des Meeres» gewidmet hat. Flüchtlinge waren damals wohl nicht gemeint. Das hat die Commune im Januar 2024 nachgeholt. Nun steht wenige Schritte weiter vor dem Sandwichladen Da Angels ein nach Oben verdünnter Stein, flankiert von Ruder und Propeller, dessen Inschrift in deutscher Übersetzung meint: «Zur Erinnerung an die Migranten, die 2014 im Meer von Pozzallo, einem Landeplatz brüderlicher Aufnahme, ums Leben kamen. Hier stehen die Schiffschraube und das Ruder, Symbole, die von denkwürdigen Katastrophen im Mittelmeer erzählen».
In der Bar sind sie dem Fremden gegenüber nicht gesprächig. «Es kommen im Herbst nur wenige», murmelt der Mann hinter dem Tresen auf die Frage, wie die Situation mit den Migrant:innen heute in Pozzallo sei. Andere schauen misstrauisch zu mir hin und schweigen. Vor zehn Jahren waren sie gegenüber den Reporter:innen noch mitteilsamer, die grosse Reportagen schrieben. Die Fischer erzählten damals von den Toten, die sich im Schiffsnetz verfangen hatten und die sie wieder ins Meer warfen, von Sterbenden, die sie sterben liessen oder von Flüchtlingsbooten, bei deren Anblick sie sofort abgedreht hätten. Heute sind sie verschlossener. Es ist seither zu viel passiert.
Weniger Bootsflüchtlinge in diesem Jahr
Es würde zu weit führen, alle Massnahmen aufzuzählen, die in den vergangenen Jahren in Italien und europaweit gegen die sogenannte Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer unternommen wurden. Sie verfolgen die immer gleichen Ziele: ankommende Flüchtlinge schneller abzuschieben oder in eine Abschiebungshaft zu überführen; ihnen nach und nach den humanitären Schutz zu nehmen; oder sie nicht ins Land zu lassen; oder so abschreckend wirken, dass sie die Reise gar nicht antreten; oder die gemeinnützig organisierten Seenotretter:innen zu kriminalisieren. Damit die Flüchtlinge unsichtbar bleiben, werden sie vermehrt von Schiffen der italienischen Behörden in internationalen Gewässern – je nach Sichtweise – gerettet oder abgefangen. Man will die NGO’s daran hindern, vor einer breiteren Öffentlichkeit ihre Rettungsaktionen durchzuführen. Auf jeden Fall sind unterdessen die «Migrationspakete», wie sie in der EU-Sprache heissen, so effizient, dass man, so paradox es klingen mag, in Pozzallo keinen einzigen Flüchtling sieht. Obwohl immer noch viele kommen. «Früher waren sie im Park, am Strand, auf der Strasse», sagt mein Hotelwirt. «Es war schon schwierig.» Es gab eine Zeit, da hätten die Gäste jeweils angerufen, ob es gefährlich sei, hierher zu kommen, erinnert er sich. Unterdessen sei das kaum mehr der Fall.
Tatsächlich ist die Zahl der Bootsflüchtlinge, die an Italiens Küsten anlegten, in diesem Jahr gesunken, nachdem sie in den letzten Jahren konstant gestiegen war. Laut dem italienischen Aussenministerium trafen 2023 rund 150’000 Menschen nach Seefahrten über das Mittelmeer in Italien ein. Dieses Jahr waren es halb so viele. Die Zahlen variieren je nach Quelle und sind nur Momentaufnahmen. Es versuchen nicht weniger Menschen nach Europa zu gelangen, sie suchen sich neue Wege, die Not wird verlagert und umgelenkt.
Die Verlagerung der Not geht so weit, dass Gesetze und letzte Tabus gebrochen werden. Die italienische Regierung hat 2023 in Albanien zwei Aufnahmezentren auf albanischem Boden errichtet. Dort sollen monatlich rund 3000 Asylanträge behandelt werden. Das Verfahren ist ein erster Schritt, die Asylverfahren in ein Nicht-EU-Land auszulagern. Die ersten Migranten kamen Mitte Oktober 2024 nach Albanien. Die Regierung verkaufte das Experiment als grosse Innovation, EU-Staaten applaudierten und die Medien hatten ein zweites innenpolitisches Thema, das mich in Sizilien konstant begleitete. Als sich wenige Tage später sechs Richter:innen in Rom lediglich an das EU-Recht hielten und die Abschiebung nach Albanien für illegal erklärten, ging das Geschrei der Rechtsnationalen gegen die von «links unterwanderten» Richter:innen erneut durch alle Decken. Sogar Elon Musk mischte sich aus Übersee in die Hetzjagd ein. «Das ist nicht zu akzeptieren», zischte er auf X. Silvia Alban, eine der römischen Richterinnen, steht seither unter Polizeischutz.
Einer von vier Hotspots auf Sizilien
Es ist schwierig zu entscheiden, ab wann sich die italienische und EU-Migrationspolitik von rechtsstaatlichen Normen entfernte. Vielleicht könnten die Jahre 2014/15 ein solcher Zeitpunkt sein. Damals krachten alle bisherigen Abkommen zusammen, insbesondere das Dublin-System. Als unkontrollierte Bewegungen von Asylsuchenden Richtung Europa kamen, wurden in Griechenland und Italien sogenannte Flüchtlings-Hotspots eingerichtet. Europaweit ging der erste auf Lampedusa in Betrieb, dann in Trapani und am 19. Januar 2016 auch in Pozzallo. Unterdessen gibt es allein in Italien wohl mehr als zehn Einrichtungen mit faktischer Hotspot-Funktion.
Der Hotspot von Pozzallo ist ein kantiger Betonklotz, gebaut am westlichen Ende des Hafens auf Felsbrocken, an denen die Wellen brechen. Heute ist die See besonders stark, die Gischt vernebelt die Sicht auf die Stadt, das Salz in der Luft kann man riechen und es kitzelt leicht in der Nase. Der Eingang zum Gebäude ist verborgen, von der Stadt abgewandt. Das massive Eisentor gleitet zurück und gibt den Blick frei auf Polizeiwagen, Polizisten mit Gewehren und auf den Mehrpersonenwagen mit verdunkelten Autoscheiben, der lautlos hinausrauscht. Mitarbeiter:innen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) werden eingelassen. Sie möchten nicht mit mir reden, ich muss draussen bleiben. Ich schaue von der Seite durch die Eisenstäbe, mache ein paar Fotos und sehe auf einer Betonbank an der Mauer dunkelhäutige, junge Männer sitzen, die so voller Zuversicht sind, dass sie lachen und winken. Auf der anderen Seite der Gitterstäbe – soll ich zurückwinken? – versuche ich ein Lächeln, das ihnen Mut machen soll.
Das Ziel der Hotspots ist in der «Europäischen Agenda für Migration» folgendermassen festgehalten: «… den Mitgliedstaaten, die überproportionalen Migrationsdruck ausgesetzt sind, zu helfen». Tatsächlich wurden sie eingeführt, um ankommende Flüchtlinge schneller abzuschieben oder in eine Abschiebungshaft zu überführen. Die Hotspots wurden ohne gesetzliche Regelung eingeführt.
Das italienische Innenministerium legte in der Road Map 2015 und einer «Standard Operation Procedures» die Funktion und Arbeitsweise der Hotspots fest. Es sind keine rechtlich wirksamen Dokumente. Für die Identifizierung einer Person sind unterschiedliche Behörden eingebunden, etwa die italienische Polizei, Europol, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), und allenfalls Leute des UNHCR. Soweit die Theorie. Was hinter den Gitterstäben real geschieht, ist schwer zu sagen. Der Verein Borderline-Europe – Menschenrechte ohne Grenzen hat schon mehrfach auf massive Verletzungen der Menschenrechte in den Hotspots hingewiesen. Zuletzt hat die Aussenstelle in Palermo im Juli 2024 einen Bericht veröffentlicht.
Auf dem Rückweg vom Hafen entdecke ich an der Mauer hinter der Bar Scordapene ein Graffiti. Es zeigt einen lachenden Matteo Salvini, der eine Tafel in den Händen hält. Darauf steht in arabischen und lateinischen Buchstaben: «Seid willkommen, liebe Brüder». Das Kunstwerk entlarvt mit ironischer Präzision die erbarmungslose Politik der rechtsnationalen Regierung Italiens und deren Helfer:innen in Europa. Salvini steht stellvertretend für diese Flüchtlingspolitik.
Auf dem Schiffsfriedhof am Strand liegen nur noch wenige Flüchtlingsboote. Viele wurden einfach im Meer versenkt. Der Mann sitzt immer noch auf dem weissen Stuhl vor der Bar und schaut aufs Meer. Ich gehe nochmals zum Friedhof hoch und sehe Betontafeln, auf denen gar nichts steht, weil man nichts über die verstorbenen Menschen erfahren hat. In Pozzallo ist es wieder ruhig. «Die Behörden haben das Problem ziemlich gut im Griff», sagt mein Hotelwirt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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