Gegen Armut und Hunger: Lula drückt G20 seinen Stempel auf
Die gemeinsame Abschlusserklärung der Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer trägt den Stempel von Gastgeber Luiz Inácio «Lula» da Silva: Gemeinsam unterzeichneten die Teilnehmer am Montag in Rio ein umfassendes Dokument, in welchem sie unter anderem auch eine wirksame Besteuerung von Superreichen vereinbaren. Die zusätzlichen Einnahmen könnten unter anderem für den Klimaschutz eingesetzt werden.
Das Gastgeberland Brasilien hatte eine Milliardärssteuer vorgeschlagen: Alle Personen mit einem Vermögen ab einer Milliarde US-Dollar sollten jährlich mindestens zwei Prozent an ihr Heimatland zahlen. Nach Schätzungen wären davon weltweit etwa 3000 Personen betroffen gewesen, die weltweit bis zu 250 Milliarden Dollar zusätzliche Steuereinnahmen pro Jahr gebracht hätten.
Der Vorschlag einer Milliardärssteuer ging aber einigen mächtigen G20-Staaten zu weit, berichtete der WDR. So einigte man sich beim Treffen in Rio schliesslich auf einen Kompromiss: eine wirksame Besteuerung von Superreichen – allerdings ohne genau zu definieren, wer eigentlich superreich ist, und ohne einen Steuersatz festzulegen. Wie viel zusätzliche Steuereinnahmen daraus resultieren, hängt wesentlich davon ab, ob und wie die einzelnen Staaten den Beschluss der G20 umsetzen. Laut dem Bericht des WDR ist die Vereinbarung, von Superreichen mehr Steuern zu verlangen, nicht verpflichtend, denn die Steuerhoheit bleibt bei den einzelnen Staaten.
Kampf gegen Hunger und Armut
Der Kampf gegen Armut und Hunger ist ein zentrales Thema in der politischen Agenda des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva. Lula entstammt selber einer kinderreichen Familie, in der Armut eine alltägliche Erfahrung war. Er konnte aber eine handwerkliche Ausbildung machen, fand einen Job in der Automobilindustrie und entpuppte sich bald einmal als geschickter Gewerkschaftsführer. Nach zwei gescheiterten Anläufen als Anwärter der sozialdemokratischen Linken auf die Präsidentschaft der Republik schaffte er dieses hohe Ziel schliesslich 2002 und konnte das Amt am Neujahrstag 2003 übernehmen.
In seinem ersten vierjährigen Mandat und auch nach seiner Wiederwahl musste er angesichts der vorherrschenden Kräfteverhältnisse im Kongress die Finanz- und Wirtschaftspolitik erfahrenen Experten gemässigt konservativer Herkunft überlassen. Er selber befasste sich – mit einer gehörigen Dosis Pragmatismus – vorrangig mit Sozialpolitik und dem dringlichen Problem der massiven Brandrodungen im Amazonasgebiet.
Sein Gespür für das, was politisch realisierbar erscheint, kam mit dem «Plan gegen den Hunger», der Millionen Familien aus der chronischen Armut half, wohl am besten zum Ausdruck. Lula kümmerte sich zudem um diskrete Förderung solidarischen Wirtschaftens, und nun in seinem dritten Mandat um Massnahmen mit dem Ziel einer sozial gerechteren Steuerpolitik. Nicht nur in Brasilien, sondern in den meisten Ländern des Erdteils ist der Reichtum haarsträubend einseitig verteilt – ein Übel, das den ganzen globalen Süden mit wenigen Ausnahmen prägt. Weltweit nimmt die Zahl der Milliardäre unaufhaltsam zu, während sich Hunderte Millionen Menschen mit ein paar Dollars pro Kopf und Tag abfinden müssen.
Ein neuer Machtfaktor: China
Der Blick auf das Geschehen in Lateinamerika in jüngster Zeit ergibt hinsichtlich Reformpolitik ein diffuses, wenn nicht gar verwirrendes Bild. In den Wahlkampagnen fischen die Kandidaten mit allerlei Versprechen nach Stimmen, doch in der politischen Praxis bleibt vieles auf dem Papier. Wenn es darum geht, Einkommen und Vermögen im Staat gerechter zu verteilen, kommen konkrete Schritte meistens nur im Schneckentempo voran. Oder sie werden durch rechtsgerichtete Kräfte im Parlament kurzerhand blockiert. Im konservativen Lager des Subkontinents hofft man mit der Rückkehr von Donald Trump auf Rückenwind für neoliberale oder ultralibertäre Wirtschaftspolitik.
Was auf der einen Seite neue Hoffnungen weckt, ist in Lateinamerika aber auch mit Zweifel und Sorgen gespickt: das Erscheinen neuer Machtfaktoren im Erdteil. Das resolute Auftreten Chinas als Wirtschafts- und Handelsmacht in der Region, im erweiterten Sinn auch das schon fast hektische Wachstum der von Peking angeführten Brics-Gruppe scheint Fronten und Grenzen aufzuweichen.
Der seit den Zeiten von Exdiktator Alberto Fujimori (1990-2000) verfolgte Plan zur Konsolidierung eines extrem konservativen Staatsapparats in Peru wird von seinen Nachfolgern Schritt für Schritt verwirklicht. Damit sollen in erster Linie linksgerichtete «Experimente» wie einst unter den Schlägen der terroristischen Aufstandsbewegung Sendero Luminoso oder – unter gänzlich verschiedenartigen Umständen – nach dem unerwarteten Wahlsieg des linken Reformers Pedro Castillo (der Mitte 2021 das Amt übernahm, aber Ende 2022 mit einem unblutigen Staatsstreich entmachtet wurde) «für immer» verhindert werden. Institutionen, die eigentlich minimale Bedingungen für eine Ausübung demokratischer Praktiken garantieren sollten, werden von der Rechten gekappt, Bestimmungen der gültigen Verfassung umgeschrieben und wachsame in- und ausländische NGOs mit Verwaltungsmassnahmen schikaniert.
Was nun allerdings nicht nahtlos in dieses Bild passt, ist die Eröffnung eines unter chinesischer Regie aus dem Boden, respektive aus dem Meer gestampften Tiefseehafens in Chancay unweit der peruanischen Hauptstadt Lima. Mit Hilfe ultramoderner Technologie sollen dort wichtige Stränge des Aussenhandels aus weiten Teilen Südamerikas in Richtung Fernost gebündelt werden – was aus lokaler Perspektive eigentlich als Ferner Westen zu bezeichnen ist. Die Transportwege verlaufen von der peruanischen Küste aus geradlinig in die Häfen Chinas und anderer aufstrebender Länder Asiens. Alimentiert werden sollen diese Routen dereinst durch Verkehrswege auf Strassen und Schienen quer durch den südamerikanischen Kontinent bis nach Chancay – Pekings «Belt and Road»-Initiative, auch Neue Seidenstrasse genannt.
Am meisten dürfte an diesem Megaprojekt neben den direkten Anrainerstaaten an der Pazifikküste der regionale Industrie- und Agrarriese Brasilien interessiert sein. Am wenigsten – wie die «Neue Zürcher Zeitung» an dieser Stelle nicht zu Unrecht vermutet – die USA.
Brasilien entfernt sich vom Westen
Brasilien erhebt seit Jahrzehnten den Anspruch, im Konzert der lateinamerikanischen Staaten eine gewisse Führungsposition in aussenpolitischen Fragen einzunehmen. Es begründet diese Haltung mit seiner ethnischen und kulturellen Nähe zum äquatorialen und südlichen Afrika. Dabei kam dem Problem der Sklaverei, die Brasilien im Gegensatz zum Rest des Subkontinents erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts formell abschaffen konnte, grosse Bedeutung zu. Diese Verspätung vermochte die diplomatischen Bande zwischen Brasilia und dem globalen Süden eher zu stärken als zu beeinträchtigen. Daraus ist in jüngster Zeit unter Lula da Silva, der gegenwärtig sein drittes verfassungsmässiges Mandat innehat, auch der Anspruch auf eine Rolle als Frieden stiftende Nation in Konflikten herausgewachsen, die den regionalen Rahmen sprengen. Eine Analyse des «IPG-Journals» zeichnet diese Bemühungen inmitten einer zusehends nach multipolaren Strukturen strebenden Welt nach.
Diese Aktionslinie des 220 Millionen Menschen zählenden Staats bekundet nicht nur den Überdruss mit der jahrzehntelangen Vorherrschaft der USA und ihrer Konzerne, die Lateinamerika mehr Ärger als langfristigen Nutzen gebracht haben. Dass überdies die Verhandlungen mit den Europäern im Rahmen des sogenannten Mercosur-Abkommens gleichzeitig nach rund drei Jahrzehnten ermüdender Diskussionen in zentralen Fragen zu scheitern droht, löst bei den Südländern nach einer Einschätzung desselben «Journals» Kopfschütteln und wachsende Ungeduld aus. Umso bemerkenswerter, dass der Autor, der zu solchen Einsichten kommt, an der University of Georgetown in Washington lateinamerikanische Geschichte lehrt. Auch ein Beobachter der Heinrich Böll Stiftung kommt zu einer ähnlichen Einschätzung der Pläne von Brasiliens Regierung.
Bolivien und Kuba neu in der Brics-Gruppe
Inzwischen hat die Brics-Gruppe (mit den fünf Gründerstaaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zu Beginn dieses Jahres vier weitere Nationen aufgenommen (Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate), und im Oktober – zusammen mit elf andern als «neu assoziierte Mitglieder» aus Afrika und Asien – kurzerhand auch Bolivien und Kuba willkommen geheissen, wie «amerika21» berichtet. Diese Nachricht wurde in den allermeisten westlichen Medien – wenn überhaupt – nur am Rande vermerkt. Für die Lateinamerikaner ist sie hingegen Grund zur Genugtuung: Bolivien gilt, ob zu Recht oder nicht, immer noch als eines der ärmsten Länder der Region und kann solche News eigentlich nur begrüssen… wäre da nicht vor einigen Jahren eine Fehde zwischen zwei Fraktionen der linksgerichteten, seit 2005 regierenden MAS-Bewegung (Movimiento al Socialismo) ausgebrochen. Eine Lösung dieses Bruderstreits scheint noch in weiter Ferne.
Noch willkommener dürfte die Einladung, dem Brics-Bündnis anzugehören, der Regierung und dem Volk von Kuba sein. Sie werden seit über 60 Jahren von den USA mit einer wirtschaftlichen und finanziellen Blockade und endlosen Sanktionen dafür bestraft, dass sie, keine hundert Meilen von Florida entfernt, einen anderen, nichtkapitalistischen Weg suchen und sich partout nicht davon abbringen lassen. Diese Massnahmen der Weltmacht haben den ausschliesslichen Zweck, die elf Millionen Kubanerinnen und Kubaner zu drangsalieren, bis sie in die Knie gehen oder sich gegen die Herrschaft der Kommunistischen Partei auf der Insel erheben. Das Aushungern der Bevölkerung und die Verweigerung von jeglicher Hilfe an Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern, kann nur als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstanden werden, das die UNO-Vollversammlung jedes Jahr seit Beginn dieses nicht erklärten Kriegs mit jeweils rund 180 Stimmen verurteilt.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger» und die «Frankfurter Rundschau».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Laut Oxfam würden 23 Milliarden Euro pro Jahr reichen, damit niemand mehr auf der Welt verhungern muss. Es ist eine Schande für die Länder nicht nur der Ersten Welt, zu denen zuallererst die USA und die westeuropäischen Länder gehören, dass sie mehr als 1000 Milliarden allein für Rüstung ausgeben, mehr als dreimal so viel wie alle anderen Staaten der Welt zusammen, aber keine 23 Milliarden für die Hungerbekämpfung. Schon Deutschland kann ohne Probleme 100 Milliarden für das Militär lockermachen. Dabei sterben zuerst Mädchen und Frauen an Hunger. Dies müsste eigentlich die Bekämpfung des Hungers zu einem Schwerpunkt unserer «feministischen» Außenpolitik machen. Doch davon merkt man nichts. Wer die illegale Migration bekämpfen will, muss zuerst den Hunger als Ursache dafür bekämpfen. Dafür braucht es Pflugscharen statt Schwerter. Die von Lula vorgeschlagene Reichensteuer würde ein Vielfaches von dem einbringen, was für die Hungerbekämpfung nötig ist.