Transgender Teenager

An den Umfragen nahmen Eltern von Kindern teil, die ihr Geschlecht ändern wollten. © Depositphotos

Zensurvorwürfe in der Genderforschung

Martina Frei /  Eine Studie zu plötzlicher Geschlechtsidentitätsstörung löst einen Sturm der Entrüstung aus – und wird vom Verlag zurückgezogen.

«Im Alter von vierzehn Jahren beschloss meine Tochter spontan, dass sie eigentlich ein Mann ist. […] Ihre Persönlichkeit veränderte sich fast über Nacht, und sie wurde von einem herzigen, liebevollen Mädchen zu einem unflätigen, hasserfüllten, ‹pansexuellen› Mann.»

So beginnt der Bericht einer Mutter auf der Website «Parents of ROGD Kids». «Meine einst wunderschöne Tochter ist jetzt neunzehn Jahre alt, obdachlos, bärtig, lebt in extremer Armut, ist sterilisiert, erhält keine psychische Betreuung, ist extrem psychisch krank und plant eine radiale Unterarm-Phalloplastik (ein chirurgischer Eingriff, bei dem ein Teil ihres Arms entfernt wird, um einen künstlichen Penis zu konstruieren).» 

Für diese traurige und wütende Mutter steht fest: Es gibt eine Form der Geschlechtsidentitäts-Störung, die rasch ausbricht. Auf Englisch heisst dieses Phänomen «Rapid onset gender dysphoria», abgekürzt ROGD.

Eine kleine Umfrage mit grosser Wirkung

Die US-Ärztin und Wissenschaftlerin Lisa Littman war eine der Ersten, die ROGD untersuchte. Sie führte eine kleine Internet-Umfrage unter Eltern durch. Umfragen unter Eltern sind in der Medizin nichts Ungewöhnliches. In der Fachzeitschrift «Plos One» veröffentlichte Littman 2018 die Ergebnisse. Demnach schienen Konflikte mit den Eltern sowie Nachahmungseffekte — auch über «Social Media» und Internet – bei ROGD eine wichtige Rolle zu spielen. 

Littman stellte die Hypothese auf, dass soziale Einflüsse wie der Freundeskreis oder Social Media entscheidend dazu beitragen könnten, dass manche Heranwachsende plötzlich ihr Geschlecht ändern möchten. Auf die Schwächen ihrer nicht-repräsentativen Studie wies sie selbst hin und befürwortete weitere Forschung in dieser Richtung.

Würde sich ihre Hypothese bestätigen, dann wäre bei manchen Heranwachsenden, die ihr biologisches Geschlecht ablehnen, «soziale Ansteckung», etwa bei Freundinnen oder über Social Media, die Ursache. Folglich bestünde die Behandlung bei ROGD nicht darin, dem plötzlich auftretenden Wunsch nach Geschlechtsangleichung nachzugeben, sondern die zugrunde liegenden Probleme anzugehen. 

Littmans Artikel führte zu heftigen Protesten der Transgender-Gemeinschaft. Ihre Studie schüre Vorurteile, sie gefährde die Rechte und die Akzeptanz von Transpersonen, lauteten die Vorwürfe. Ob es ROGD wirklich gibt, wird von Transgender-Aktivist:innen bezweifelt.

Auch die Zeitschrift «Plos One» geriet in die Schusslinie. Leitende Mitglieder des Redaktionsteams, zwei akademische Redaktoren, ein Statistikgutachter sowie ein externer Gutachter nahmen sich der Sache an. Littman musste den Artikel schliesslich ändern. Mit der Re-Publikation veröffentlichte «Plos One» einen begleitenden Kommentar, der zwischen den Zeilen davor warnte, dass Littmans Beitrag zur «Transphobie» beitragen könnte. Damit war die Geschichte aber noch nicht zu Ende.

Elternvereinigung stemmt sich gegen Trans-Behandlungen

Denn 2023 veröffentlichte der Psychologe Michael Bailey von der Northwestern University zusammen mit einer Mutter die Ergebnisse einer weiteren Umfrage zu ROGD. Die Frau gibt sich öffentlich nicht zu erkennen und benützt das Pseudonym «Suzanna Diaz».

Diaz gehört zu den «Parents of ROGD Kids», eine Anlaufstelle für Eltern, deren Kinder scheinbar von heute auf morgen ihr Geschlecht ändern wollen. Diese Eltern sind überzeugt, dass «kein Kind im falschen Körper geboren» sei und dass mit Kindern, die sich «trans» fühlen, medizinisch herumexperimentiert werde. Kulturelle Einflüsse würden die Kinder in ihrer Geschlechtszugehörigkeit so verunsichern, dass sie sich ein anderes Geschlecht wünschten. Die «Parents of ROGD Kids»  stemmen sich dagegen. Auf ihrer Website konnten Interessierte einen Fragebogen ausfüllen.

Wenig überraschend kam dabei heraus, was die «Parents of ROGD Kids» vermuteten: Die meisten Trans-Teenager und jungen Erwachsenen kannten in ihrem Umfeld jemanden, der sich etwa zeitgleich wie sie als transgender definierte.

Die Befragten gaben mehrheitlich an, dass ihre Kinder in den Jahren zuvor psychische Probleme gehabt hätten – ein Befund, den inzwischen auch deutsche Wissenschaftler anhand von Krankenkassendaten bestätigt haben (Infosperber berichtete). Beunruhigend war, dass ausgerechnet die Heranwachsenden mit vorbestehenden psychischen Problemen öfter Behandlungen erhielten, um ihr Geschlecht zu ändern. 

Umfrage löst einen Sturm aus

Bailey und Diaz veröffentlichten die Ergebnisse dieser Umfrage. Ihre Studie, in die Antworten von 1655 Personen einflossen, schien die Hypothese, dass es ROGD gibt, ebenfalls zu stützen.

Laut eigenem Bekunden hatte sich Bailey vorab bei der Ethik-Kommission seiner Universität erkundigt, ob er eine Genehmigung benötige. Nein, sei ihm beschieden worden. So stellt es Bailey in seinem Artikel im «Substack»-Blog «Sensible Medicine» dar. Der Chefredaktor der «Archives of Sexual Behaviour», wo Bailey und Diaz ihr Manuskript einreichten, schloss sich dieser Meinung an. Im März 2023 wurde die Studie in den «Archives of Sexual Behaviour» online veröffentlicht. 

Auch dies eine kleine, nicht repräsentative Studie, die nichts beweist und wie es sie zu Abertausenden gibt. Was nach der Veröffentlichung folgte, war jedoch aussergewöhnlich: Ein Sturm brach los.

«Chefredaktor ablösen»

In einem offenen Brief übten 100 Personen, darunter bekannte Trans-Aktivist:innen, heftige Kritik: «Wir sind der Meinung, dass der Artikel ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Forschungsethik und der intellektuellen Integrität aufwirft.» Es fehle die Genehmigung der Ethik-Kommission, lautete einer der Vorwürfe. Die Studie basiere bloss auf einer Umfrage unter Laien, lautete ein anderer.

Der Brief forderte die Absetzung des Chefredaktors der «Archives of Sexual Behaviour», Kenneth Zucker. Unter der Führung dieses Psychologen habe die Zeitschrift «in den letzten Jahren routinemässig Artikel zu LGBTQ+-Themen veröffentlicht, die unserer Ansicht nach nicht den höchsten Standards der intellektuellen Integrität und der Veröffentlichungsethik entsprachen und Bedenken hinsichtlich redaktioneller Voreingenommenheit aufkommen liessen. Infolgedessen haben wir das Vertrauen in den Herausgeber der Zeitschrift, Dr. Kenneth Zucker, verloren.» 

Zucker versuche, Jugendliche davon abzuhalten, «trans» aufzuwachsen, er habe einen Interessenkonflikt und kollaboriere mit Interessengruppen, die gegen den Zugang zu einer gender-spezifischer Behandlung kämpften, warfen ihm seine Gegner:innen vor. Am Schluss ihres Briefs drohten sie, die Zeitschrift so lange zu boykottieren, bis der Herausgeber Zucker ersetzt habe, und forderten ihre Kollegen auf, dasselbe zu tun.

Der Autor spricht von Zensur

In einem Gegenbrief sprachen sich angeblich 1000 Personen, darunter Lisa Littman, für Zucker aus. Bailey fand ausserdem 19 andere Studien basierend auf Umfragen, die von «Springer Nature» veröffentlicht wurden, ohne dass eine Genehmigung seitens einer Ethik-Kommission vorlag.

Trotzdem zog der Verlag «Springer Nature» den Artikel von Diaz und Bailey im Juni 2023 zurück. Zucker durfte bleiben. 

Bailey spricht von Zensur. Er glaube, «dass der Artikel zurückgezogen wurde, weil er die Existenz von ROGD mit Daten und Argumenten unterstützte, und das hat viele Aktivisten auf die Palme gebracht», schreibt er im Blog «Sensible Medicine». «Stellen Sie sich hypothetisch vor, unsere Forschung hätte starke Belege gefunden, dass es ROGD nicht gibt. Nicht einen Moment lang würde ich vermuten, dass er dann von den gleichen Leuten angegriffen worden wäre, oder dass ‹Springer Nature› ihn zurückgezogen hätte.» 

Inzwischen wurde Diaz’ und Baileys’ Studie im «Journal of Open Inquiry in the Behavioral Sciences», einer anderen Fachzeitschrift, veröffentlicht.

Enttäuscht von den meisten Kollegen

Er habe in zweierlei Hinsicht Glück gehabt, so Bailey. «Erstens habe ich eine feste Anstellung, bin dickhäutig und verärgert über die gegenwärtigen Trends in der akademischen Welt weg von der akademischen Freiheit und hin zur Identitätspolitik. Zweitens gibt es eine grosse Gruppe von Eltern, Klinikern, Forschern und öffentlichen Intellektuellen, die über ROGD besorgt sind. Auch sie waren über die Zensur des Artikels empört und haben dazu beigetragen, sie zu bekämpfen.»

In den fünf Monaten seiner Veröffentlichung sei der Artikel bei «Springer Nature» 146’000-mal angeklickt worden – «weit öfter als jeder andere Artikel, den ich veröffentlicht habe, und ich vermute mehr als jeder andere Artikel, den die ‹Archives of Sexual Behaviour› in Jahren publiziert haben», so der Psychologe. Eine der «enttäuschendsten Lektionen» in seiner langen Karriere sei «das Versagen der meisten Wissenschaftler, die akademische Freiheit hochzuhalten». Dies werde immer schlimmer. Er werde jedenfalls weiterhin versuchen, Forschungsarbeiten zu liefern, «die es wert sind, unterdrückt zu werden».

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➞ Lesen Sie demnächst Teil 2: Zensur in der Wissenschaft nimmt zu. Wissenschaftler verpassen sich oft selbst einen Maulkorb.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

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Gleiche Rechte für Frauen und Männer

Gleichstellung und Gleichberechtigung: Angleichung der Geschlechter – nicht nur in Politik und Wirtschaft.

Bildschirmfoto 2022-10-28 um 12.25.44

Wissenschaft

Transparent, reproduzierbar und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sollte sie sein.

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3 Meinungen

  • am 23.10.2024 um 10:44 Uhr
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    Wieder eine klassische Schlacht der institutionalisierten und medial dauerpräsenten Opferkultur contra Meinungsfreiheit. Im Kern geht es um den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Dieser rangiert in der geltenden Rechtsauffassung weit vor Lobbyinteressen und scheinbarer Selbstbestimmung. Gerade in den USA ist der Jugenschutz was Alkohol, Drogen und pornographische Inhalte betrifft, vom Gesetz her äußerst restriktiv. Nun sollen ausgerechnet das Einnehmen von Hormonen und Verstümmelungen auf eine bloße Willensäußerung Minderjähriger hin, deren Gehirn in der Pubertät enormen Verwerfungen und Belastungen unterliegt und die bis zu deren Abschluss als unreif bezeichnet werden müssen, in Ordnung sein? Natürlich spielt die «Peer Group» eine dominante Rolle im geschlechtlichen und sexuellen Selbstverständnis von Teenagern. Selbstverständlich kommt es auch hier zu Kurzschlusshandlungen und der Entwicklung von psychischen Auffälligkeiten. Nichts anderes will Littmann erforschen.

  • am 23.10.2024 um 11:31 Uhr
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    Ruedi Strahm, a. NR / SP schrieb in einem ähnlichen Zusammenhang von «akademischem Tugendterror».

  • am 23.10.2024 um 11:43 Uhr
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    Werbung funktioniert: Alles was geschrieben und gesagt wird kann andere beeinflussen und beeinflusst andere! Wen dem nicht so wäre gäbe es kaum Werbung! Personen in der Pupertät sind besonders betroffen. Suizide werden (vielerorts) nicht mehr (konkret) publiziert, weil sie Nachfolger finden. Somit gehe ich davon aus, dass auf allen Gebieten echte und scheinbar Betroffene zu finden sind. Es gilt einen angepassten Umgang zu finden und möglichst wenig über solche seltene Extreme in Massenmedien zu berichten!

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