Massenüberwachung im Monatsabo
Damit die Polizei den Standort eines Handys ermitteln und verfolgen kann, braucht es in der Schweiz einen Gerichtsbeschluss. Doch auch für Privatpersonen ist es gar nicht so schwierig, an Millionen von Standortdaten von Smartphones zu kommen und eine Software zu programmieren, welche die Standorte auf einer Karte anzeigt. Dies zeigten erst vor wenigen Monaten Recherchen von netzpolitik.org, dem bayrischen Rundfunk oder SRF Data.
Nun ist klar: Das entsprechende Tool existiert bereits. Es wird kommerziell genutzt und heisst «Locate X». Im Monatsabo kostet es 14’000 US-Dollar. Angeboten wird es von der US-Firma Babel Street. Dies zeigen Ende Oktober veröffentlichte Recherchen aus den USA.
Ganz einfach Frauen verfolgen
Netzpolitik.org beschreibt die Software so: «Die Bedienung ist offenbar kinderleicht. Auf einer digitalen Karte, ähnlich wie Google Maps, lassen sich beliebige Orte auswählen, zum Beispiel Moscheen oder Abtreibungskliniken. Dann zeigt das Tool an, welche Handys auf dem ausgewählten Gelände geortet wurden – und auf Wunsch, wo sich ein ausgewähltes Gerät noch überall hinbewegt hat.»
Eine Datenschutzfirma aus den USA konnte das Tool gratis testen, obschon Babel Street angab, die Software nur Behörden anzubieten. Der Nutzer des Tools konnte ganz einfach Besuchende von Moscheen, Abtreibungskliniken oder Gerichten identifizieren und beispielsweise an ihren Wohnort verfolgen.
Daten aus dem Werbemarkt
Die dafür benötigten Standortdaten der Smartphones stammen ziemlich sicher von Apps und dem Online-Werbemarkt. Mittlerweile existieren zahlreiche Firmen, welche derartige Daten sammeln und im Internet anbieten. Auch Daten aus der Schweiz werden auf diesem Markt gehandelt.
Infosperber hat wiederholt über das Geschäft berichtet. Besonders anschaulich zeigte dies im vergangenen Sommer ein Team des Schweizer Fernsehens. Den Datenjournalisten gelang es, einen begrenzten Datensatz als Muster zu testen. So konnten sie neben beliebigen Privatpersonen auch Angestellte des Geheimdienstes oder von Atomkraftwerken identifizieren.
Medienkonzerne machen beim Datenhandel mit
Wie genau das Geschäft abläuft, zeigt das Team im kürzlich veröffentlichten vierteiligen Podcast «Die Cookie-Falle» des SRF-Formats «News Plus Hintergründe». Darin wird klar, dass Schweizer Medienkonzerne oder die SBB die Daten im grossen Stil sammeln. SRF Data fand zum Beispiel heraus, dass einige der grössten Schweizer Webseiten Daten an Händler schicken, welche analysieren, ob jemand an Depressionen leidet. Schweizer Firmen handeln mit diesen Daten. Schweizer Firmen wie etwa die Post nutzen diese Daten, um möglichst gezielt Werbung anzubieten.
Zudem geben im Podcast gar Vertreter der Werbeindustrie zu bedenken, dass der Nutzen für Werbetreibende überschätzt werde. Und Martin Radelfinger, ein Mitbegründer der personalisierten Werbung in der Schweiz, gibt zu, dass er das System dahinter selber nicht mehr durchschaut. Im Podcast sagt er: «Man hat überbordet mit dem System, und das wahllose Datensammeln ist nicht mehr zeitgemäss.»
Daten wertvoller für Behörden als für Werbetreibende?
All die Recherchen zusammen legen nun nahe: Mehr als den Werbetreibenden scheinen die Daten aus dem Werbemarkt Behörden und Geheimdiensten zu nützen. Dass sie damit arbeiten ist auch schon länger bekannt. Der US-Journalist Byron Tau zeigte bereits 2020, dass der US-Geheimdienst damit illegal die illegale Einwanderung bekämpft. Ausführlicher beschreibt Tau die Recherche in einem Anfang Jahr veröffentlichten Buch.
Gemäss Recherchen des Guardian nutzten australische Behörden «Locate X» bereits seit 2021. Ein Medienbericht erwähnte das Tool auch schon 2020. Dass eine israelische Firma eine ähnliche Software anbietet, wurde Anfang 2024 bekannt.
Auch Top-Politiker betroffen
Erst letzte Woche veröffentlichte die französische Tageszeitung «Le Monde» zudem Recherchen, die zeigen, dass die engsten Mitarbeitenden von Vladimir Putin, Emmanuel Macron, Joe Biden oder Donald Trump ihre Standortdaten laufend teilten. Sie hatten der Sport-App Strava erlaubt, diese zu nutzen. Damit liessen sich beispielsweise die engsten Mitarbeitenden von Joe Biden identifizieren, mitsamt ihren Familienmitgliedern und ihrem Wohnort. Oder die Unterkünfte der Politiker auf In- und Auslandsreisen.
Bundesrat will vorerst abwarten
Die Politik will sich noch nicht so recht mit der mittlerweile kommerzialisierten Massenüberwachung beschäftigen. In einem Bericht zu sogenannten Dark Patterns, mit welchen Webseiten und Apps die Zustimmung der Nutzenden erheischen, gibt sich der Bundesrat abwartend und stützt sich auf das Vorgehen der EU.
Das Geschäftsmodell könnte aber über die Medienpolitik zum Thema werden: Unlängst forderte nämlich SRF-Direktorin Nathalie Wappler an einer Podiumsdiskussion über das Verhältnis zwischen SRG und privaten Medien, dass alle genauer anschauen, wer letztendlich von Online-Werbung profitiert: «Wir müssen uns viel stärker mit den Geschäftsmodellen der Online-Werbung beschäftigen.»
So können Sie sich schützen
Jede und jeder kann sich dagegen wehren, dass die eigenen Daten für kommerzielle Überwachung benutzt werden. SRF hat hierzu eine verständliche Anleitung für Android-Handys und iPhones zusammengestellt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ja, die Politik will sich nicht so recht mit solchen Problemen befassen. Zu gross ist die Fraktion der Digitalbegeisterten, welche alles, was digital ist, bejubelt, bevor sie auch nur darüber nachgedacht hat, worum es überhaupt geht.
Und wer beispielsweise danach fragt, was mit all den persönlichen Schülerdaten geschieht, welche via Teams zu Microsoft gelangen, wird als Ewiggestriger hingestellt, welcher den Fortschritt behindert.
Dieser Datenmarkt ist ein Riesenproblem. Aber es gibt auch für das Handy Apps, die alle Datentracker in anderen Apps und Websites blockieren, z.B. eine App namens «Lockdown».