Kommentar

Jetzt will der «anatolische Schwabe» Ministerpräsident werden

Heribert Prantl © Sven Simon

Heribert Prantl /  Vor 30 Jahren kam Cem Özdemir in den Bundestag. Als erstes Kind von Gastarbeitern. Jetzt steht er vor einem weiteren Schritt.

Cem Özdemir war das erste Gastarbeiterkind im Deutschen Bundestag. Das war 1994, damals war er 28 Jahre alt. Jetzt will er Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden, Nachfolger seines grünen Parteikollegen Winfried Kretschmann. Eben erst hat der heutige Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft seine Kandidatur bekannt gegeben – kurz vor seinem Bundestagsjubiläum also: Vor ziemlich genau drei Jahrzehnten sass der «anatolische Schwabe», wie er sich selbst gern nennt, als frisch gebackener Abgeordneter in der Eröffnungssitzung der 13. Wahlperiode.

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Cem Özdemir 1994 – dem Jahr seiner Wahl in den Deutschen Bundestag.

Es war die einzige Sitzung in dieser Legislaturperiode, die im Reichstagsgebäude in Berlin stattfand. Der Bundestag tagte ansonsten noch in Bonn. Alterspräsident dieser Eröffnungssitzung war der trotzige Schriftsteller und PDS-Abgeordnete Stefan Heym. Helmut Kohl wurde ein paar Tage später ein letztes Mal als Bundeskanzler wiedergewählt. Es war nicht nur deswegen ein denkwürdiger Tag.

Der Lehrer brach in Gelächter aus

Es war ein denkwürdiger, ein historischer Tag deswegen, weil mit ihm ein neuer Abschnitt in der deutschen Migrations- und Integrationsgeschichte begann. In seiner Partei wirft man Özdemir bisweilen vor, keine Botschaft zu haben. Aber er selbst ist eine Art Botschaft – eine Botschaft an Millionen Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund. Sie lautet: Wir gehören dazu, wir mischen mit, auch ganz oben. Özdemir wurde innenpolitischer Sprecher seiner Partei. 

Cem Özdemir wurde 1965 im schwäbischen Bad Urach als Sohn türkischer Gastarbeiter geboren. Sein Vater Abdullah stammte aus einem anatolischen Dorf in der Nähe von Tokat. Er arbeitete in Deutschland in einer Feuerlöscher-Fabrik. Seine Mutter kam aus Istanbul, sie betrieb eine Änderungsschneiderei, zuvor hatte sie in einer Papierfabrik gearbeitet. Als der Lehrer seinerzeit in der Schule fragte, wer denn ins Gymnasium wolle, und Cem den Finger hob, brach der Pädagoge in Gelächter aus. So war das noch vor ein paar Jahrzehnten in Deutschland.

Blumen, ein Moped, ein Fahrrad

Es war noch nicht so lang her, dass der einmillionste Einwanderer, Gastarbeiter genannt, in die Bundesrepublik gekommen war. Das war 1964. Der Mann hiess Armando Rodrigues de Sá und war aus Portugal. Er bekam zur Begrüssung auf dem Bahnhof von Köln-Deutz einen Strauss Nelken und ein Moped geschenkt, Marke Zündapp. Im Haus der Geschichte in Bonn hat das Foto von seiner Begrüssung auf dem Bahnhof Köln-Deutz seinen festen Platz.

Vielleicht hängt eines Tages ein Foto von Cem Özdemir daneben, wie er 1994 mit einem Blumenstrauss und einem Fahrrad als Geschenk im Deutschen Bundestag begrüsst wird. Und vielleicht, wenn es so läuft, wie es sich Özdemir und die Grünen erträumen, hängt dann da noch ein zweites Foto von ihm: von seiner Vereidigung als Ministerpräsident.


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Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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3 Meinungen

  • am 6.11.2024 um 11:46 Uhr
    Permalink

    Ich wünsche Cem Özdemir viel Erfolg!

  • am 6.11.2024 um 15:57 Uhr
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    Özdemir war sicher zu Beginn seiner Karriere ein Hoffnungsträger und charismatisches Aushängeschild für die GRÜNEN, das ihnen aus Stimmen bringen konnte. Mittlerweile ist Özdemir genau so fad, gleichgeschaltet und von unserer satten deutschen parlamentarischen Demokratie korrumpiert wie der Rest seiner Mitstreiter. Warum nun ausgerechnet seine Herkunft – die keinen humanistisch gebildeten Menschen, der sich von Vorurteilen fernhält, auch nur ansatzweise interessiert – eine Botschaft sein soll, erschließt sich mir nicht. Herr Prantl meint es natürlich gut, kultiviert aber unbeabsichtigt mit dieser starren Sichtweise wieder nur Vorurteile. Wir Wähler haben nichts davon, dass Özdemir, Ferda Ataman, Sevim Dağdelen, Amira Mohamed Ali u.a. migrantische Wurzeln haben. Wir haben etwas davon, wenn gute Politik gemacht wird. Das ist der einzige Maßstab, nicht die Herkunft.

  • am 6.11.2024 um 19:13 Uhr
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    Diese Prantl-Kommentare aus der Süddeutschen Zeitung sind schwach. Özdemir ist Mitglied des deutschen NATO-Vereins Atlantikbrücke. Um 2000 stolperte er über Vorzugskredite von einem Rüstungslobbyisten und tauchte in den USA bei einem Think Tank unter (Miles und Moritz Affäre). Nach ein paar Jahren wurde er über das Europaparlament wieder zurück in die deutsche Politik gespielt und gezielt aufgebaut. Der Plagiats-Freiherr zu Guttenberg war ein ganz ähnlicher Fall. In der Süddeutschen wird man all das eher nicht erfahren, denn die gehört denselben Zirkeln an…

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