Kommentar
Aktion Big Raushole
Die Nachricht über die Freilassung des verurteilten russischen Auftragsmörders Wadim Krassikow aus dem Gefängnis durch die Regierung Scholz hat bittere alte Bilder wachgerufen. Dazu gehört vor allem ein Bild aus dem Herbst 1977, das den von der RAF entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer zeigt, ein Pappdeckelschild um den Hals, auf dem in Grossbuchstaben steht: «Seit 31 Tagen Gefangener.»
Diese Entführung war Teil der von der RAF so genannten Aktion «Big Raushole», mit der diese vergeblich versuchte, die Entlassung von inhaftierten Terroristen aus dem Gefängnis in Stammheim zu erpressen. Am 5. September 1977 war Schleyer entführt worden. Drei Polizeibeamte kamen dabei ums Leben. Am 19. Oktober 1977 fand die Polizei die Leiche des ermordeten Schleyer im Kofferraum eines Autos.
Der Sohn Schleyers hatte noch versucht, die Regierung des SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt zur Rettung seines Vaters zu verpflichten. Das höchste Gericht lehnte das ab. Sein Urteil besagt, dass das Grundgesetz eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit der Bürger begründe.
Die Festlegung auf ein bestimmtes Mittel könne, so die Verfassungsrichter damals, schon deshalb nicht erfolgen, «weil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde». Helmut Schmidt hat später wiederholt bekannt, er fühle sich noch immer verstrickt in Schuld, habe aber richtig gehandelt. Und Bundespräsident Walter Scheel ging dieser Schuld in seiner Trauerrede bei der Beerdigung Schleyers nicht aus dem Weg: «Im Namen der deutschen Bürger bitte ich Sie, die Angehörigen von Hanns Martin Schleyer, um Vergebung.»
Ich war damals noch nicht Journalist, ich war noch Student der Rechtswissenschaften. Im strafrechtlichen Seminar haben wir erregt über den Erpressungsversuch der RAF diskutiert. Die Frage, die sich damals stellte, stellt sich noch heute: Wie hart muss der Staat Terroristen gegenüber bleiben, um nicht durch Nachgiebigkeit die Gewalt zu beflügeln? Was ist Staatsräson: stählerne Unerbittlichkeit? Taktieren? Flexible Unnachgiebigkeit?
Im Fall Schleyer hatte der Staat zu taktieren versucht, aber in Wahrheit nie daran gedacht, den Forderungen nachzukommen. Auch die Familie Schleyers hatte der Staat ebenso wie die Terroristen wochenlang im Glauben gelassen, es könnte ein Austausch in Betracht kommen. Der damalige Chef des Bundeskriminalamts, Horst Herold, nutzte die Zeit, um den Terroristen auf die Spur zu kommen und das Versteck Schleyers zu finden. Eine Panne hat das verhindert.
Verrucht unehrlich
Die Regierung des SPD-Kanzlers Olaf Scholz hat anders entschieden. Sie hat einen verurteilten Mörder (der einen Mörder ermordet hatte) freigelassen, um so eine von den Amerikanern gewünschte Gefangenenaustauschaktion zu ermöglichen. Sie hat der Erpressung des Täters hinter dem Täter, also von Präsident Putin, nachgegeben.
Recht war das nicht. Und Recht wird das nicht dadurch, dass die deutsche Politik eine Vorschrift der Strafprozessordnung nutzt, um damit der verruchten Aktion einen juristischen Anstrich zu geben: Die Freilassung des verurteilten Mörders Krassikow war nicht Recht, sondern die Simulation von Recht. Man tat so, als gäbe es einen Paragrafen, der diese Gefangenenbefreiung legitimiert. Es gibt ihn nicht.
Dieser Paragraf 456 a der Strafprozessordnung ist für ganz andere Konstellationen gedacht und gemacht. Er ist gemacht zur Entlastung des deutschen Strafvollzugs bei Straftätern, die aus Deutschland ausgewiesen wurden. Der Paragraf ist nicht dafür gemacht, einen verurteilten Auftragsmörder zu seinem Auftraggeber zurückzugeleiten, auf dass der ihn umarmen, belobigen und auszeichnen kann.
Damit hat die Regierung Scholz nicht nur dem Recht geschadet, sondern der Lauterkeit der gesamten Aktion. Die Aktion war vom Willen zur Nothilfe getragen; sie war getragen von der ehrlichen Absicht, 16 von Putin willkürlich eingekerkerte Menschen aus lebensgefährlicher Haft zu befreien. Man darf das kritisieren, man darf und muss sich über die rechtsmissbräuchliche Begründung der Entscheidung erregen – aber man darf das nicht in überheblicher Weise tun. Jede der denkbaren Entscheidungen barg und birgt Risiken. Man wünscht sich bei allen Zweifeln an der Entscheidung von Scholz, dass sie sich als richtig herausstellt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Krassikow hat einen mutmaßlichen tschetschenischen Terroristen, der im Verdacht stand, hunderte Menschenleben auf dem Gewissen zu haben und dessen Auslieferung die BRD trotzdem beharrlich verweigerte, erschossen. Es ist auch nicht das erste Mal, das auf höchster Ebene wertvolle Gefangene ausgetauscht werden; Putin saß hier freilich am längeren Hebel: das ist Realpolitik, kein Staat der Erde handelt anders. Man kann das verurteilen, aber so läuft es. Herr Prantl kann sich ja einmal die theoretische Frage stellen, ob ein us-amerikanischer oder israelischer Agent es mit der gleichen Tat überhaupt in ein deutsches Gefängnis geschafft hätte; wahrscheinlich hätte der Mainstream von der Tat nicht einmal etwas vernommen.
Der gute Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung übersieht den eigentlichen Skandal: Das Opfer des Tiergarten-Mordes war ein berüchtigter tschetschenischer Terrorist und Massenmörder, der in Deutschland Zuflucht suchte und von der deutschen Bundesregierung nicht an Russland ausgeliefert wurde. Nur deshalb gab es Besuch von einem FSB-Agenten. Kaum ein deutschsprachiges Medium hat diesen Kontext erläutert. Warum nicht?
Prantls Vergleich mit der RAF ist übrigens auch nicht zielführend, wurde diese doch durch V-Männer wie Peter Urbach staatlich unterwandert und mit Waffen versorgt…
«16 von Putin willkürlich eingekerkerte Menschen»- ob z.B. Whelan und Gershkovitz spioniert haben oder nicht, weiss weder Herr Prantl noch ich. Die Russen behaupten Ja, der «Westen» Nein, aber wer westlichen Regierungssprechern aufs Wort glaubt, ist selber schuld.
Immerhin ist bei diesem Menschenhandel auch der seit zwei Jahren in Polen willkürlich eingekerkerte spanische Journalist, gegen den nie eine Anklage erhoben wurde, freigekommen.
Möglich, dass man in Washington erkannt hat, dass der Westen Russland braucht, um China und den Iran in Schach zu halten und so wurde der «Big-Raushole»-Deal möglich. Berlin musste sich fügen und den verurteilten russischen Agenten nach Russland abschieben. Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine werden wohl mittlerweile realisiert haben, dass man Russland nicht von der Landkarte ausradieren kann und müssen sich mit dem grossen Nachbarn im Osten arrangieren. Bei den RAF-Terroristen ging es nicht um die globale Weltordnung, sondern ob sich der Staat von gewalttätigen Extremisten erpressen lassen kann. General de Gaulle meine: «Staaten haben keine Freunde, nur Interessen» Könnte sein, dass die europäischen Polit-Romantiker, die meinen eine Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn Russland besiegt ist, über die neuen realpolitischen Realitäten nicht glücklich sind und auf ein Wunder «Made in China» hoffen.
Gunther Kropp, Basel
«… noch Student der Rechtswissenschaften», «Recht war das nicht.», «Und Recht wird das nicht dadurch…», «… nicht nur dem Recht geschadet,» . Ein Journalist der Süddeutschen der über «Recht» schreibt, wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen.
Der Rest Herr Prantl, ist Politik, dass sollte er spätestens nach den Corona Jahren am besten selber wissen!
H.Prantl hat SEINE Meinung zu dem Austauch von Inhaftierten mit Rußland geäußert. Aber er hat am Schluß auch zuerkannt, daß : zit.»….Jede der denkbaren Entscheidungen barg und birgt Risiken…..» . Damit hat er den eigentlichen Kern doch erkannt – daß nämlich Politik und Gesetz auch in einer anerkannten Demokratie nicht immer deckungsgleich und manchmal sogar gegensätzlich sind. DAS führt mich zu der Grundsatzfrage «wer hat Vorrang?». Wir haben uns in Deutschland schon zu sehr daran gewöhnt, das Verfassungsgericht als letzte Instanz zu deklarieren – aber das birgt ein großes Risiko : politische Stagnation. Wir haben Glück, bisher, weil das Grundgesetz sehr vernünftig ist und bisher den Zeitläuften ensprochen hat. Das kann sich ändern – und erste Anzeichen gibt es. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es den Begriff der «pfadabhängigen Prozesse» um Stagnationen zu beschreiben – der dann nur durch «Sprünge» zu entkommen ist – und das sind formal Gesetzesbrüche.