Obdachloser_BuenosAires

Ein Obdachloser schläft in den Strassen von Buenos Aires © Josef Estermann

In Buenos Aires grassiert die Armut

Josef Estermann /  Der radikale Sparkurs von Javier Milei treibt Menschen in die Armut. Trotzdem gilt Milei sogar für Mittellose als Hoffnungsträger.

Red. Josef Estermann, regelmässiger Autor bei Infosperber, lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien. Momentan befindet er sich auf Vortragsreise in Argentinien, Bolivien und Chile.

Die Metropole Buenos Aires mit gegen 17 Millionen Einwohnern wird ihrem Namen schon längst nicht mehr gerecht. Die «guten Lüfte», die vom Río de la Plata her über die Stadt wehen, sind zwar nach wie vor dafür gut, dass die Abgase möglichst schnell verschwinden, aber Buenos Aires versinkt immer mehr im Verkehrschaos. Und Argentinien befindet sich in Wartehaltung.

Gespannte Ruhe

Wie der Tango, der als kontrollierte Leidenschaft bezeichnet werden kann, scheint die Bevölkerung Argentiniens im Moment innezuhalten und wartet auf den nächsten Ausfallschritt. Die einen mit Bange, die anderen in fiebriger Erwartung dessen, was Präsident Javier Milei als Nächstes tun wird. Die «Motorsäge», wie er sich selbst bezeichnet, hat schon vor seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023 angekündigt, dass er den argentinischen Staat kurz und klein schlagen werde.

Tango
Der Tango ist allgegenwärtig: Ein Tanzpaar in den Strassen von Buenos Aires

Milei ist Anhänger der Österreichischen Schule eines extremen Neoliberalismus (Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek) und vertritt einen Anarchokapitalismus, gepaart mit einer populistischen und wertekonservativen Haltung. Er reiht sich nahtlos ein in eine Galerie von Regierungschefs, die sich von Donald Trump über Jair Bolsonaro, Giorgia Meloni und Victor Orban, bis hin zu Nayib Bukele (El Salvador) und Daniel Naboa (Ecuador) erstreckt. Mit seiner ultrarechten und libertären Koalition La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) verspricht er, Argentinien aus der seit über zwanzig Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise zu führen.

Dabei sind ihm alle Mittel recht. Weil seine Bewegung mit 38 von insgesamt 257 Abgeordneten im Kongress in der Minderheit ist, möchte er mittels Dekret ein Gesetzespaket – das so genannte Ley Ómnibus – durchdrücken. Von anfänglich 664 Gesetzen bleiben aufgrund des Widerstands der Opposition inzwischen noch 279 übrig. Milei ist angewiesen auf die Unterstützung anderer Parteien, vor allem der PRO (Propuesta Republicana) des vormaligen Präsidenten Mauricio Macri. Die wichtigsten Gesetze zielen auf eine Schwächung des Parlaments und die Privatisierung von Staatsbetrieben ab, vor allem aber auf die Kürzung der sozialen Absicherung, also die sowieso schon karge Altersrente, die Krankenversicherung oder die Gehälter von Angestellten im öffentlichen Sektor.

Wie versteckt man einen Elefanten im Raum?

Auf die Frage, wie er denn die momentane politische Situation und Haltung der Bevölkerungsmehrheit zu den Plänen von Milei einschätze, entgegnet mir Pepe Tasat, Dozent an der Universität Trece de Febrero mit einer Gegenfrage: «Wie versteckt man einen Elefanten im Raum?» Die Antwort gibt er postwendend selbst: «Indem man 300 Elefanten in den Raum stellt.»

Damit spielt er auf die Ley Ómnibus an, eben jenes Gesetzespaket, mit dem Präsident Javier Milei den argentinischen Staat radikal umbauen will. Viele der fast 300 Gesetze erscheinen eher harmlos und könnten im Kongress und bei der Bevölkerung durchaus eine Mehrheit finden. Die wichtigsten aber – eben der «Elefant» im Raum – sind derart radikal und von so grosser Tragweite, dass sie nur als unsichtbarer Teil eines Pakets eine Chance haben.

Milei möchte wie zuvor Ecuador oder El Salvador den US-Dollar als Landeswährung einführen, den Staatsapparat auf die Hälfte reduzieren, die meisten Staatsbetriebe (wie etwa die Fluggesellschaft Líneas Argentinas) privatisieren und Subventionen und Sozialversicherungen auf ein Minimum reduzieren. Und das in einer Situation zunehmender Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Milei erhofft sich mit diesem «Befreiungsschlag», den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, die galoppierende Inflation in den Griff zu bekommen und damit wieder für Weltbank, Währungsfonds und private Investoren attraktiv zu sein.

Bereits hat Milei seine Regierung mit der «Motorsäge» zurechtgestutzt: Er halbierte die Anzahl der Ministerien von 18 auf 9, wobei gerade jene, die für die Opposition eine zentrale Bedeutung hatten, aufgehoben oder in andere überführt wurden. So verschwanden unter anderem die Ministerien für Umwelt und nachhaltige Entwicklung, Kultur, Frauen, Gender und Diversität. Bis Ende März wurden insgesamt 70’000 Beamte der öffentlichen Hand entlassen. Der renommierten Universität von Buenos Aires (UBA) drohen massive Kürzungen, den Spitälern radikale Einschnitte in ihre Budgets.

Bettler und Obdachlose

Argentinien galt lange Zeit als Lichtblick in Lateinamerika. Viele junge Menschen aus Peru, Kolumbien, Bolivien oder Paraguay zogen ins Land der Gaúchos, um ihr Glück zu versuchen, ein Studium zu absolvieren und eine Existenz aufzubauen. Im Moment geht die Migrationsbewegung in die andere Richtung: Viele Ausländerinnen und Ausländer verlassen das Land, sogar die Menschen aus Venezuela, die der Hoffnungslosigkeit in ihrem Land entrinnen wollten, kehren wieder in ihr Heimatland zurück, weil sie in Argentinien keine Zukunft sehen.

Ich habe noch nie so viele Bettler und Obdachlose in den Strassen von Buenos Aires gesehen wie jetzt. Immer wieder werde ich angesprochen, ob ich denn keine Moneda habe. Wobei der Begriff «Münze» ein Relikt aus alten Zeiten ist, denn im Moment reichen nicht einmal die Hunderternoten aus, um sich ein Brötchen zu kaufen. Die jährliche Inflationsrate in Argentinien stieg im März auf über 270 Prozent und ist eine der höchsten der Welt. Die Teuerung frisst die Anpassungen bei den Gehältern immer wieder auf.

Allerdings beziehen auch immer weniger Menschen ein Gehalt für ihre Arbeit. Man schätzt, dass über 70 Prozent in der Schattenwirtschaft arbeiten, Tendenz zunehmend. Der offizielle Mindestlohn beträgt 180 Franken; eine durchschnittliche Wohnung in Buenos Aires kostet 500 Franken. Eine Impfung gegen Dengue 130 Franken, angesichts der momentan grassierenden Epidemie mit 210’000 Fällen und 160 Verstorbenen eine düstere Ausgangslage.

In den vier Monaten seit dem Amtsantritt von Javier Milei hat die Anzahl von Armen um rund 15 Prozent und jene der Arbeitslosen um rund 30 Prozent zugenommen. Inzwischen sind drei von fünf Argentiniern und Argentinierinnen «arm», und 15 Prozent davon gar «mittellos», müssen also von weniger als zwei US-Dollar pro Tag leben. Bei den Arbeitslosen ist insbesondere die Situation von Jugendlichen dramatisch: Innert eines Jahres hat sich deren Zahl verdreifacht, sodass Argentinien in Südamerika diesbezüglich das Schlusslicht bildet.

Messi
Der Fussball lässt die Krise für kurze Zeit vergessen: Am geschlossenen Geschäft prangt ein übergrosses Porträt von Lionel Messi.

Die Nationalwährung, der Peso, hat innert Jahresfrist zwei Drittel seines Wertes eingebüsst, die Preise sind dagegen um 254 Prozent gestiegen. Beim Umtausch von Pesos hat sich ein wahrer Dschungel von Wechselkursen entwickelt; es gibt mindestens sechs verschiedene Kurse, je nachdem, ob man auf der Strasse, in der Wechselstube, in einer Bank oder über Western Union wechselt, ob man als Tourist oder als Inhaber eines Geschäfts Pesos braucht.

Abwarten und Mate trinken

Auf die Frage, warum denn die Menschen angesichts dieser Situation nicht auf die Strasse gingen, hört man immer wieder die Antwort: «Warten wir mal ab, ob Milei sein Vorhaben umsetzen kann.» Viele Menschen hoffen immer noch, dass die radikalen Einschnitte letztlich dem Schrecken ohne Ende der letzten 20 Jahre ein zwar schmerzhaftes, dafür aber für die Zukunft nachhaltiges Ende setzen könnten. Viele haben die radikalen Strukturanpassungen der 1980er Jahre bereits vergessen und sehen in Milei das mal menor, das kleinere Übel. Sie haben die Nase voll von einer – je nachdem linksliberalen oder rechtskonservativen – Elite, die immer wieder von Korruption erschüttert wird und die wirklichen Probleme des Landes nicht gelöst hat.

Ähnlich wie Trump in den USA, gilt Milei sogar für Arme und Mittellose als Hoffnungsträger, auch wenn sie um ihr Überleben kämpfen müssen. Die «Motorsäge» solle doch ihren Auftrag möglichst schnell und effizient erledigen, auch wenn dies kurzfristig schmerzhaft ist. Die Opposition dagegen sieht die Demokratie bedroht und fürchtet einen unaufhaltsamen Niedergang der stolzen Nation.

Was sich aber in Argentinien keiner nehmen lässt: Fussball, Papst Francisco und den allgegenwärtigen Mate, den herben Tee, den die Argentinier genüsslich durch ein Metallröhrchen schlürfen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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