Kommentar

kontertext: Kann ein Migrationspolitiker die Wahrheit sagen?

Anni Lanz © zvg

Anni Lanz /  Migration ist eine Tatsache. Flüchtlinge schikanieren hilft nicht. Das wissen alle. Trotzdem muss gelogen werden.

Über das Thema Migration die Wahrheit sagen – können wir das von einer Politikerin oder einem Politiker erwarten? Darüber haben wir kürzlich unter Freunden lebhaft diskutiert, weil im Infosperber ein Artikel erschienen war, der dem frischgebackenen Bundesrat Jans empfahl, es doch einmal mit der Wahrheit zu versuchen.

Würde ich, wenn ich Vorsteherin des Justizdepartements wäre, die Wahrheit sagen? Müssige Frage: Ich würde erst gar nicht gewählt. Oder vielleicht doch, als Prügelmädchen? Für diese Rolle hätte ich die erforderliche Ausdauer nicht. Ich würde als aufrichtige Bundesrätin schon nach der ersten Woche sagen: Das Amt für Justiz macht mir, trotz meiner Hingabe für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, überhaupt keine Freude. Im Gegenteil, ich finde dieses politische Klima mit den andauernden Anfeindungen unerträglich primitiv. Es verletzt nicht nur die Würde der mir anvertrauten Population, sondern auch meine eigene.

Migration ist eine Tatsache, heute und morgen

Und was ist die Wahrheit bezüglich Migration? Eigentlich kennen sie alle, die Hetzer, die Freunde und die Gleichgültigen. Migration ist eine Tatsache jenseits von Gut und Böse. Für die meisten MigrantInnen ist sie insofern ein Problem, als sie lieber zu Hause geblieben wären, aber aus verschiedenen Gründen längerfristig weggehen mussten. Sie ist auch insofern ein Problem, als die Flucht traumatisierend war, ebenso die Ankunft im fremden Land, wo MigrantInnen bar ihrer Persönlichkeitseigenschaften ein hürdenreiches Leben beginnen müssen. Der Klimawandel mit den schwindenden Lebensgrundlagen, die Kriege und Verteilkämpfe sowie die gefährlichen politischen Verhältnisse in den Herkunftsländern machen für die Zukunft eine Zunahme von Zwangsmigration wahrscheinlich. Ein Ende ist nicht in Sicht ohne grundlegende klimatische und gesellschaftliche Änderungen, die uns allen zwar bekannt sind, zumindest in Umrissen, die uns jedoch einiges abverlangen würden, sodass nur Weniges und Ungenügendes geschieht. 

Für Menschen in den Herkunftsländern, vor allem für die Angehörigen der Geflüchteten und Ausgewanderten,  hat die Migration die positive Seite, dass wenigstens ein kleiner Teil des vorhandenen Reichtums in der Welt in Form von stets fliessenden kleinen Remissen umverteilt wird. Das sind gemäss Schätzungen der Weltbank Beträge von jährlich 626 Milliarden US$, die den ärmeren Ländern zufliessen, und zwar direkt in die Familien, die sie für Bildung und Gesundheit benötigen.

Pragmatische Lösungen, nachhaltige Lösungen

Die Migration ist für die Aufnahmegesellschaft ein Problem, weil sie um ihre Vorrechte fürchtet und davor, Einschränkungen hinnehmen zu müssen. Aber gleichzeitig ist sie ein grosser Gewinn, weil unsere Gesellschaft zu wenig Nachwuchs hat und dringend junge, arbeitende Menschen braucht.  Die jungen Zugewanderten bieten ein grosses Potenzial an Arbeitskraft, ohne hier Kosten für ihre Erziehung verursacht zu haben.

Zur Wahrheit gehört auch, dass sich an beiden Rändern kriminelle Machenschaften entwickeln: Drogenhandel, Gewalttätigkeit auf Seiten der Zugewanderten; sexuelle und andere Ausbeutung auf Seiten der Aufnahmegesellschaft

Diese Wahrheit kennen alle, denn sie wurde schon unzählige Male wiederholt. Ebenso die pragmatischen Lösungsansätze wie berufliche, soziale und politische Integration der Eingewanderten. Zugegeben, diese pragmatischen Ansätze lösen nicht alle Konflikte auf einen Schlag. Sie bleiben trotz aller Bemühungen Flickwerk und eine Herausforderung. Grundsätzliche und nachhaltige Lösungen würden nur politische und wirtschaftliche Veränderungen bieten, welche die Auswanderungsgründe beseitigen: Ausreichendes Einkommen für alle! Ein altbekanntes Erfordernis.

Der Gewinn der Lügen

Statt  pragmatische oder grundsätzliche Lösungen anzustreben, rufen immer mehr Politiker und leider auch Politikerinnen: Wir machen die Grenzen dicht! Mehr effiziente Ausschaffungen, wohin auch immer. Dabei wissen wir alle: Das funktioniert nicht. Es funktioniert bloss, wenn wir uns von den Menschenrechten und von der Rechtsstaatlichkeit verabschieden. Und diese Entwicklung bahnt sich an: Rückschaffungen von Geflüchteten in diktatorische Länder, welche bedenkenlos Menschen eliminieren. Noch versucht die Justiz sich gegen diese Praktiken zu stemmen, mit der Folge, dass die Exekutiven die Judikativen einschränken und bekämpfen. Damit breiten sich in den demokratischen Ländern diktatorische Tendenzen auf Kosten der Menschenrechte aus. Die Rechte aller werden abgebaut, nicht nur die der Zugewanderten.

Wir wissen es ja alle seit langem. Weshalb die Lügen? Weil sich mit simplen Scheinlösungen Hass schüren, Empathie beseitigen und Wahlen sowie Macht gewinnen lässt. Auch in Europa, auch in der Schweiz. Wer sich den Lügen öffentlich entgegenstellt, verdient zwar die Anerkennung von DemokratInnen, verliert aber gleichzeitig an Macht, wird zum Prügelknaben. Ohne Sündenböcke könnten sich Machtbesessene kaum profilieren. Um Hass zu schüren, braucht man einen Prügelknaben. Und wenn er Bundesrat oder Staatssekretärin ist – umso besser. 

Was denn sollen die Geprügelten tun, wenn sie sich der Wahrheit verpflichtet fühlen? Sagen, dass sie sich entgegen ihrer Einsicht dem Mehrheitsbeschluss beugen? Dass es bessere Lösungen gäbe, die man im Auge behalten muss? Aber um einen aufrichtig um Wahrheit bemühten Würdenträger zu stützen, müssten ihm auch Medien beistehen und seine Glaubwürdigkeit anerkennen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

GegenStrom_2_ProDirectFinance_XX_heller

kontertext: Alle Beiträge

kontertext widerspricht Beiträgen anderer Medien aus politischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

2 Meinungen

  • am 10.11.2024 um 11:55 Uhr
    Permalink

    Alles sehr richtig. Mit meinen heutigen 68 Jahren bin ich aber in der Zwischenzeit sehr pessimistisch. Ein Teil der Menschheit wird nie freiwillig auf Macht, Einfluss und Geld verzichten. Dies ist das Hauptübel.

  • am 10.11.2024 um 15:54 Uhr
    Permalink

    Wenn die eigene «Wahrheit» das Mass aller Dinge und über jeden Zweifel erhaben ist, dann sind die Andersdenkende alles Lügner*+Innen.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...