Lateinamerika: Blutspuren der Vergangenheit
Seit dem ruhmlosen Ende der Pinochet-Diktatur (1989) hat Chile Schritt für Schritt zu seiner demokratischen Tradition zurückgefunden, die für lateinamerikanische Verhältnisse bis zum Putsch von 1973 ordentlich funktionierte und nun eher selten für Aufregung sorgt. Allerdings mottet im mittleren Süden Chiles seit Jahrzehnten ein Konflikt zwischen der Staatsgewalt und dem indigenen Volk der Mapuche, der seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Damals förderte Santiago die Immigration von Siedlern aus den Alpenländern und gestand diesen das Eigentum über Grund und Boden zu, ohne auf die Rechte und Traditionen der Mapuche Rücksicht zu nehmen. Unter der Fuchtel des Diktators nahm dieser Verdrängungskampf besonders brutale Formen an, was zu einer stetigen Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens in der Region führte. Man wollte das besonders naturverbundene Volk per Dekret in die kapitalistische Revolution unter Pinochets Führung integrieren.
Chile: Drogenkartelle bedrohen den sozialen Frieden
Nun traf Ende April die Ermordung von drei Polizisten in der Region Biobío, Kernland der Indigenen, die Nation wie ein Blitzschlag. Der linksgerichtete Präsident Gabriel Boric, der seit gut zwei Jahren regiert, versprach zwar rasche Aufklärung der Gewalttat, aber die Täterschaft und ihre Motive bleiben bis anhin im Dunkeln, wie aus Recherchen von BBC Mundo hervorgeht. Es ist nicht das erste Mal, dass in Chile ein Attentat unter ähnlichen Vorzeichen verübt wurde, das in den lokalen Medien voreilig linksradikalen Kreisen zugeordnet wurde, sich später jedoch als Werk der extremen Rechten herausstellte. Insbesondere betroffen war dabei 1971 die gemässigt sozialistische Regierung von Salvador Allende.
Noch gilt der Andenstaat, wie die Deutsche Welle dokumentiert, neben Costa Rica, Uruguay und Argentinien als eine der relativ friedfertigen und sicheren Nationen des Subkontinents. Doch in der lokalen Bevölkerung nimmt die Befürchtung zu, dass der soziale Friede durch zunehmende Gewalt bedroht ist. Als Ursachen ortet man neben dem Mapuche-Konflikt allzu sorglose Einwanderungsnormen, die auch Drogenschmugglerbanden ausnutzen. Manche sehen deshalb gar gewisse Parallelen zu endemisch gewalttätigen Ländern wie Kolumbien und Mexiko, die von Mafias unterwandert sind. Immer häufigere Fälle von Entführungen und Erpressungsversuchen scheinen solche Tendenzen jetzt auch in Chile zu bestätigen.
Argentinien: Mileis rechte Regierung will Junta-Mörder rehabilitieren
In keinem Land Lateinamerikas sind Menschenrechtsdelikte so gründlich untersucht worden wie in Argentinien. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur (1983) unternahm die zivile Gesellschaft erste Schritte zur Aufklärung der Folterung und Ermordung von zehntausenden Menschen. Seit vier Jahrzehnten rollt eine Prozesswelle nach der anderen über den Staat. Zu Hunderten wurden die verantwortlichen Kommandanten des Militärs und der verschiedenen Polizei- und Geheimdienstinstanzen zu teilweise langen Haftstrafen verurteilt.
Die neue argentinische Regierung unter dem ultra-rechten Präsidenten Javier Milei will jetzt diese umfassenden Bemühungen um Gerechtigkeit mit einem Federstrich wegwischen. Alle diese Urteile, die von der Unabhängigkeit der argentinischen Justiz zeugen, sollen widerrufen werden. Massenmörder, die Regimegegner zu Tausenden verschwinden liessen oder lebendig aus Flugzeugen in den Rio de la Plata warfen, sollen als freie Bürger wieder herumlaufen dürfen. Milei will, wie die Süddeutsche Zeitung hervorhebt, auch den jahrzehntelangen Kampf von Müttern und Grossmüttern um Recht, Gerechtigkeit und Sühne ins Leere laufen lassen.
Gleichzeitig strebt der amtierende Staatschef eine Annäherung Argentiniens an die NATO an. Ziel dieser Pläne ist eine grundlegende Umorientierung der Aussenpolitik, die sich in den vergangenen Jahrzehnten unter den verschiedensten Regierungen durch eine weltoffene und friedliche Orientierung charakterisiert hatte. Aus naheliegenden Gründen befasst sich die russische Presseagentur rt ausführlich mit Mileis Absichten, die jedoch auf erheblichen Widerstand im Kongress stossen dürften.
Brasilien: BRICS-Bank hilft nach der Flutkatastrophe
Ganz andere Sorgen haben derzeit Behörden und Bevölkerung im benachbarten Brasilien. Die Überschwemmungen in Rio Grande do Sul, laut amerika21 die grössten in der Geschichte des Landes, stellen eine gewaltige Herausforderung an die linksgerichtete Regierung von Präsident Lula da Silva dar. Finanzielle Unterstützung kommt von der New Development Bank (NDB), die Brasilien eine Milliarde in harter Währung anbietet, um mit den Kosten und Schäden der Flutkatastrophe zurechtzukommen. Die multilaterale Entwicklungsbank gilt als finanzielles Herzstück der Gruppe der BRICS-Staaten, Bankpräsidentin ist Dilma Rousseff, ehemalige brasilianische Staatspräsidentin und enge Vertraute von Lula da Silva. Er wird den Beweis erbringen müssen, dass bei diesem Blitzangebot nicht nur freundschaftliche Bande im Spiel sind, und dass seine Regierung mit dem Milliardenpaket korrekt und verantwortungsvoll umgeht.
Während Javier Milei nach seiner Amtsübernahme vor einem halben Jahr ohne Zögern verkündete, dass Argentinien per sofort auf eine Mitgliedschaft im Verbund der BRICS-Staaten verzichte, bekundet die Linksregierung von Gustavo Petro lebhaftes Interesse an einem Beitritt Kolumbiens. Eines der Ziele ist es, die Dominanz des US-Dollars zu verringern. Zum Jahresanfang 2024 war der Staatenverbund mit dem Beitritt von Ägypten, Äthiopien, Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten auf neun erweitert worden.
Panama: Neuwahlen mit bitterem Beigeschmack
Eine seltene Gelegenheit bietet sich uns an dieser Stelle, die politische Entwicklung der jüngeren Zeit in Panama zu thematisieren. Anlass dazu geben die Neuwahlen im Bankenparadies, die nach den Eindrücken einer Mitarbeiterin der taz unter teils merkwürdigen Vorzeichen Anfang Mai über die Bühne gingen. Der Wahlkampf war geprägt von Skandalen und hinterliess einen bitteren Beigeschmack. Der ursprüngliche Präsidentschaftskandidat, Ex-Präsident Ricardo Martinelli, wurde wegen Geldwäsche zu mehr als zehn Jahren Haft verurteilt und sollte an die USA ausgeliefert werden. Doch Martinelli flüchtete im Februar in die nicaraguanische Botschaft und machte von dort aus per Videobotschaft Wahlkampf für seinen Schützling José Raúl Mulino. Dieser gewann wie erwartet die Wahl und wird Staatsoberhaupt in Panama. Andere seltsame Fälle und Zwischenfälle im Zusammenhang mit der Bergbaupolitik deuten darauf hin, dass in Panama unter formal demokratischer Regierung nicht alles rund läuft.
Eine kurze Zwischenbilanz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Peru ist in der lokalen Tageszeitung La República erschienen. Laut Angaben, die auf offiziellen Daten beruhen, haben Armut und Elend in diesem Andenstaat zugenommen. Offen bleibt dabei, wie Armut (pobreza) und Elend (pobreza absoluta) definiert werden. Dabei kommen zum Einen weltweit gängige Kriterien, zum Andern nationale Richtgrössen zur Anwendung. Gravierend sind im peruanischen Fall, wie das linksliberale Blatt vermerkt, Versuche der konservativen Regierung von Dina Boluarte, amtliche Daten zu manipulieren oder zu kaschieren. Solche Praktiken hätten in anderen Ländern wie Argentinien und Venezuela katastrophale Folgen gehabt.
Die rechtsautoritäre Herrschaft von Präsident Nayib Bukele in El Salvador sieht sich neuerdings mit der Forderung einer lokalen Menschenrechtsorganisation konfrontiert, ein Massaker untersuchen zu lassen, das die Armee 1980 am Rio Sumpul nahe der Grenze zu Honduras verübt hatte. Dabei kamen rund 600 Menschen ums Leben, darunter viele Frauen und Kinder, die vor dem Bürgerkrieg ins Nachbarland fliehen wollten. Dieses Drama könnte sich für das Regime als offene Flanke erweisen. Bukele ist es in den letzten Jahren zwar gelungen, mit Hilfe der Uniformierten verschiedenen Jugendbanden (Maras), die weite Teile der Bevölkerung terrorisierten, das Handwerk zu legen. Doch bei diesen «Säuberungen» gingen die Sicherheitskräfte – wie damals beim Blutbad am Grenzfluss – extrem grausam vor. Dies würde eine gründliche Untersuchung dieser Art von «Kriegsführung» rechtfertigen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.