Kommentar
Was die Debatte um die AHV-Finanzen ausblendet
In seinem neuesten Buch schildert der britische Ökonom Paul Collier ein interessantes Phänomen: In allen westlichen Ländern sind die Finanzdepartemente (Treasuries) und die von ihnen bezahlten Ökonomen besessen von der Mission, die Staatsschulden und damit die Staatsausgaben tief zu halten. Sie sorgen dafür, dass die wirtschaftspolitische Diskussion vom Pegelstand der Staatskassen bestimmt wird, statt von den volkwirtschaftlichen Daten. So funktioniert es auch in der Schweiz.
Volkswirtschaftlich gesehen, haben wir einen riesigen chronischen Sparüberschuss. 453 Milliarden waren es allein in den letzten 10 Jahren. Per Saldo sind gut 80 Prozent davon auf die Nettoersparnisse der 2. Säule zurückzuführen. Weiter zeigen die Daten, dass die ärmsten 40 Prozent der Rentner pro Kopf deutlich weniger konsumieren als der schweizerische Durchschnitt und dass keine 20 Prozent ihres knappen Einkommens von der 2. Säule stammen. Statistisch gut belegt ist auch, dass die reichsten 6 Prozent in etwa gleich viel Einkommen deklarieren, wie die ärmsten 60 Prozent.
Bei dieser Ausgangslage wäre es naheliegend oder volkswirtschaftlich sogar zwingend, die AHV zu Lasten der 2. Säule deutlich auszubauen und die entsprechenden AHV-Mehrausgaben über die progressive direkte Bundessteuer zu finanzieren. Infosperber hat dies unter anderem hier vorgeschlagen. Auf diese Weise könnte wir nicht nur den für die Volkswirtschaft letztlich schädlichen Sparüberhang – leicht – vermindern, sondern auch die sehr einseitige Einkommensverteilung ein wenig korrigieren. Doch der oben beschriebene «Collier-Effekt» hat bewirkt, dass sich die politische Diskussion nicht an den volkswirtschaftlichen Grössen orientiert, sondern fast ausschliesslich an den Pegelständen der AHV-Kasse und der Staatsschulden.
Die Folgen sind schon fast grotesk: Zwar konnte die AHV gegen den erbitterten Widerstand der Kassenhüter um mickrige 8,3 Prozent erhöht werden. Im Gegenzug – gleichsam als Revanchefoul konnten diese jetzt – zumindest auf der Ebene des Bundesrates – durchsetzen, dass die Rentenerhöhung ausschliesslich mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuern finanziert wird, was den ohnehin schwachen Konsum zusätzlich bremst. Gleichzeitig soll – ein weiterer Nadelstich gegen Links – der Bundesbeitrag an die AHV von 20,2 auf 19,5 Prozent der AHV-Jahresausgaben gesenkt werden. Die Mehrwertsteuer soll zudem nur gerade um den Betrag erhöht werden, der nötig ist, damit die AHV-Reserven bis 2030 nicht unter das gesetzliche Minimum von 100 Prozent sinken.
Das Denken in Töpfen hat den Charme der Präzision: Wenn ich die Mehrwertsteuer um x Prozent erhöhe, bleibt die AHV-Reserve bis Ende 2030 knapp über 100 Prozent. Eine Senkung des Bundesbeitrags um 0,7 Prozentpunkte entlastet die Bundeskasse jährlich um 0,35 Milliarden. Volkswirtschaftliche Zusammenhänge hingegen sind schwieriger zu beziffern und nicht leicht zu verstehen, geschweige denn einem grossen Publikum zu vermitteln. Das erklärt, warum sich auch die Linke gerne auf das Niveau der «Korinthen-Kacker» und Topf-Pfleger begibt. Statt zu versuchen, die Diskussion auf die volkswirtschaftliche Ebene anzuheben, argumentiert sie etwa damit, dass die Töpfe voller seien als uns die Rechte glauben machen will. Dabei verweist sie neuerdings vor allem auf die Rechnungsfehler im Zusammenhang mit den prognostizierten AHV-Defiziten. Doch das ändert nichts daran, dass eine volkswirtschaftlich zielführende Altersvorsorge über kurz oder lang neue Finanzierungsquellen braucht.
Zu den volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die dabei beachtet werden müssen, gehört aber auch die zunehmende Überalterung. Die Rechte benutzt das Argument, um höhere Renten als nicht finanzierbar zu brandmarken. Die Linke schiebt das Thema gerne mit dem Hinweis zur Seite, dass die Einwanderung bisher den Überalterungs-Effekt kompensiert oder gar überkompensiert habe. Ohne Einwanderung wäre die AHV teurer – dafür aber die Mieten billiger. Wobei auch das nicht für alle gilt – vor allem für die nicht, die die höheren Mieten kassieren.
Klar, die Sache ist nicht einfach. Doch das darf kein Grund sein, die komplexen volkswirtschaftlichen Zusammenhänge auszublenden und stattdessen kleinkarierte Diskussionen darüber zu führen, wie voll die AHV-Reservekasse in x Jahren noch sein wird und wie heilig uns die vor 23 Jahren beschlossene Schuldenbremse noch immer sein soll.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Echt jetzt? Staatsschulden, Staatsquote, alles belanglos? Solange es mit monokausalem Blick für die Volkswirtschaft gut scheint?
Um diese Diskussion zu führen, müssten die Diskussionsteilnehmer mehr als einen Schritt denken können. Solche Menschen sind mittlerweile schwer zu finden und in der Politik kaum mehr. Beim Lesen dieses Artikels machten meine Synapsen die Verbindung zum Song «Amused to death» von Rogers Waters:
Amused itself to death
We watched the tragedy unfold
We did as we were told
We bought and sold
It was the greatest show on earth
But then it was over
We ohhed and aahed
We drove our racing cars
We ate our last few jars of caviar
And somewhere out there in the stars
A keen-eyed look-out
Spied a flickering light
Our last hurrah
Our last hurrah
And when they found our shadows
Grouped ‹round the TV sets
They ran down every lead
They repeated every test
They checked out all the data on their lists
And then, the alien anthropologists
Admitted they were still perplexed
But on eliminating every other reason
For our sad demise
They logged the only explanation left
This species has amused itself to death
Wenn die Rechtsbürgerlich wollen, gibt und gab es immer Geld : Armee, Autobahnen, Landwirtschaft. Hier, für das Volk,wollen sie einfach nicht.
Wiedermal die Besteuerung der Energie in die Diskussion werfen, und sich nicht dauernd an die Besteuerung der schwindenden Arbeit klammern.