Kommentar

Kann man auch liebevoll vergewaltigen?

Marco Diener © zvg

Marco Diener /  «Ärztin brutal vergewaltigt.» So titelte der «Blick». Die Floskel verschleiert, dass jede Vergewaltigung brutal ist.

Es muss in der 3. Klasse gewesen sein. Herr Stucki erklärte uns, was ein Ding-Wort ist, was ein Tun-Wort und was ein Wie-Wort. Wie-Wörter, erfuhren wir, beschreiben näher, wie ein Ding ist oder wie jemand etwas tut. «Das grosse Haus» war ein Beispiel, weil ja nicht jedes Haus gross ist. Oder «Hans geht gerne schwimmen», weil Fritz vielleicht nicht gerne schwimmen geht.

Daran muss ich immer wieder denken, wenn ich etwa im «Blick» lese: «Ärztin in Indien brutal vergewaltigt.» In der «Aargauer Zeitung»: «18-Jährige auf dem Nachhauseweg brutal vergewaltigt.» Oder wenn ich in der deutschen «Tagesschau» höre: «Eine junge Frau wird brutal vergewaltigt.»

Unbenannt
«Brutale Vergewaltigung»: Titel eines Dokumentarfilms des Südwestdeutschen Rundfunks.

Das Wort «brutal» soll unterstreichen, wie schlimm eine Vergewaltigung ist. Aber es leistet das Gegenteil. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wenn diese Vergewaltigungen brutal waren – was ist mit allen anderen Vergewaltigungen? Gehen die Täter sanft vor? Oder sogar liebevoll?

Mit dem Wort «brutal» geht eine beispiellose Verharmlosung einher. Genau wie bei den «unschuldigen Zivilisten», die in Kriegen umkommen. Als ob es «schuldige Zivilisten» gäbe.

Beim Wort «brutal» ist immer erhöhte Vorsicht geboten. Kürzlich berichtete Radio SRF über den «brutalen Krieg» im Sudan. Obwohl es in jedem Krieg brutal zu- und hergeht – egal ob im Sudan, in der Ukraine oder im Gaza-Streifen.

Das Problem ist vermutlich, dass viele Lehrer und Lehrerinnen – Herr Stucki tat das nicht! – ihren Schülern und Schülerinnen einbläuen, dass Adjektive und Adverbien einen Text lebendiger machen. Dabei wäre ein sparsamer Umgang angebracht.

Kürzlich berichtete die «Berner Zeitung» über junge Kriminelle aus Nordafrika: «Den Opfern wird die Goldkette gewaltsam vom Hals gerissen.» Als ob ein Räuber nicht zwingend Gewalt anwenden müsste, um seinem Opfer eine Kette vom Hals zu reissen.

Manchmal machen Adjektive und Adverbien einen Text auch unfreiwillig komisch. Ein paar Beispiele aus einem einzigen Artikel in der «Berner Zeitung» zur Abstimmung über den Ausbau des Autobahnnetzes:

  • Da war die Rede von «negativen Beeinträchtigungen». Wie wenn es auch positive Beeinträchtigungen gäbe.
  • Oder von «erhöhtem Mehrverkehr». Im Gegensatz zu gesenktem Mehrverkehr?
  • Es hiess auch, «mögliche Massnahmen» würden geprüft. Zum Glück, dachte ich, verschwenden die Verantwortlichen keine Zeit an unmögliche Massnahmen.
  • Und zu guter Letzt war im selben Artikel auch noch von der damals «zuständigen Verkehrsministerin» Doris Leuthard die Rede. Als ob es damals auch noch eine Verkehrsministerin gegeben hätte, die nicht zuständig gewesen wäre.

Auch die Macher der Nachrichtensendungen von Radio SRF sind nicht vor kuriosen Formulierungen gefeit. So ist dann schon mal von «positiven Fortschritten» die Rede oder von «Personen, die persönlich befragt wurden».


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Eine Meinung zu

  • am 8.01.2025 um 15:56 Uhr
    Permalink

    Recht haben Sie Herr Diener. Vor allem die Gratisportale sind furchtbar schlecht unterwegs. Bluewin unterbietet sogar noch 20 Minuten.

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