Die Geldflüsse besteuern, statt die Löhne – auch für die AHV
upg. Im Folgenden zitieren wir die Argumente des «Think Tank» Avenir Suisse. Er lehnt eine Mikrosteuer auf allen elektronischen Geldtransaktionen ab. Avenir Suisse wird von der Wirtschaft, auch von der UBS und anderen Banken finanziert.
Felix Bolliger, Mikrosteuer-Initiator und Zürcher Vermögensverwalter, nimmt zu den Argumenten von Avenir Suisse Stellung. Er ist Autor des Papiers «Digitale Mikrosteuer ersetzt antiquierte Steuerdoktrin» und war von 1976 bis 2019 im Investment Banking aktiv.
Die Auseinandersetzung ist anspruchsvoll. Aber es lohnt sich, sich mit Argumenten für und gegen eine grundlegende Reform unseres Steuersystes zu befassen.
Zu den vier Gegenargumenten der Avenir Suisse
Avenir Suisse
1. Eine Mikrosteuer würde verschiedene Produkte und Dienstleistungen steuerlich unterschiedlich belasten, ohne dass es dafür einen ökonomischen Grund gäbe. Das führt zu Ineffizienzen sowie sozialpolitisch unerwünschten Belastungen.
Felix Bolliger
Die Aussage ist falsch. Die Mikrosteuer belastet alle elektronischen Geldbewegungen mit einem Einheitssatz. Im Endeffekt ist die «Automatische Mikrosteuer» ein One-Tax-System, das bestehende Steuern, Abgaben und obligatorische Beiträge ersetzen kann. Siehe mikrosteuer.ch Kurzfassung Juni 2023 (Seite 11).
Die Automatische Mikrosteuer ist eine erweiterte Finanztransaktionssteuer. Beide fokussieren auf enorme Geldbewegungen. Sozialpolitisch kommt es zur überfälligen Entlastung der steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger. Wirtschaftspolitisch ist es ein Muss, auf möglichst ergiebige Steuersubstrate zu fokussieren.
Das enorme Steuersubstrat der Geldströme
Die Steuerbasis für die Mikrosteuer ist enorm:
- Die Firma SIX (Swiss Infrastructure and Exchange), deren wichtigste Aktionärin die UBS ist, veröffentlicht im Trade Repository Report wöchentlich die Volumina von Derivatgeschäften: Diese erreichen zwischen 3 bis 20 Millionen Milliarden Franken. Spitzenwerte übersteigen 45 Millionen Milliarden Franken, was 60’000-mal unserem BIP entspricht.
- Würde die Nationalbank beim Swiss Interbank Clearing korrekterweise die Giroüberträge miteinbeziehen, beliefe sich der Interbank-Zahlungsverkehr jährlich auf rund 150’000 Milliarden Franken. Giroüberträge dienen der Sicherheit und der Transparenz des Zahlungsverkehrs.
- Für den In-house–Zahlungsverkehr der Banken liegt keine Statistik vor. Aufgrund von PostFinance-Daten kann man das Volumen konservativ auf 35’000 Milliarden Franken schätzen.
Im Vergleich zu den angeführten Zahlen liegt unser Bruttoinlandprodukt (BIP) bei 800 Milliarden Franken.
Avenir Suisse
2. Das vermutete breite Steuersubstrat würde sich bei der Einführung einer umfassenden Transaktionssteuer rasch verflüchtigen (Steuerelastizität).
Felix Bolliger
«Elastizität»:
Die breit gefächerten Bankgebühren führen zu keiner Flucht der Bankkunden. Die Elastizität von Minigebühren ist tief. Desgleichen wird der zufriedene Kunde die ihn gut beratende Bank, verwurzelt in einem stabilen Land, nicht wegen einer schmerzfreien Mikrosteuer verlassen, zumal er anderweitig steuerlich stark entlastet wird. Auch wird kein Betrieb seine Rechnungen in bar per Panzerwagen zahlen wollen, nur um eine Belastung von beispielsweise 0,5 Promille auf den elektronischen Überweisungen zu vermeiden.
Allerdings ist die Elastizität hoch im Fall von «Hot Money», das mit Hebelwirkung (Leverage) Overtrading betreibt. Meidet dieses Geld die Schweiz, ist dies ein Glücksfall: Weniger casino-artige Spekulation bedeutet für das Land weniger Risiko. Bei Derivat-Summen, die bis zu 60’000-mal unserem Bruttoinlandprodukt (BIP) entsprechen, ist der GAU vorprogrammiert.
Nicht etwa die Bilanzsumme der neuen «Staatsbank» UBS ist beunruhigend, obwohl sie zweimal unser BIP ausmacht. Problembehaftet sind vielmehr die unglaublichen Derivat-Summen, die SIX gemäss FinfraG wöchentlich publiziert. Nichteingeweihte haben keine Ahnung, was wann wo wie abläuft. Sie realisieren ein Fehlverhalten erst, wenn sie als Steuerzahlende für das Finanzsystem geradestehen müssen. Das Los der Eidgenossenschaft ist plötzlich mit Derivathandel verknüpft. Warum befassen sich Wissenschaft und Politik nicht mit den gewaltigen Einsätzen, die hier vorherrschen?
«Verflüchtigung»:
Nehmen wir an, Finanzoperationen über die Schweiz gehen nach Einführung der Mikrosteuer um 90 Prozent zurück, zum Beispiel von 5 Millionen Milliarden Franken auf noch 500’000 Milliarden Franken. Selbst bei dieser Verflüchtigung oder «Abwanderung» von 90 Prozent bringen 0,5 Promille Mikrosteuer pro Belastung und pro Gutschrift immer noch einen Steuerertrag von 500 Milliarden Franken. Damit kann die Mikrosteuer alle heutigen Steuern, Abgaben und obligatorischen Sozialbeiträge ersetzen und den effektiven Finanzbedarf der Schweiz finanzieren.
Die wahren Gesamtkosten für Bund, Kantone, Gemeinden, Sozialausgaben – inklusive privates Zwangssparen für AHV, Krankenkasse etc. – sowie der Aufwand für eine aufgerüstete Armee liegen bei gut 400 Milliarden Franken. Siehe mikrosteuer.ch Juni 2023 (Seite 3).
Avenir Suisse
3. Die Steuer würde umgangen: Transaktionen von Finanzinstituten sowie volumenreiche Transaktionen (Kauf / Verkauf von Kapitalgütern und Grosshandelswaren) würden rasch so gestaltet werden, dass sie nicht mehr unter die Transaktionssteuer fallen.
– Sie können im Ausland abgewickelt werden
– Sie können auf einer Bilanz verrechnet werden. Wahrscheinlich würden Transaktionen vermehrt mit unreguliertem Buchgeld (also Passiventausch auf einer Bilanz) abgewickelt. Die Folge wäre ein Wachstum des Schattenbankensektors. Das würde unregulierte systemische Risiken schaffen.
Mit «unreguliertem Buchgeld» sind Instrumente gemeint, die zur kurzfristigen Finanzierung insbesondere im Unternehmenssektor verwendet werden und «geldähnlichen Charakter» annehmen können.
In der Finanzkrise von 2008 waren es etwa Money Market Mutual Funds (MMMF) oder auch Asset Backed Commercial Papers (ABCP). In der heutigen Zeit könnte man gewisse «Stable Coins» unter diese Kategorie subsumieren. Mit all diesem «money-like debt» können Transaktionen durchgeführt werden, ohne dass sie von der Mikrosteuer erfasst werden, ausser man greift fiskalisch umfassend in diese Verträge ein. Das ist jedoch hochkomplex und ein solches Vorgehen läuft immer in das sogenannte «Abgrenzungsproblem der Finanzregulierung».
Hier kommt man konzeptionell sehr nahe an den Kern des Problems der heutigen Bankenregulierung, denn auch dabei geht es ja um die Regulierung von «money-like debt», da dieses mit systemischen Risiken einhergeht.
Um Ausweichbewegungen zu verhindern, wären eine grosse Steuerbürokratie und/oder umfassende Einschränkungen der Vertragsfreiheit notwendig.
Felix Bolliger
«Abrechnung im Ausland», «Verrechnung»:
Abs.1 des Initiativtextes (Seite 11) hält fest: «Verrechnungen jeglicher Art und Kontoführungen im Ausland unterliegen der Selbstdeklaration». Selbstdeklaration ist heute gang und gäbe, z.B. für Vermögenswerte im Ausland.
«Steuerbürokratie»:
Es sind die aktuellen Steuersysteme, die eine grosse Bürokratie erfordern. Sie fokussieren individuell auf jeden Steuerzahlenden und dessen Konsum. Die Mikrosteuer ist hingegen als One-Tax-System konzipiert, das keine aufwändige Steuererhebung, keine komplexe Gesetzgebung, keine Heerschar von Steuerexperten und Juristen voraussetzt. Die Steuerklärung wird auf eine allfällige Selbstdeklaration reduziert. Der Aufwand wird für Steuerzahlende wie auch für Behörden kleiner und übersichtlich. Das neue Kosten-Nutzen-Profil ist ein Fortschritt.
«Einschränkung der Vertragsfreiheit»:
Es ist nicht nachvollziehbar, welche Verträge nur noch eingeschränkt möglich sein sollen. International agierende Hedgefonds haben kein verbrieftes Recht, Börsenkurse mit einer steuerbefreiten Casino-Spekulation zu manipulieren. International koordinierte Spekulation löst Preisverzerrungen aus, die einer gesunden Volkswirtschaft schaden können: Auf jener Seite des Tischs braucht es eine Beschränkung der «Freiheit».
«MMMF, ABCP, Stable Coins, money like debt, unreguliertes Buchgeld»:
Das sind Finanzbegriffe, die das Laienpublikum nicht versteht. Seit eh und je versucht der Finanzsektor, das Nichtwissen der andern für sich zu verwerten. Die simple «Automatische Mikrosteuer» schafft keine Verwirrung. Konsequent angewendet hat sie – und auch die Finanztransaktionssteuer – keine Abgrenzungsprobleme mit Finanzregulierung.
«Kern des Problems»:
Arbeit und Erfolg sind nicht länger individuell mit progressiven Steuern abzustrafen. Die aktuelle Steuerphilosophie aller OECD-Länder basiert auf den Gegebenheiten und Ansichten von 1850. Wie seinerzeit die Fenstersteuer überholt war, ist es das heutige austarierte Steuersystem. Sein Ertrag genügt nicht länger den Anforderungen des 21. Jahrhunderts. Die wahre Struktur der Gesamtwirtschaft ist eine andere, als was wir wahrnehmen: es gibt ein besteuertes BIP von 800 Milliarden Franken, und es gibt steuerbefreite Finanztransaktionen in den Millionen von Milliarden Franken.
Avenir Suisse:
4. Aus den Einwänden 1 bis 3 folgt: Eine Finanztransaktionssteuer würde über die Zeit verzerrender, da sie nicht nach Leistungsfähigkeit besteuert und von gewissen Steuersubjekten umgangen werden kann.
Felix Bolliger
«Leistungsfähigkeit»:
2023 publiziert SIX im Schnitt pro Woche 8.4 Millionen Milliarden Franken Derivatgeschäfte. Damit zeigt die Finanzwirtschaft ihre enorme Leistungsfähigkeit. Dabei ist die SIX-Statistik lediglich eine Momentaufnahme. Berücksichtigt man die Umlaufgeschwindigkeit (Stichworte: Daytrading, Hochfrequenzhandel) liegen die «taxable sums» um einiges höher. Die Mikrosteuer besteuert diese Leistungsfähigkeit.
«Steuerumgehung»:
Abs.4 des Initiativtextes (Seite 11) hält fest: «Sinn und Zweck der Mikrosteuer sind zu respektieren». Schweizer Finanzinstitute haben Milliarden Bussen an die USA und weitere Länder bezahlt, just weil sie Sinn und Zweck der Vorschriften nicht respektierten. Schon Donald Regan, CEO der Investmentbank Merrill Lynch und späterer Finanzminister unter Ronald Reagan, wurde beim Hearing gerügt, der Kongress erlasse nicht Gesetze, damit er – Regan – nach Schlupflöchern suche und diese gegen Honorare in Millionenhöhe weiterempfehle. Denn so entgingen den USA Steuereinnahmen in Milliardenhöhe.
Steuerumgehung entspricht nicht länger unserer Zeit, bekanntermassen führt «Tax-Smartness» über kurz oder lang zu Fragen, Gerichtsverfahren und Nachforderungen.
Weitere fachliche Stellungnahmen erwünscht
Dieser Beitrag nimmt die Diskussion über eine allgemeine Mikrosteuer auf sämtlichen elektronischen Geldtransaktionen wieder auf. Die Mikrosteuer kann steuerneutral eingeführt werden, indem im Gleichschritt mit den Einnahmen andere Steuern wie die Mehrwertsteuern ersetzt werden könnten.
Bitte äussern Sie nicht einfach Ihre Zustimmung oder Ablehnung, sondern ergänzen Sie die obigen Argumente.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Bolliger argumentiert nachvollziehbar. Jezt sind die Meinungen der politischen Parteien gefragt!
0.5 Promille sind bei CHF 100’000.– noch CHF 50.– und auch wer CHF 1’000’000 pro Jahr umsetzt würde nur CHF 500.– Steuern bezahlen! Auch wenn die Steuer noch erhöht würde wären über 90% der Bevölkerung entlastet, weil weniger Bürokratie, keine Einkommenssteuer, keine MWSt, keine Vermögenssteuer …Lohnarbeit wird attraktiver, weil Steuern entfallen. …
Bravo, Felix Bolliger, für die sehr klare und übrzeugende Argumentation! Die Zahlen, die Sie nennen, sind eindrücklich. Ich finde sie plausibel. Als Wirtschaftsethiker möchte ich unterstreichen, dass die Mikrosteuer im genauen Gegensatz zur Behauptung von Avenir Suisse viel gerechter ist als das bisherige Steuersystem, das mit der Einkommenssteuer vorwiegend die Früchte humaner Arbeitsleistung und somit echter Anstrengung bestraft. Die Mikrosteuer hingegen erfasst die unfassbar hohe steuerliche „Leistungsfähigkeit“ von Finanztransaktionen, die im grossen Stil wenig mit echter Leistung zu tun haben. Und dort, wo es die kleinen Zahlungsvorgänge des Normalverbrauchers betrifft, ist die Mikrosteuer wirklich mikro, also kaum spürbar. Jetzt geht es darum, dass möglichst viele wache Bürgerinnen und Bürger das Potenzial dieses neuen Steuerkonzepts begreifen und unterstützen,
Zusätzlich zu den im Artikel erwähnten positiven Effekten würde die Mikrosteuer
– die Solidarität unter den Steuerzahlenden verbessern, weil diejenigen, die nur Geldflüsse zum eigenen Überleben generieren viel weniger integrierte Steuern zahlen müssten, als solche, die an der Börse herumzocken
– dem Staat ermöglichen, die Idee der Commons oder Service Public auf lebensnotwendige Güter wie saubere Luft, sauberes (Trink-)Wasser und bestmögliche Abwasserreinigung, gesunde Umwelt (inkl Biodiversität in Flora und Fauna) und korrektes Abfallwesen, Energie aus nachhaltiger und störungsfreier und vom Ausland abkoppelbarer Schweizer Produktion ohne merit-order-Prinzip, Sicherheit, Gesundheit, gratis gesundheitsneutrale Kommunikation für Alle, gratis öV für Alle, Bargeld usw als Versorgungspflicht wahrzunehmen und Privatisierungen solcher Dienstleistungen und Produkte rückgängig zu machen
Ich war kürzlich an einen Avenir Suisse Vortrag von Herrn Salvi, sehr enttäuscht von der Think Tank. Aus meiner Sicht viel zu Rechts konservative und nicht Liberal, sowie zu elitär und abgehoben. Kein Wunder werden 13 AHV Rente und vielleicht 10% KKV Initiative angenommen. Wie Herr Bolliger richtig analysiert, es braucht ein neues System für die Staats Finanzierung. Daytrading, Hochfrequenzhandel, Cryptos haben NULL wirtschaftlichen Nutzen. Es muss zwingend global besteuert werden und wieder Fair verteilt.