«Israel tötet alle Menschen in der Kampfzone als Terroristen»
Der moralische Zerfall der israelischen Streitkräfte
«Ein Soldat, der jahrzehntelang Zivilisten mit Gewalt kontrolliert, verliert zwangsläufig seinen ethischen Kompass. Das gilt auch für eine Gesellschaft, welche ihre Soldaten in einen solchen Einsatz schickt.
Die Schrecken des 7. Oktober haben diesen Prozess beschleunigt und intensiviert. Der Tod und die Zerstörung, die über den Gazastreifen gebracht wurden, werden die Zukunft von Palästinensern und Israelis über Generationen hinweg prägen. Es wird eine tiefe moralische Abrechnung geben müssen.»
Mit diesen Worten fasst Avner Gvaryahu, Direktor der israelischen NGO «Breaking the Silence» am 25. Mai in der New York Times die Entmenschlichung der Kämpfer der israelischen Verteidigungskräfte (IDF) zusammen. Ehemalige israelische Soldatinnen und Soldaten hatten «Breaking the Silence» im Jahr 2004 gegründet, weil sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Menschenrechtsverletzungen seitens der IDF bei Razzien und Angriffen gegen Palästinenserinnen und Palästinenser nicht mehr länger schweigen wollten.
Der aktuelle Krieg in Gaza hat diese Problematik noch weiter verschärft. Doch der «moralische Zerfall» der IDF begann bereits bei der Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens, sagt Gvaryahu. Seither habe Israel dem palästinensischen Volk mit konstanten Drohungen und Einschüchterung grundlegende Menschenrechte systematisch aberkannt. Dem palästinensischen Widerstand seien die israelischen Streitkräfte seither mit noch grösserer und willkürlicher Gewalt begegnet.
«Wer erschossen wird, muss ein Terrorist gewesen sein»
Im aktuellen besonders blutigen Gazakrieg gelte jede Person, die sich in einer Kampfzone befinde, als Terrorist. Dies sei schon 2014 der Fall gewesen. Gvaryahu erzählt die Geschichte von zwei unbewaffneten palästinensischen Frauen, die in einem Obstgarten spazieren gingen und auf ihren Handys telefonierten. Sie wurden verdächtigt, israelische Streitkräfte auszukundschaften – und wurden getötet, wie ein Soldat berichtet habe.
«Sie wurden erschossen – also müssen sie Terroristen gewesen sein», sagte der Soldat, dessen Identität zum Schutz seiner Sicherheit anonym bleiben muss. Bei dieser Definition von Menschen, die als «Kämpfer» angesehen werden, zeige sich der moralische Verfall am deutlichsten.
Im aktuellen Gazakrieg behandelt Israels Armee alle Personen, die sich in einer Kampfzone aufhalten, als Terroristen – auch Frauen und Kinder.
«Wir haben aufgehört, palästinensische Zivilisten als echte Menschen zu betrachten»
Wie die meisten Mitglieder von «Breaking the Silence» hatte auch Gvaryahu immer wieder Razzien in den besetzten Gebieten durchführen müssen. Er berichtet von einem Vorfall 2007 in der Nähe von Nablus in der Westbank.
«Es war mitten in der Nacht, und man sagte uns, dass das Haus ein guter Beobachtungspunkt sei. Als wir uns näherten, hörten wir nebenan eine ältere Frau, die vor Angst schrie. Wir schlugen das Fenster ihres Hauses ein und leuchteten mit einer Taschenlampe hinein. Sie war verängstigt und sprach unverständlich. Ihre Familie schaute von einem anderen Zimmer aus zu, zu ängstlich, um einzutreten und sie zu beruhigen. Diese Leute waren keine Verdächtigen. Sie wohnten einfach neben dem Haus, das wir brauchten.»
«Ich war entsetzt, aber ich habe mich bald an solche Szenen gewöhnt. Als Soldaten benutzten wir die Häuser der Menschen für unsere Zwecke. Wir benutzten die Sachen der Leute. Wir benutzten Menschen. Von Hausdurchsuchungen bis hin zu Kontrollpunkten, von Patrouillen bis hin zu Verhaftungen haben wir schliesslich aufgehört, palästinensische Zivilisten als echte lebende Menschen zu betrachten.»
Grausamkeit ist als Mittel zum Zweck erlaubt
Diese schleichende Entmenschlichung der Palästinenserinnen und Palästinenser gipfle heute im brutalen Krieg der IDF gegen die Hamas in Gaza, wobei eine grosse Zahl ziviler Opfer bewusst in Kauf genommen werde. Unter den über 37’000 Toten seien die Hälfte Frauen und Kinder.
«Die internationale Gemeinschaft warnt vor einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen und vor schweren Epidemien», erklärte Giora Eiland, Generalmajor im Ruhestand und ehemaliger Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrates, im November 2023. «Doch wir dürfen uns nicht davon abhalten lassen, so schwierig das auch sein mag», sagte er und fügte hinzu: «Es geht nicht um Grausamkeit um der Grausamkeit willen, denn wir unterstützen das Leiden der anderen Seite nicht als Ziel, sondern als Mittel.»
Besatzung und moralischer Bankrott
Für Avner Gvaryahu von «Breaking the Silence» ist klar, dass die lange Zeit der Besetzung des palästinensischen Territoriums die israelische Bevölkerung immer mehr abgestumpft und gegenüber dem Leid Anderer immun gemacht habe. «Wir denken vielleicht, dass wir unsere Grenzen und Prinzipien kennen; wir denken vielleicht, dass wir auf der Seite des Rechts stehen; wir denken vielleicht, dass wir die Kontrolle haben», meint Gvaryahu.
«Doch was einst undenkbar war, wird bald zur Norm. Die Unschuldigen, sagen wir, müssen geschützt werden. Aber wir haben zu lange als Besatzungsmacht gelebt; zu viele von uns sehen niemanden mehr als unschuldig an. Wir sehen überall und in jedem eine Bedrohung, eine Bedrohung, die unserer Meinung nach fast alles rechtfertigt.»
Dieser moralische Bankrott sei eine Tatsache, sagt Gvaryahu, der sich die israelische Bevölkerung, aber vor allem die Streitkräfte stellen müssten. Davon hänge die Zukunft der Israelis und Palästinensern in den nächsten Jahrzehnten ab.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Was bezweckt ein solch einseitig israelfeindlicher Kommentar?
Krieg wirkt verrohend auf den Menschen, das ist eine Binsenwahrheit. Das gilt für jeden Krieg, für jeweils beide Seiten.
Daniel Heierli stellt zum Artikel «Israel tötet alle Menschen in der Kampfzone als Terroristen» von Josef Estermann die Frage: «Was bezweckt ein solch einseitig israelfeindlicher Kommentar. Krieg wirkt verrohend auf den Menschen, das ist eine Binsenwahrheit. Das gilt für jeden Krieg, für jeweils beide Seiten.» Der Zweck dieses Artikels ist es sicher, dass Israel seine Politik gegenüber den Palästinensern ändert., sie als gleichwertige Menschen anerkennt.
Im Artikel von Josef Estermann wird ein Israeli zitiert, der Veteran Avner Gvaryahu von «Breaking the Silence». Er sagte: «Die Besatzungspolitik habe Israels Militär entmenschlicht».
Die Gruppe von israelischen Soldaten von Breaking the Silence haben schon vor einigen Jahren in der Helferei in Zürich die menschenverletzenden Operationen der israelischen Armee in der Westbank dokumentiert.
Wo sind all die Parolen der Kriegsbefürworter, oder
Einwände, dass auch die Notwehr Grenzen hat, und die Vertreibung der Bevölkerung eine etnische Säuberung sei, fiel allzuoft der Zensur der Kriegsbefürworter zum Opfer.
Ein «israelfeindlicher Kommentar»? Ein realistischer Kommentar von einem Israeli geschrieben!
Seien wir dankbar, dass es einige Israeli gibt, die selbstkritisch sind! Nach bald 80-jähriger Gräueltaten gegen die Palästinenser wird sich Israel mit seinen Werten auseinandersetzen müssen!
Dieser Bericht ist für mich ein Grund mehr, mit dem «Kriegen» aufzuhören.
Der Preis, den ALLE bezahlen, ist einfach viel zu hoch!