Schulbusse gegen die Segregation
Im südschwedischen Gislaved, 130 Kilometer östlich von Göteborg, fahren die Schulbusse häufiger als anderswo. Seit acht Jahren teilt die Gemeinde die Kinder nach Sprachkenntnissen und nicht nach Wohnort ein. Damit schuf sie ein grosses Stück Bildungsgerechtigkeit. Dies zeigte unlängst die schwedische Tageszeitung «Dagens Nyheter» in einer grossen Reportage (Paywall).
Gislaved ist bekannt für Fabriken, zum Beispiel den gleichnamigen Autoreifenhersteller, der an Continental verkauft wurde. Die Betriebe sind auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. In den 60er- und 70er-Jahren rekrutierten Vertreter der Gemeinde gar in Griechenland oder Jugoslawien Arbeitskräfte für die Gummifabrik. Gemäss Agneta Åhsberg, Ausbildungschefin der Gemeinde, müssen die Schulen gut funktionieren, damit die Industriebetriebe genug Angestellte finden.
Åhsberg sagt: «Wir hatten gesehen, dass sich Kinder mit besseren Voraussetzungen in der Sörgårdsskolan angesammelt hatten. Diese liegt in einem Quartier mit Einfamilienhäusern, wo viele schwedische Familien mit hoher Bildung wohnen.»
Im Quartier mit den Wohnblöcken, das im Rahmen des Millionenprogramms in den 60er- und 70er-Jahren gebaut wurde, sprachen über 70 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache als Schwedisch. Es gab Klassen, in denen kein einziges Kind Schwedisch als Erstsprache hatte.
Schweden: Freie Schulwahl
In Schweden herrscht freie Schulwahl. Eltern dürfen die Schule ihrer Kinder frei auswählen. Doch dies hat vielerorts die Segregation dramatisch verschärft. Familien mit hohem Bildungsverständnis schickten ihre Kinder in die gleichen Schulen – nicht selten private. Während Kinder aus Familien mit bildungsfernem Hintergrund sich in anderen Schulen konzentrierten. Diese Segregation wird mitunter auch als einer der Gründe für die grassierende Bandenkriminalität und die schweren Gewalttaten Minderjähriger angeführt (Infosperber berichtete).
In Gislaved gibt es nur eine kleine Privatschule. Man ist sich einig, dass viele Eltern ihre Kinder wegen der Neuorganisation in eine Privatschule geschickt hätten, falls sie diese Möglichkeit gehabt hätten.
Ungerechtigkeit als Antrieb
Die Gemeinde versuchte viele Jahre lang, mit wirtschaftlichen und pädagogischen Massnahmen der frühen Trennung beizukommen. Zum Beispiel: Karriereberatung, Kompetenzentwicklungskurse, Zusatzlektionen in Schwedisch oder Aufgabenhilfe. Aber die Verantwortlichen mussten immer wieder einsehen, dass diese nicht ausreichten.
2015 musste eine Rektorin aus einer Schule mit hohem Anteil an schwedischsprechenden Kindern an einer anderen Schule aushelfen. Die Rektorin fand: Das geht so nicht, das ist ungerecht gegenüber den Kindern.
In der Folge organisierte die Gemeinde die Schulen neu nach Alter und schloss die Schule mit tiefem Schwedischanteil. Statt die Kinder aus einem Quartier bis Ende Primarstufe an derselben Schule zu unterrichten, trennte die Gemeinde Unter- und Mittelstufenklassen und unterrichtete diese von nun an in separaten Schulen. Die Kinder aus dem Wohnblockquartier wurden auf Schulen in Mittelklassequartieren verteilt.
Als die Pläne bekannt wurden, formierte sich sofort Widerstand. Es gab Familien, die sich bloss wegen der Nähe zu einer bestimmten Schule in einem bestimmten Quartier niedergelassen hatten. Doch die Gemeinde zog ihren Plan durch und erhielt an der Urne Unterstützung. Alle Parteien ausser den Schwedendemokraten waren für die Änderung.
Bessere Leistungen, mehr Kooperation
Und so stellten sich im Herbst 2017 erstmals Kinder vor ihre alte Schule, um auf den Schulbus zu warten, der sie in die neue Schule fahren würde. Der Wechsel war ein Erfolg. Schulpersonal und Eltern waren bald zufrieden. Und auch die Kinder zeigten mit der Zeit bessere Resultate in den nationalen Tests. 2017 bestanden noch 50 Prozent der DrittklässlerInnen alle Teilprüfungen in Schwedisch als Zweitsprache. Vier Jahre später war der Anteil bereits bei 74 Prozent und damit deutlich höher als der Landesschnitt. Dieser lag bei 63 Prozent.
Gegenüber «Dagens Nyheter» berichtet die Rektorin einer Schule, dass sie der Plan sehr motiviert habe, neue Ideen auszuprobieren. So schuf die Schule eine inklusive Kultur mit rotierender Sitzordnung beim Mittagessen oder achtete beim Unterricht darauf, alle Kinder mitzunehmen. Wenn nötig mit zwei Lehrpersonen pro Klasse. Heute sei es für die Kinder selbstverständlich, dass man einander helfe, sagt eine Lehrerin der schwedischen Zeitung.
Sogar der Gemeinderat der Schwedendemokraten, der einzigen Partei, die gegen die Pläne protestierte, ist heute zufrieden. Er dachte, die Leistungen seiner Kinder würden sinken, weil sie mit Kindern aus einem anderen Quartier die Schule besuchen mussten. Doch die Ängste waren unbegründet. «Man bewies uns das Gegenteil. Alle Probleme konnten gelöst werden, so dass die Kinder nicht zurückfielen.»
Die Schweiz kennt das Problem auch
Besonders in grösseren Orten kennt die Schweiz das Problem der Segregation – und damit der Ungerechtigkeit im Bildungssystem – auch. Vor wenigen Tagen zeigte eine Datenanalyse der Tamedia-Zeitungen (Paywall), dass Kinder mit gebildeten Eltern deutlich häufiger ebenfalls ein hohes Bildungsniveau erreichen. In einem Kommentar bezeichnete ein Redaktor das hiesige Bildungssystem als Chancenvernichter und prangerte die Untätigkeit der Politik an.
Dabei ist eigentlich Konsens, dass auch hier mindestens ähnliche Massnahmen gefragt wären wie in Schweden. Gemäss Katharina Maag, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, ist neben dem Elternhaus auch die Klassenzusammensetzung entscheidend für den Schulerfolg. Wenn viele Kinder in einer Klasse schlechte Deutschkenntnisse haben, dann leide die ganze Klasse darunter, sagte sie vor einem Jahr gegenüber SRF.
Maag weiter: «Bis zu einem Anteil von etwa 20, 30 Prozent an Fremdsprachigen zeigt sich keine Leistungseinschränkung». Als Massnahme gegen die Segregation steht deshalb auch in der Schweiz eine nuanciertere Klasseneinteilung im Vordergrund. So benutzt die Stadt Uster einen Algorithmus, um die Klasseneinteilung gerechter zu machen. Das in Zürich entwickelte Tool steht diesen Herbst erstmals allen interessierten Städten und Gemeinden zur Verfügung. Uster hat gemäss eigenen Angaben gute Erfahrungen gemacht und empfiehlt die Software weiter.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Viel besser wäre es, eine zu starke Segregation der Wohngebiete zu vermeiden…