Haller-Combo

                                               Das neue Buch und die Autorin Gret Haller. © zvg

Was die EU im Innersten zusammenhält

Daniel Goldstein /  Nicht nur «weniger Europa» wäre für die EU gefährlich, sondern auch «mehr» in Richtung Bundesstaat, findet Buchautorin Gret Haller.

Viele sehen die Europäische Union als Zwitter zwischen Staatenbund und Bundesstaat. Aber nicht auf dieser Achse, sondern seitwärts davon verlaufe «Europas eigener Weg». So lauten Titel und Analyse der einstigen Schweizer Politikerin Gret Haller in ihrem vielschichtigen neuen Buch.

Ihre politische Karriere beendete die Juristin Haller 1994 als Nationalratspräsidentin; zuvor hatte sie als Gemeinderätin auch der Stadtberner Exekutive angehört. Danach war sie in internationalen Aufgaben und bis heute wissenschaftlich tätig, als Gastwissenschafterin an der Universität Konstanz und mit mehreren Büchern rund um Demokratie und Menschenrechte. Ans Konstrukt namens Europäische Union nähert sie sich nun von historischer, juristischer, ja anthropologischer Seite, indem sie vom Menschenbild ausgeht, das die entstehende politische Kultur der EU präge.

Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Unionsbürgerschaft, als Scharnier für den transnationalen Charakter der EU. Dank diesem ist die Union in Hallers Sicht eben nicht nur ein supranationales Gebilde, das als partieller Bundesstaat für bestimmte Bereiche über den Nationalstaaten steht, während diese andere Dinge intergouvernemental regeln wie in einem Staatenbund, also zwischen den Regierungen. Vielmehr besteht auch eine horizontale Machtteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten, immer wieder neu auszuhandeln. Dabei unterliegt sogar die Erarbeitung und Anwendung von EU-Recht nationalen Besonderheiten.

Markt- und Unionsbürger

Durch den gemeinsamen Binnenmarkt sind die an ihm teilnehmenden Europäerinnen und Europäer Marktbürger. Mit diesem Begriff aktualisiert Haller bourgeois, einst die Bezeichnung für den «dritten Stand» (neben Adel und Geistlichkeit), der die Französische Revolution auslöste. Nach deren Idealen sollte es nur noch citoyens geben, Staatsbürger (damals noch ohne gleichberechtigte Staatsbürgerinnen). Sie mussten bereit sein, andere citoyens unterschiedlicher sozialer und regionaler Herkunft als ihnen Fremde, aber dennoch Gleiche zu akzeptieren und mit ihnen am Staatswesen mitzuwirken. Heute sind das eben die Unionsbürger(innen), die das EU-Parlament wählen, aber auch überall in der Union gleiche Grundrechte geniessen und lokal wählen dürfen.

Die Mitgliedstaaten der EU sind so gesehen nicht mehr klassische Nationalstaaten, die sich auf eine kulturell verbundene Gemeinschaft berufen. Vielmehr sollen sie sich auf verfassungspatriotische citoyens stützen, die in republikanischem Geist zusammenarbeiten, auch über die Landesgrenzen hinaus, und dazu kein Wirgefühl brauchen. Den wieder aufkeimenden Nationalismus sieht Haller als grosse Gefahr für die EU. Sie hält es aber für aussichtslos und sogar potenziell kriegstreibend, an seine Stelle ein europäisches Wirgefühl setzen zu wollen. Das wäre ein Abweichen vom eigenen, einzigartigen Weg, wie ihn die Autorin sieht.

«Europäische Öffentlichkeit»

Denn: «Die neue Dimension, die durch die europäische Integration entstanden ist, wird nicht zu einem europäischen Volk führen. Europäerinnen und Europäer bleiben einander fremd, ihr Zusammenhalt beruht nicht auf Homogenität, Ähnlichkeit oder kultureller Nähe. Die neue Dimension besteht darin, dass Bürgerinnen und Bürger anderer Nationalstaaten zwar Fremde bleiben, aber in der Anerkennung dieser Fremdheit nicht mehr als Feinde, sondern als zu respektierende Andere gesehen werden.» Ungestellt lässt das Buch die Frage, ob ein solcher Zusammenhalt schnell genug wachsen und überhaupt so viel Solidarität bewirken kann, wie es die Weltlage erfordert – von und in Europa.

Wer die Rechte der Unionsbürgerschaft ausübt, wird «die ursprünglich in der Nation beheimateten Bindungskräfte auf die Ebene der Europäischen Union übertragen, wodurch mit der Zeit eine europäische Öffentlichkeit entstehen kann.» Genau das meint Haller, über alle kunstvollen Mechanismen von Politik und Recht in der EU hinaus, wenn sie von politischer Kultur spricht. Sie tut es – bei aller Wissenschaftlichkeit mit vielen Fussnoten und Literaturangaben – in gut lesbarer Sprache. Aber genug politische Kultur, um sich für die tieferen Schichten im Gefüge eines Staatswesens zu interessieren, sollte man für die Lektüre schon mitbringen.

Weiterführende Informationen

  • Gret Haller: Europas eigener Weg. Politische Kultur in der Europäischen Union. Rotpunktverlag, Zürich 2024, 191 Seiten, ab ca. Fr. 24.– (Veröffentlichung am 25.4. – Mit dem Link wird auch die Buchvernissage vom 29.5.2024 in Zürich angezeigt.)

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Rezensent war 1973–1978 EU-Korrespondent für Schweizer Zeitungen (siehe Europa – eine Prozedur zum Verlieben?)
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Die EU und die Schweiz

Europa ist für die Schweiz lebenswichtig. Welchen Grad an Unabhängigkeit kann die Schweiz bewahren?

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4 Meinungen

  • am 26.04.2024 um 16:12 Uhr
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    Man müsste sicherlich das ganze Buch lesen, um zu verstehen, was Frau Hallers Argumente sind. Ihre hier wiedergegebenes Argumente zu Nationalstaaten und «verfassungspatriotische citoyens» kann ich allerdings nachvollziehen, eine EU als Nationalstaat wäre kaum denkbar oder wünschenswert. Für die andere Lösung müsste sich die EU allerdings zuerst auf eine ‹republikanische Verfassung›, mit Föderalismus, einigen können und den Sprung zum Bundesstaat machen. Es gäbe dazu ein bestehendes Schema, auf dem man aufbauen könnte, aber leider taugt jenes Land zurzeit nicht Vorbild, weil es selbst nicht mehr den Idealen der eigenen Verfassung genügt.
    Als gegeben kann man allerdings ein paar Parameter nennen, welche unverzichtbar sind. Angefangen mit der Garantie der individuellen Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Rechtsgarantien, Gewaltentrennung und Föderalismus.

  • am 27.04.2024 um 13:01 Uhr
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    Die EU kann sich nur dann weiterentwickeln, wenn sie weniger auf Lobyisten und Interessensvertretungen hört und mehr die Interessen der Bevölkerung berücksichtigt. Ansonsten zerfällt sie irgendwann.

  • am 28.04.2024 um 23:55 Uhr
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    « L’Europe des patries » : le grand dessin de Charles de Gaulle. So wie ich das verstehe, wäre ein solches „Europa der Vaterländer“ nicht zentralistisch. Denn was verstehen Skandinavier schon von Spanien oder Italien und umgekehrt? Auch wenn Europäer mehr und mehr angelsächsisch sprechen, haben sie keine Ahnung von Sprache und Kultur des anderen. Deshalb ist ein zentralistisches Europa, eine Europäische Union, das falsche Projekt für Europa.

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 29.04.2024 um 08:55 Uhr
      Permalink

      Die EU ist eben gerade kein zentralistisches Projekt. Wenn die Buchbesprechung das zu wenig klar gemacht hat, hilft die Lektüre des Buches weiter. De Gaulle hätte sich vermutlich über die ihm zugeschriebene Zeichnung (dessin) amüsiert, denn : «L’appellation Grand Dessein est donnée à un projet grandiose voulu par un dirigeant.» (Wikipédia)

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