Psychopharmaka neu auch gegen «Tics» oder «akute Unruhe»
Pharmakonzerne haben an einer Ausweitung der psychiatrischen Krankheitsdefinitionen ein grosses Interesse. Je mehr von der Norm abweichende Verhalten als Krankheiten definiert sind, desto mehr Psychopharmaka können sie verkaufen. Und sie machen auch Werbung dafür (siehe als Beispiel weiter unten: Pharmakonzern MSD informiert Ärzte und Öffentlichkeit).
Psychiater dürfen Psychopharmaka nur kassenpflichtig verschreiben, wenn sie eine Krankheit feststellen, die im «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» DSM als solche definiert ist. Herausgeberin dieses Handbuchs ist die American Psychiatric Association. Mit einer Zeitverzögerung werden die Diagnosen DSM in der Regel von der WHO in ihren «International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems» ICD übernommen. Gegenwärtig wird die neue Version ICD-11 eingeführt.
Die erste Version DSM-1 vom Jahr 1952 erfasste 106 psychische Störungen als Krankheiten, DSM-4 im Jahr 1988 bereits 297 und die neuste Version DSM-5 jetzt 374 Störungen.
Vor kurzem enthüllte das British Medical Journal die Interessenkonflikte der Experten, welche die DSM-5 ausgearbeitet hatten: 60 Prozent der 92 beteiligten Ärztinnen und Ärzte, die in den USA wohnen, bezogen insgesamt 14 Millionen Dollar von der Pharmaindustrie. Nur ein Drittel von ihnen hatte diese Bezüge offengelegt. Gleiche Interessenkonflikte gab es bereits bei der Erarbeitung der früheren DSM-Versionen.
Definitionen einiger Verhaltensstörungen angepasst
Das DSM-5 erweitert die Definitionen folgender Krankheiten:
Anhaltende Trauerstörung
Jemand, der sich mindestens 12 Monate nach dem Tod eines geliebten Menschen noch intensiv nach ihm sehnt und/oder sich mit Gedanken an den Verstorbenen anhaltend beschäftigt, zusammen mit anderen trauerbezogenen Symptomen wie emotionaler Taubheit, intensivem emotionalem Schmerz oder aber dem Vermeiden von Erinnerungen an den Verstorbenen. Sind mehrere dieser Bedingungen erfüllt, handelt es sich nach DSM-5 um eine zu behandelnde Krankheit.
Unspezifische Stimmungsstörung
Die Kriterien für eine der Störungen in der Diagnoseklasse der bipolaren oder depressiven Störungen müssen nicht mehr voll erfüllt sein. Es genügt beispielsweise eine akute Unruhe.
Durch Stimulanzien ausgelöste leichte neurokognitive Störung
Neurokognitive Symptome wie Lern- und Gedächtnisschwierigkeiten müssen nicht auf Alkohol, Inhalationsmittel, Sedative, Hypnotika oder Anxiolytika zurückzuführen sein. Auch andere Stimulanzien können zu dieser «Krankheit» führen.
Viele solcher anhaltenden Verhaltensstörungen sind ein Problem und können die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Hilfe und Therapieen sind deshalb angesagt. Nur: Psychopharmaka, die oft abhängig machen und die Ursache der Störung nicht beseitigen, sollten nach Ansicht kritischer Mediziner die letzte Wahl sein.
Umstrittene Diagnosen bleiben
Bereits die frühere Version DSM-4 enthielt Diagnosen, die auf Kritik stiessen. Doch sie wurden beibehalten.
Stimmungsschwankungen mit Wutausbrüchen
Vergeblich kritisierten unabhängige Ärzte und Psychologen, dass es sich dabei um «eine neu zusammengezimmerte und nach vorliegenden ersten Tests unspezifische und zudem unzuverlässige ‹Diagnose›» handle.
Vorzeitige oder verzögerte Ejakulation
DSM-5 definiert Ejaculatio praecox oder regelmässig verzögerte Ejakulation (Ejaculatio retarda) – sofern sie die Mehrzahl der sexuellen Kontakte betreffen und einen Leidensdruck erzeugen – als Krankheit, die Ärzte als Krankheit auch medikamentös behandeln können.
Sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen
DSM-5 definiert sexuelle Erregungs- oder Interessensstörungen bei Frauen als eine Krankheit, die Ärztinnen als Krankheit auch medikamentös behandeln können.
DSM-5-Kriterien für sexuelle «Krankheit» bei Frauen
A. Ein fehlendes oder deutlich verringertes sexuelles Interesse muss sich in mindestens drei der folgenden Punkte äussern, damit es als Krankheit behandelt werden kann:
- Fehlendes/vermindertes Interesse an sexuellen Aktivitäten.
- Fehlende/reduzierte sexuelle/erotische Gedanken oder Fantasien.
- Keine/reduzierte Initiierung sexueller Aktivitäten und typischerweise keine Reaktion auf Initiierungsversuche des Partners.
- Fehlende/verringerte sexuelle Erregung/Lust während der sexuellen Aktivität bei fast allen oder allen (ca. 75 % -100 %) sexuellen Begegnungen.
- Ein fehlendes/vermindertes sexuelles Interesse oder eine fehlende/verminderte erotische Erregung als Reaktion auf interne oder externe sexuelle/erotische Hinweise (z. B. schriftlich, verbal, visuell).
- Fehlende/verringerte genitale oder nicht-genitale Empfindungen während der sexuellen Aktivität bei fast allen oder allen (ca. 75 % – 100 %) sexuellen Begegnungen.
B. Die unter Kriterium A genannten Symptome haben mindestens 6 Monate lang angehalten.
C. Die Symptome des Kriteriums A verursachen bei der betroffenen Person klinisch signifikanten Stress.
Pharmakonzern MSD informiert Ärzte und Öffentlichkeit
Der Konzern empfiehlt auf seiner Webseite Psychopharmaka unter anderen für folgende Krankheiten (wörtlich zitiert, gekürzt):
Messie-Syndrom
Anders als Sammler häufen Betroffene die Dinge in ungeordneter Weise an und es fällt ihnen schwer, sich von Gegenständen von geringem Wert zu trennen. Ärzte stellen diese Diagnose, wenn die Patienten zu viele Gegenstände ansammeln, sich nicht davon trennen können und über dieses Horten verzweifeln oder ihre Arbeits- oder Lebensweise dadurch beeinträchtigt ist. Eine kognitive Verhaltenstherapie und bestimmte Medikamente können hilfreich sein.
Repetitive Verhaltensstörungen
Die Betroffenen führen wiederholt Handlungen an ihrem Körper aus, wie z. B. Nägelkauen, Lippenbeissen und Kauen der Wange, und versuchen wiederholt, die Handlungen zu unterdrücken. Manche Menschen mit körperbezogener repetitiver Verhaltensstörung führen diese Handlungen automatisch durch – ohne darüber nachzudenken. Andere sind sich der Handlung bewusst. Behandlung mit Arzneimitteln und kognitiver Verhaltenstherapie.
Körperdysmorphe Störung
Eine körperdysmorphe Störung liegt vor, wenn die übermässige Konzentration auf einen oder mehrere eingebildete oder leichte Defekte im Erscheinungsbild einen erheblichen Leidensdruck verursacht oder die Arbeits- und/oder Lebensweise beeinträchtigt. Ärzte diagnostizieren diese Störung, wenn die Besorgnis über wahrgenommene Defekte im Erscheinungsbild (die in Wirklichkeit nicht oder nur leicht vorhanden sind) erhebliches Leid verursachen oder die Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Bestimmte Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder Clomipramin) und eine kognitive Verhaltenstherapie sind oft hilfreich.
Zwangsstörung («Tics»)
Zwangsvorstellungen (auch Rituale genannt) sind wiederkehrende, anhaltende, unerwünschte, beängstigende, aufdringliche Ideen, Vorstellungen oder Triebimpulse. Bis zu 30 Prozent der Personen mit Zwangsstörung haben oder hatten eine Tic-Störung. Auch sexuelle Zwangsvorstellungen gehören dazu. Die Behandlung kann eine Konfrontationstherapie (mit Reaktionsverhinderung von zwanghaften Ritualen) und die Einnahme bestimmter Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder Clomipramin) umfassen.
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Infosperber hat schon mehrmals darüber informiert:
2013: Ärzte misshandeln Trauernde mit Psychopharmaka
2017: Doppelt so viele Antidepressiva wie vor 15 Jahren
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.