Kommentar

kontertext: Kehrt das Faustrecht zurück?

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Überfall in Dresden: Wenn aus politischen Gegnern persönliche Feinde werden, stellen sich elementare Fragen zur politischen Kultur.

Wird jemand eingeschüchtert und körperlich angegriffen, nur weil er seine demokratischen Rechte ausübt (und eine unliebsame Meinung vertritt), was bedeutet das für die politische Kultur? Ist mit Matthias Ecke auch die Demokratie spitalreif geschlagen?

Wäre es nur ein Störfall in einem ansonsten intakten System, könnte man sagen: eine Einzeltat, ein Vorhofflimmern der Demokratie, eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Ist es aber Teil einer breit anrollenden Welle der Enthemmung, die durch Deutschland rollt – vom Mord an Walter Lübcke über aufgebrachte Bauern, die Robert Habeck körperlich bedrängten, bis hin zu den neuesten Übergriffen in Dresden und Berlin –, dann muss man sich fragen, ob alte Spielregeln auf dem Parkett der Politik im Begriff sind, ihre Gültigkeit zu verlieren – nicht für alle zwar, aber für eine grösser und handgreiflicher werdende Minderheit.

Mit der Attacke auf den Abgeordneten der SPD stellt sich die Frage nach den Folgen für die demokratische Praxis nicht zum ersten Mal. Schon das Tun der RAF hat sie einst bundesweit aufgeworfen, viele Gefolgsleute in Gewissenskonflikte geführt und die Behörden mit Fragen der Verhältnismässigkeit konfrontiert: Können Verschärfungen des Strafrechts helfen, wenn der politische Diskurs versagt?

Vorformen der Entmenschlichung

Die Schläger von Dresden haben den Kampf der Ansichten über die körperliche Integrität ihres Gegners gestellt – soviel steht unbesehen ihrer näheren Beweggründe fest. «Gewalt an Politikern schränkt Raum für politische Debatten ein», titelt SRF einen Beitrag im Netz; eine erstaunlich unterspannte Headline, wenn man bedenkt, wie sehr solche Gewalt auch den persönlichen Handlungsspielraum der Betroffenen beeinträchtigt: Von den Opfern solcher Übergriffe ist bekannt, dass sie den öffentlichen Raum dramatisch anders, nämlich angstbesetzt wahrzunehmen beginnen – ein Verlust an psychischer Integrität und Freiheit ist damit verbunden.

Der Vorfall von Dresden zeigt, dass die Gangart gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sich grundlegend verändert. Aus politischen Gegnern werden persönliche Feinde gemacht, das Individuum wird auf seine politische Funktion reduziert – eine Vorform der Entmenschlichung. Die Co-Vorsitzende der AfD versuchte neulich am Parteitag in Donaueschingen, Akteurinnen anderer Parteien zu verhöhnen, indem sie deren Sprechweise nachäffte. Sie griff körperliche und charakterliche Eigenheiten auf, um Widersacher blosszustellen.

Eine begnadete Kabarettistin dürfte aus Frau Weidel nicht werden, aber die Botschaft war klar: Die Gemeinten sind Zielscheibe ungehemmter Diffamierung, zum symbolischen Abschuss freigegeben. Damit einher geht das Signal: «Seid bereit, gegen unsere Gegner mit allen Mitteln vorzugehen, unter wie über der Gürtellinie.» Oder, in alten Worten: «Für die gerechte Sache. By any means necessary».

Begegnung oder Verdikt

In Dresden waren es klar gesetzeswidrige Mittel, und prompt sangen auch die Bundes-Aufwiegler aus Berlin im Chor und distanzierten sich von der Tat, obwohl sie implizit ständig dazu aufrufen, Gegenspieler zu verleumden und beliebig herabzuwürdigen – als hätten diese alles Recht verwirkt, ihre Meinung kundzutun, nur weil sie Teil des ›Mainstream‹ sind.

Was anderes als der Versuch, jemanden ›mundtot‹ zu machen, ist es, seine Wahlwerbung zu zerstören, sein Gesicht aus dem Strassenbild zu entfernen? Wenn also an die Stelle der politischen Motivation die persönliche tritt, wird aus dem demokratischen Rencontre das darwinistische «Du oder ich» des Wilden Westens: Der Sieger schreitet über den Unterlegenen hinweg und reisst den Diskurs an sich, um ungestört von Zwischenrufen die Geschichte voranzutreiben. Das Verdikt soll gelten, nicht der Kompromiss oder die Hegelsche Synthese, die den Konflikt auf eine nächste Stufe hebt. Einprägsam dafür das Bild des Triumphators Donald Trump: Der Popanz pflanzt sich grinsend von seinen Anhängern auf und deckt seine Widersacherinnen (›Looser‹ allesamt) mit Spitznamen ein, als wären es Comicfiguren.

Wer politische Beschlussfindung auf diese Weise denkt, hat den Sinn dafür verloren, dass Politik ein symbolisches Feld ist, strukturiert von Linien und Regelwerken. Ein Feld, wo man Farben trägt. Wo nicht über die einzig-wahre Gesinnung gestritten wird, sondern darüber, wie man in Zukunft mit pluralistischen Ansätzen das Zusammenleben gestalten will, in Varianten, Plänen und Utopien. Dabei sind Zwischenerfolge zu feiern, doch niemals ein ›Sieg‹.

Den Anderen aushalten

Menschen zusammenzuschlagen, ist zwar nicht zukunftsfähig, im Fall von Matthias Ecke wohl aber durchaus zukunftsgerichtet: Das Opfer soll aus dem Weg geräumt und handlungsunfähig gemacht werden, in der künftigen Ausmarchung kein Faktor mehr sein.

Was bedeutet es aber für die politische Praxis, wenn symbolische Gegner sich als persönliche Feinde begegnen? Dann werden Parlamente zum unwirtlichen Ort, und die Arbeit in Kommissionen leidet: Man ist einander so spinnefeind, dass man nur noch widerwillig im selben Raum ausharren kann. Man erträgt die Nähe des Anderen nicht, abzulesen an abfälligen Gesten und Gebärden des Abwendens, etwa im Deutschen Bundestag. Es fehlt sichtlich an der Disziplin, den Vortrag unliebsamer Ideen auszuhalten.

Umso besser fühlt man sich unter Gleichgesinnten. Leider geht mit einer solchen Wagenburg-Mentalität die Verflachung des Diskurses einher. Das Argument als Instrument der Konsensfindung dankt ab, an die Stelle von Verhandlungstugenden treten das Bekenntnishafte und die Gruppenzugehörigkeit. Wer sich dergestalt auf die Reise nach innen begibt, in den Bunker der Schlagworte und des Ressentiments, wird taub, ist mit Argumenten nicht mehr zu erreichen – zu erleben war dies schmerzlich in der Pandemie, als die Positionen sich verhärteten, man gleichsam in abgetrennten Welten zu leben begann: Hier die Apparatschiks, dort die ›Freunde der Freiheit‹; Mainstream-Medien und Big Pharma auf der einen, Globuli und Alu-Hut auf der anderen Seite. Mancher einst offene, debattierlustige Freund mutete nun an wie der Odysseus aus der Sage: an den eigenen Mast gekettet, die Ohren mit Wachs verstopft.

Nach Verletzungen fragen

Dabei ist Zuhörenkönnen ein noch etwas kostbareres demokratisches Gut als die Fähigkeit, seine Position eloquent darzulegen: zuhören, bis das Gegenüber ausgeredet hat, auch wenn seine Ansichten nicht in mein Weltbild passen. So könnte auch die vielgeschmähte Zerstrittenheit der deutschen Ampelregierung verstanden werden – als Ergebnis einer Bereitschaft, über Gräben hinweg nach Lösungen zu suchen. Kümmerlich mögen diese manchmal wirken, verzwergt wie der kleinste gemeinsame Nenner, dafür vielleicht tragfähig, da von unterschiedlich Gesinnten geteilt.

Nun wird es im Nachgang der Dresdner Vorfälle wieder einmal die befremdliche und heikle Aufgabe der Angegriffenen sein, ihren Übeltätern zuzuhören – nach den Verletzungen zu fragen, die sie zu ihrem Tun verleitet haben, nach den Glutnestern des Zorns in ihrem Innern und nach der Vorgeschichte ihrer Verbitterung. Vielleicht werden die Angegriffenen gar so weit gehen müssen, eigene Versäumnisse als Ursache für das Tun ihrer Missetäter zu finden. Denn hinter den aktiven Hooligans, die sich von der Politik missachtet fühlen, stehen wohl viele Gleichgesinnte, die an jenem beschämenden Abend in Dresden nur aus Feigheit zuhause geblieben sind.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

2 Meinungen

  • am 10.05.2024 um 15:16 Uhr
    Permalink

    Erstens ist abzuwarten, was Untersuchung und Anklage im Fall des überfallenen SPD-Politikers ergeben – erst dann können Schlüsse auf eine Verbindung zur AfD gezogen werden. Zweitens ist das Klima schon seit vielen Jahren verroht und eskaliert immer mehr. Schuld daran sind nicht extremistische Underdogs sondern der Polit-Mainstream, der sich die meisten Medien untertan machte. In Deutschland werden Probleme grundsätzlich unter den Teppich gekehrt, Kritik verdreht und vermeintliche Bürgerlichkeit gegen «rechts» oder was auch immer bemüht. Das Grundgesetz hat die Demokratie aus den Händen der Bürger genommen und dem «Souverän» möglichst wenig Macht gelassen. Nicht einmal der Bundespräsident darf vom Stimmvolk direkt gewählt werden. Deutschland ist ein Parteienmauschelstaat mit weisungsgebundenen Staatsanwälten und einem riesigen teuren wohlversorgten Partei- und Politapparat. Dagegen gehen dann leider keine 3000 Menschen auf die Straße.

  • am 12.05.2024 um 14:41 Uhr
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    In meinen Augen hat während der Coronakrise die Verrohung des öffentlichen Diskurses massiv zugenommen.
    Natürlich wurde schon vorher viel Hass verbreitet, auf asozialen Medien und anderswo. Das ist nicht neu. Aber während der Coronazeit wurden nicht nur von sinistren Trollen, sondern auch von Mainstreammedien und Behörden Botschaften verbreitet und toleriert, deren Niveau mehr als bedenklich war. Klar, der Hass richtete sich immer nur gegen die «Schwurbler». Aber Diskussionsbeiträge aus der untersten Schublade erhielten dadurch trotzdem eine neue Legitimation, auch wenn sie sich dann gegen andere Gruppen richten.

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