Bundesgericht bremst 5G-Ausbau
Das Bundesgericht schützt Anwohnende von Mobilfunkantennen: Die Anwendung eines Korrekturfaktors ist nun baubewilligungspflichtig. Mit dieser Berechnungsmethode, welche via Software auch den Betrieb der Antenne steuert, durften die Anbieter punktuell mehr strahlen.
Mit dem Korrekturfaktor erlaubt der Bundesrat den Mobilfunkunternehmen per Verordnung seit 1. Januar 2022, dass adaptive Antennen den Grenzwert nur noch im sechsminütigen Durchschnitt einhalten müssen. Dadurch kann es auch in nahegelegenen Wohnungen kurzzeitig zu stärkerer Strahlenbelastung kommen.
Diese kann mehr als das Dreifache der deklarierten Feldstärke betragen. Das Bundesgericht hielt in einem Urteil vom 23. April fest, dass es dafür einer Baubewilligung bedarf. Nur so sei das rechtliche Gehör und der Rechtsschutz der betroffenen Personen in zumutbarer Weise gewährleistet.
Schweizweit hunderte Antennen in rechtswidrigem Betrieb
In mehreren Kantonen waren Verwaltungsgerichte zuvor zu ähnlichen Schlüssen gekommen. Das Urteil betrifft unzählige Rechtsfälle in der ganzen Schweiz und mehrere hundert Antennen, schweizweit womöglich über 1000. Alleine im Kanton Bern wurden 387 Anlagen mit Korrekturfaktor betrieben, ohne dass vorgängig ein Baugesuch eingereicht wurde (Infosperber berichtete).
Der Kanton Zürich nennt auf Infosperber-Anfrage auch erstmals Zahlen. Auf Zürcher Kantonsgebiet, ausgenommen die Städte Zürich und Winterthur, würden 400 von 1200 Anlagen mit Korrekturfaktor betrieben. 250 davon ohne entsprechendes Verfahren. Noch im September vergangenen Jahres hatte der Kanton keinen Überblick. Die Erhebung der aktuellen Zahlen habe die Baudirektion nun «als Reaktion auf das Bundesgerichtsurteil durchgeführt».
Was mit den rechtswidrig betriebenen Antennen passiert ist derzeit unklar. Klarer ist: Die Kantone sind unzufrieden mit dem Bundesrat. So betont der Kanton Zürich, dass die verfahrensfreie Aufschaltung des Korrekturfaktors «gemäss Empfehlung» des Bundesamts für Umwelt (Bafu) zugelassen wurde.
Kantone sind selber schuld
Doch gemäss Bafu sind einzig die Kantone für den Schlamassel zuständig. Das Urteil widerspreche weder der Schutzverordnung (NISV) noch deren Vollzugshilfe. «Da sich gemäss dem Bundesgericht die Bewilligungspflicht aus dem Raumplanungsgesetz ableitet und die NISV keine Aussagen dazu enthält, steht diese auch nicht im Widerspruch zum übergeordneten Gesetz. Es besteht somit aus Sicht des Bafu kein unmittelbarer Anpassungsbedarf an der NISV oder an der Vollzugshilfe.»
Die Kantone haben die anstehende Arbeit tatsächlich grösstenteils selber riskiert. Sie hatten ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das zum Schluss kam, dass die Erhöhung der Sendeleistung via Korrekturfaktor eigentlich bewilligungspflichtig wäre. Doch viele von ihnen schwenkten 2021 trotzdem auf Bundes-Kurs um, obschon es ihnen grundsätzlich möglich gewesen wäre, Baubewilligungsverfahren zu verlangen.
Die Kantone sind in der Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK) organisiert. BPUK-Generalsekretärin Mirjam Bütler schreibt Infosperber auf Anfrage, es seien alle Kantone vom Urteil betroffen, allerdings in unterschiedlichem Ausmass. Die BPUK überarbeite als Reaktion aufs Urteil derzeit die Mobilfunk-Empfehlungen. Zudem empfiehlt sie den betroffenen Gemeinden in der Zwischenzeit, die Betreiberfirmen aufzufordern, entweder «ein Baugesuch einzureichen oder den Korrekturfaktor abzuschalten.»
Bafu winkt ab
Das Bundesgericht wies mit seinem Urteil zwar eine Beschwerde der Swisscom ab, die in der Stadt Wil SG kein Baugesuch für die Aufschaltung des Korrekturfaktors einreichen wollte. Der Entscheid bremst aber auch den Bundesrat. Noch schwerer dürfte nämlich eine Aussage wiegen, welche das Gericht im Urteil macht. Sie betrifft den Kern des Konflikts zwischen Schutzinteressen und Wirtschaftsförderung beim Mobilfunkausbau und direkt die bundesrätliche Schutzverordnung.
Ohne ausführliche Begründung hielt das Gericht nämlich fest: «Die Anwendung des Korrekturfaktors bedeutet […] den Wegfall (bzw. die Abschwächung) einer bisher geltenden, vorsorglichen Emissionsbegrenzung». Genau für diese Vorsorge sieht die Schutzverordnung den tieferen Anlagegrenzwert vor. Fürs Gericht kommt die Anwendung des Korrekturfaktors zur Erhöhung der Sendeleistung also einer Überschreitung des Anlagegrenzwerts gleich. Diese kann gemäss Schutzverordnung allerdings nur im Ausnahmefall bewilligt werden.
Dies ist insbesondere für die geplante Vergabe höherer Frequenzen relevant (Infosperber berichtete). Denn vor diesem Hintergrund muss der Bundesrat und damit das Bafu die Schutzverordnung anpassen.
Doch das Bafu winkt auf Infosperber-Anfrage ab. Es lässt verlauten: «Die Bewilligung und Kontrolle einzelner Mobilfunkanlagen und die Neuvergabe von Mobilfunkkonzessionen stehen in keinem direkten Zusammenhang.» Mindestens indirekt widerspricht es damit aber dem Bundesgericht.
Alles dreht sich um den Anlagegrenzwert
Was alle Beteiligten wissen: Alles dreht sich um den Anlagegrenzwert. Er ist ein vergleichsweise strenger Grenzwert– zehnmal tiefer als der Immissionsgrenzwert. Eine Mobilfunkantenne muss ihn gemäss Gesetz insbesondere an Orten, wo sich Menschen dauerhaft aufhalten, einhalten.
Wichtig ist: Der Anlagegrenzwert hat keine gesundheitlich-wissenschaftliche Grundlage, sondern vorsorglichen Charakter. Damit dient er dem Schutz vor womöglich schädlichen oder lästigen Wirkungen unterhalb des höheren Immissionsgrenzwerts.
Wie dem erläuternden Bericht des damaligen Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft zu entnehmen ist, wurde der Anlagegrenzwert in der ersten NIS-Schutzverordnung von 1999 nämlich eingeführt, weil die höheren hauttemperaturgestützten Immissionsgrenzwerte «den umfassenderen Kriterien des Umweltschutzgesetzes nicht zu genügen vermögen».
Kaum Spielraum für Grenzwerterhöhung
Der höhere Immissionsgrenzwert beruht massgeblich auf der messbaren Hauterwärmung durch Strahlung. Sogenannte nichtthermische Wirkungen der Strahlung wie eine Veränderung der Hirnströme oder erhöhter Zellstress sind allerdings auch unter dieser Schwelle anerkannt. Zudem klagen immer mehr Menschen über Beschwerden, die sie elektromagnetischer Strahlung zuordnen.
Zusammenhänge zwischen biologischen Wirkungen und konkreten Gesundheitsrisiken konnten bisher allerdings wissenschaftlich nicht eindeutig belegt werden. Zellstress oder veränderte Hirnströme müssen nicht zwingend Gesundheitsrisiken bergen. Gleichzeitig kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Strahlung zum Beispiel das Risiko kindlicher Leukämie oder einer Alzheimererkrankung erhöht. Und die Zahl der Menschen, die sich selber als elektrosensibel bezeichnen, nimmt zu. So bleibt ein grosses Mass an Ungewissheit.
Das im Umweltschutzgesetz verankerte Vorsorgeprinzip sieht vor, dass die Emissionen von Mobilfunkanlagen so weit zu begrenzen sind, als dies technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich tragbar ist. Der Anlagegrenzwert darf zwar gemäss Gesetz nicht überschritten, könnte aber aus wirtschaftlichen Gründen angehoben werden.
Gemäss Umweltschutzgesetz müsste sich der Bundesrat dabei aber auch auf die Wissenschaft oder die Erfahrung stützen. Zudem wären auch die Wirkungen der Immissionen auf Personengruppen mit erhöhter Empfindlichkeit wie Kinder, Kranke, Betagte und Schwangere zu berücksichtigen.
Die Expertengruppe des Bundes sprach sich zuletzt aber wiederholt gegen einen höheren Vorsorgegrenzwert aus. Und auch das Parlament lehnte diesen zum wiederholten Mal ab.
Bund und Anbieter ignorierten Warnung
Zudem kam vor zwei Jahren eine Studie für den Bericht Nachhaltiges Mobilfunknetz zum Schluss, dass eine Erhöhung der Grenzwerte keine nennenswerten Auswirkungen auf die fürs Netz benötigte Anzahl Antennen hätte. Und gerade in ländlichen Gebieten könnten höhere Grenzwerte kontraproduktiv wirken und zu einer höheren Strahlenbelastung der Nutzenden durchs Endgerät führen.
Indem der Bundesrat mittels Korrekturfaktor eine punktuelle Überschreitung des Anlagegrenzwertes erlaubte, übernahm er eine Idee der Anbieter, die bereits 2018 auf dem Tisch lag. Auch eine vom Branchenverband Asut favorisierte Handlungsoption im wichtigen Bericht Mobilfunk und Strahlung von 2019 sah eine entsprechende Mittelwertberechnung vor.
Doch im Bericht wurde bereits damals gewarnt: Aufgrund fehlender Transparenz des Verfahrens sei mit vielen Anfragen aus der Bevölkerung zu rechnen. Zudem finde «eine gewisse Aufweichung der Vorsorge statt, resultierend in einer Erhöhung der Exposition der Anwohnenden von Antennen».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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